Gesammelte Prosa, Teil 2

Gesammelte Prosa, Teil 2 – Joseph Roth

Joseph Roth war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist. Dieser Band beinhaltet einen Querschnitt seiner bekanntesten Erzählungen, daruner “April”, “Stationschef Fallmerayer”, “Der Leviathan” u.a.

Gesammelte Prosa, Teil 2

Gesammelte Prosa, Teil 2.

Format: Print/eBook

Gesammelte Prosa, Teil 2.

ISBN Print: 9783849669416

ISBN eBook: 9783849656911.

 

Auszug aus dem Text:

Die Aprilnacht, in der ich ankam, war wolkenschwer und regenschwanger. Die silbernen Schattenrisse der Stadt strebten aus losem Nebel zart, kühn, fast singend gegen den Himmel. Fein und dünngelenkig kletterte ein gotisches Türmchen in die Wolken. Die dottergelbe Scheibe der erleuchteten Rathausuhr hing, wie an einem unsichtbaren Seil, in der Luft. Um den Bahnhof roch es süß und trunken nach Steinkohle, Jasmin und atmenden Wiesen.

Die einzige Droschke der Stadt wartete, gleichgültig und bestaubt, vor dem Bahnhof. Die Stadt mußte klein sein. Sie besaß gewiß eine Kirche, ein Rathaus, einen Brunnen, einen Bürgermeister, eine Droschke. Das Pferd war braun, breithufig, trug rötliche Zottelmanschetten über den Fußgelenken und hatte keine Scheuklappen. Seine Augen glotzten groß und wohlwollend auf den Platz. Wenn es wieherte, neigte es den Kopf seitwärts, wie ein Mensch, der sich zum Niesen anschickt.

Ich stieg in die Droschke und überholte auf der Landstraße alle wackelnden Hutschachteln und schwankenden Koffer mit den daran hängenden Menschen. Ich hörte, was die Leute einander sagten, und fühlte die Armut ihrer Schicksale, die Kleinheit ihres Erlebens, die Enge und Gewichtlosigkeit ihrer Schmerzen. Über die Felder zu beiden Seiten der Straße ergoß sich Nebel, wie geschmolzenes Blei, und täuschte Meer und Grenzenlosigkeit vor. Deshalb waren die Hutschachteln, die Menschen, die Reden, die Droschke so gering und lächerlich. Ich glaubte wirklich an das Meer zu beiden Seiten und wunderte mich über seine Stille. Es ist vielleicht gestorben, dachte ich. Der Schornstein einer Fabrik, der plötzlich neben einem weißen Häuserwinkel aufstieg, beängstigend trotz seiner Schlankheit, sah aus wie ein erloschener Leuchtturm.

Zufällige Menschen lagerten am Wegrand: Vorhuten der Stadt. Sie waren zutraulich und aufrichtig, ich konnte sehen, was in ihnen vorging: Eine Mutter wusch ihr Kind in einem Faßeimer. Das Gefäß trug einen blanken und grausamen Blechgürtel, und das Kind schrie. – Ein Mann saß in seinem Bett und ließ sich von einem Jungen einen Stiefel ausziehn. Der Junge hatte ein rotes, angestrengt-aufgedunsenes Gesicht, und der Stiefel war schmutzig. – Eine alte Frau kehrte mit einem Besen auf den Dielen der Stube herum, und ich ahnte ihre nächste Tätigkeit: sie würde jetzt das blaurote Tischtuch zusammenraffen, zum Fenster oder zur Tür gehen und die Speisereste in den kleinen Garten schütten.

Ich hatte Mitleid mit dem Kind im Faßeimer, dem stiefelziehenden Jungen, den Speiseresten. Alte Frauen, die in der Nacht aufräumen, müssen schlecht sein. Meine Großmutter, die wie ein Hund aussah, kehrte immer in der Nacht mit dem Besen auf den Dielen umher. Ich war sehr klein, haßte die Großmutter und den Besen und liebte Papierschnitzel, Zigarrenstummel und allerlei Abfälle. Ich rettete alles, was auf dem Fußboden lag, vor dem Besen der Großmutter in meine Taschen. Ich liebte besonders Strohhalme. Von allen Dingen waren sie am meisten lebendig. Manchmal, wenn es regnete, sah ich zum Fenster hinaus. Auf den Wellen einer der unzähligen Regenbächlein schwamm, tänzelte, drehte sich kokett und unbekümmert ein Strohhälmchen und ahnte nichts von dem Kanalschacht, dem es zutrieb, in dem es verschwinden würde. Ich rannte auf die Straße, der Regen war schwer und wütend, er peitschte mich, aber ich lief, den Strohhalm retten, und erreichte ihn knapp vor dem Kanalgitter.

Viele Leute sah ich in der Nacht. In dieser Stadt gingen die Menschen vielleicht so spät schlafen, oder war es der April und die Erwartung, die in der Luft lag, daß alles Lebende wach bleiben mußte? Alle, die mir entgegenkamen, hatten irgendeine Bedeutung. Sie trugen Schicksale, waren selbst Schicksale; sie waren glücklich oder unglücklich, keineswegs gleichgültig und zufällig; oder sie waren zumindest betrunken. In kleinen Städten sind nachts keine zufälligen Menschen auf der Straße. Nur Liebhaber, oder Straßenmädchen, oder Nachtwächter, oder Wahnsinnige, oder Dichter. Die Zufälligen und Gleichgültigen sind sicher zu Hause.

In der Mitte des Marktplatzes stand der Gründer der Stadt, ein steinerner Bischof, als gäbe er acht. So mittendrin ist er und so wichtig. Ich glaube, die Leute hielten ihn für tot und erledigt. Sie gingen an ihm vorbei und grüßten nicht; sie hätten sich nicht gescheut, Geheimstes in seiner Nähe zu sagen oder auch ein Verbrechen zu begehen. Wozu hielten sie ihn überhaupt noch?

Mir tat der Bischof leid, der sich gewiß so geplagt hatte, als er die Stadt gründete. Er trug einen verkniffenen Zug um den Mund und sah ganz so aus wie jemand, der die Undankbarkeit der Welt kennengelernt hat. Ich versprach ihm in jener Nacht, fleißig in der Geschichte über ihn nachzulesen. Aber ich kam nie dazu. Denn auch in dieser kleinen Stadt hatten die lebenden Menschen Geschichten, die mir in den Weg liefen, mich umstellten und einspannten. Und übrigens war es Frühling, und ich mag in solcher Jahreszeit keine Bischöfe und keine Gründer.

Ich wußte schon am nächsten Morgen ein paar Geschichten.

Ich wußte, daß der Briefträger erst seit einigen Tagen hinke und keineswegs von Geburt lahm sei. Er trank selten, zweimal im Jahr: an seinem Geburtstag, das war der fünfzehnte April, und am Todestag seines Sohnes, der in der großen Stadt durch Selbstmord geendet hatte. Der Rausch war nachhaltig, und der Briefträger taumelte drei Tage zwischen den Mauern des Städtchens herum, ehe er nüchtern wurde. An diesen drei Tagen bekamen die Leute dieser Stadt keinen Brief. Der Verkehr mit der Außenwelt stockte.

Vor einer Woche, am fünfzehnten April, war der Briefträger in seinem Rausch gestürzt und hatte sich ein Bein verrenkt. Davon kam sein Hinken.

Das war nicht die einzige Geschichte.

In dem Hotel, in dem ich schlief, roch es nach Naphthalin, Moschus und alten Kränzen. Der große Speisesaal hinter dem Schankladen war niedrig, die Decke gewölbt, und die Wände trugen viereckige braunhölzerne Pflästerchen mit Sprüchen. Anna, das Mädchen, stützte den rechten Arm auf das Fensterbrett und gab acht, daß die Krüge nicht leer wurden. Sie wurden nie leer. Denn die Leute tranken hier sehr viel Wein und klapperten mit den Krugdeckeln, wenn Anna nicht aufpaßte.

Anna war damals siebenundzwanzig Jahre alt und blond und glatt gekämmt. Sie sah immer so aus, als wäre sie vor einer Weile aus dem Wasser gestiegen. So straff und blank war ihr Gesicht und so frisch und streng und feuchtblond zogen sich ihre gestrählten Haarsträhnen aus der Stirne.

Sie hatte schlanke, kräftige, aber schüchterne Hände, von denen ich immer glaubte, daß sie sich schämen.

Anna stammte aus Böhmen und liebte den Ingenieur. Der Ingenieur war der Betriebsleiter jener Fabrik, in der Annas Vater arbeitete. Anna hatte ein Kind von dem Ingenieur.

Der Ingenieur hatte geheiratet und Anna Geld gegeben fürs Kind und für die Reise. So war Anna Kellnerin in dem kleinen Städtchen.

Ich trat einmal zufällig in Annas Zimmer und sah die Photographie ihres Kindes. Es war ein schönes Kind, es griff mit runden Fäusten in die Luft und trank die Welt mit großen Augen.

Anna war schweigsam und erzählte ihre Geschichte sehr kurz.

Ich mag Ingenieure dieser Art nicht und liebte Anna.

“Sie lieben ihn immer noch?” fragte ich Anna.

“Ja!” sagte sie. Sie sagte es so selbstverständlich und trocken, wie irgendeine geschäftliche Auskunft.

….

 

 

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