Radetzkymarsch

Radetzkymarsch – Joseph Roth

In Form einer drei Generationen umspannenden Familiengeschichte beschreibt Roth den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Der Titel des Romans bezieht sich auf den gleichnamigen Marsch von Johann Strauß aus dem Jahr 1848, der sich symbolhaft durch die Handlung zieht.

Der stumme Prophet

Der stumme Prophet.

Format: Print/eBook

Radetzkymarsch.

ISBN Print: 9783849669874

ISBN eBook: 9783849656966.

 

Auszug aus dem Text:

Die Trottas waren ein junges Geschlecht. Ihr Ahnherr hatte nach der Schlacht bei Solferino den Adel bekommen. Er war Slowene. Sipolje – der Name des Dorfes, aus dem er stammte – wurde sein Adelsprädikat. Zu einer besondern Tat hatte ihn das Schicksal ausersehn. Er aber sorgte dafür, daß ihn die späteren Zeiten aus dem Gedächtnis verloren. In der Schlacht bei Solferino befehligte er als Leutnant der Infanterie einen Zug. Seit einer halben Stunde war das Gefecht im Gange. Drei Schritte vor sich sah er die weißen Rücken seiner Soldaten. Die erste Reihe seines Zuges kniete, die zweite stand. Heiter waren alle und sicher des Sieges. Sie hatten ausgiebig gegessen und Branntwein getrunken, auf Kosten und zu Ehren des Kaisers, der seit gestern im Felde war. Hier und dort fiel einer aus der Reihe. Trotta sprang flugs in jede Lücke und schoß aus den verwaisten Gewehren der Toten und Verwundeten. Bald schloß er dichter die gelichtete Reihe, bald wieder dehnte er sie aus, nach vielen Richtungen spähend mit hundertfach geschärftem Auge, nach vielen Richtungen lauschend mit gespanntem Ohr. Mitten durch das Knattern der Gewehre klaubte sein flinkes Gehör die seltenen, hellen Kommandos seines Hauptmanns. Sein scharfes Auge durchbrach den blaugrauen Nebel vor den Linien des Feindes. Niemals schoß er, ohne zu zielen, und jeder seiner Schüsse traf. Die Leute spürten seine Hand und seinen Blick, hörten seinen Ruf und fühlten sich sicher.

Der Feind machte eine Pause. Durch die unabsehbar lange Reihe der Front lief das Kommando: “Feuer einstellen!” Hier und dort klapperte noch ein Ladestock, hier und dort knallte noch ein Schuß, verspätet und einsam. Der blaugraue Nebel zwischen den Fronten lichtete sich ein wenig. Man stand auf einmal in der mittäglichen Wärme der silbernen, verdeckten, gewitterlichen Sonne. Da erschien zwischen dem Leutnant und den Rücken der Soldaten der Kaiser mit zwei Offizieren des Generalstabs. Er wollte gerade einen Feldstecher, den ihm einer der Begleiter reichte, an die Augen führen. Trotta wußte, was das bedeutete: Selbst wenn man annahm, daß der Feind auf dem Rückzug begriffen war, so stand seine Nachhut gewiß gegen die Österreicher gewendet, und wer einen Feldstecher hob, gab ihr zu erkennen, daß er ein Ziel sei, würdig, getroffen zu werden. Und es war der junge Kaiser. Trotta fühlte sein Herz im Halse. Die Angst vor der unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe, die ihn selbst, das Regiment, die Armee, den Staat, die ganze Welt vernichten würde, jagte glühende Fröste durch seinen Körper. Seine Knie zitterten. Und der ewige Groll des subalternen Frontoffiziers gegen die hohen Herren des Generalstabs, die keine Ahnung von der bitteren Praxis hatten, diktierte dem Leutnant jene Handlung, die seinen Namen unauslöschlich in die Geschichte seines Regiments einprägte. Er griff mit beiden Händen nach den Schultern des Monarchen, um ihn niederzudrücken. Der Leutnant hatte wohl zu stark angefaßt. Der Kaiser fiel sofort um. Die Begleiter stürzten auf den Fallenden. In diesem Augenblick durchbohrte ein Schuß die linke Schulter des Leutnants, jener Schuß eben, der dem Herzen des Kaisers gegolten hatte. Während er sich erhob, sank der Leutnant nieder. Überall, die ganze Front entlang, erwachte das wirre und unregelmäßige Geknatter der erschrockenen und aus dem Schlummer gerissenen Gewehre. Der Kaiser, ungeduldig von seinen Begleitern gemahnt, die gefährliche Stelle zu verlassen, beugte sich dennoch über den liegenden Leutnant und fragte, eingedenk seiner kaiserlichen Pflicht, den Ohnmächtigen, der nichts mehr hörte, wie er denn heiße. Ein Regimentsarzt, ein Sanitätsunteroffizier und zwei Mann mit einer Tragbahre galoppierten herbei, die Rücken geduckt und die Köpfe gesenkt. Die Offiziere des Generalstabs rissen erst den Kaiser nieder und warfen sich dann selbst zu Boden. “Hier den Leutnant!” rief der Kaiser zum atemlosen Regimentsarzt empor.

Inzwischen hatte sich das Feuer wieder beruhigt. Und während der Kadettoffizierstellvertreter vor den Zug trat und mit heller Stimme verkündete: “Ich übernehme das Kommando!”, erhoben sich Franz Joseph und seine Begleiter, schnallten die Sanitäter vorsichtig den Leutnant auf die Bahre, und alle zogen sich zurück, in die Richtung des Regimentskommandos, wo ein schneeweißes Zelt den nächsten Verbandplatz überdachte.

Das linke Schlüsselbein Trottas war zerschmettert. Das Geschoß, unmittelbar unter dem linken Schulterblatt steckengeblieben, entfernte man in Anwesenheit des Allerhöchsten Kriegsherrn und unter dem unmenschlichen Gebrüll des Verwundeten, den der Schmerz aus der Ohnmacht geweckt hatte.

Trotta wurde nach vier Wochen gesund. Als er in seine südungarische Garnison zurückkehrte, besaß er den Rang eines Hauptmanns, die höchste aller Auszeichnungen: den Maria-Theresien-Orden und den Adel. Er hieß von nun ab: Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje.

Als hätte man ihm sein eigenes Leben gegen ein fremdes, neues, in einer Werkstatt angefertigtes vertauscht, wiederholte er sich jede Nacht vor dem Einschlafen und jeden Morgen nach dem Erwachen seinen neuen Rang und seinen neuen Stand, trat vor den Spiegel und bestätigte sich, daß sein Angesicht das alte war. Zwischen der linkischen Vertraulichkeit, mit der seine Kameraden den Abstand zu überwinden versuchten, den das unbegreifliche Schicksal plötzlich zwischen ihn und sie gelegt hatte, und seinen eigenen vergeblichen Bemühungen, aller Welt mit der gewohnten Unbefangenheit entgegenzutreten, schien der geadelte Hauptmann Trotta das Gleichgewicht zu verlieren, und ihm war, als wäre er von nun ab sein Leben lang verurteilt, in fremden Stiefeln auf einem glatten Boden zu wandeln, von unheimlichen Reden verfolgt und von scheuen Blicken erwartet. Sein Großvater noch war ein kleiner Bauer gewesen, sein Vater Rechnungsunteroffizier, später Gendarmeriewachtmeister im südlichen Grenzgebiet der Monarchie. Seitdem er im Kampf mit bosnischen Grenzschmugglern ein Auge verloren hatte, lebte er als Militärinvalide und Parkwächter des Schlosses Laxenburg, fütterte die Schwäne, beschnitt die Hecken, bewachte im Frühling den Goldregen, später den Holunder vor räuberischen, unberechtigten Händen und fegte in milden Nächten obdachlose Liebespaare von den wohltätig finstern Bänken. Natürlich und angemessen schien der Rang eines gewöhnlichen Leutnants der Infanterie dem Sohn eines Unteroffiziers. Dem adeligen und ausgezeichneten Hauptmann aber, der im fremden und fast unheimlichen Glanz der kaiserlichen Gnade umherging wie in einer goldenen Wolke, war der leibliche Vater plötzlich ferngerückt, und die gemessene Liebe, die der Nachkomme dem Alten entgegenbrachte, schien ein verändertes Verhalten und eine neue Form des Verkehrs zwischen Vater und Sohn zu verlangen. Seit fünf Jahren hatte der Hauptmann seinen Vater nicht gesehen; wohl aber jede zweite Woche, wenn er nach dem ewig unveränderlichen Turnus in den Stationsdienst kam, dem Alten einen kurzen Brief geschrieben, im Wachtzimmer, beim kärglichen und unruhigen Schein der Dienstkerze, nachdem er die Wachen visitiert, die Stunden ihrer Ablösung eingetragen und in die Rubrik “Besondere Vorfälle” ein energisches und klares “Keine” gezeichnet hatte, das gleichsam auch nur jede leise Möglichkeit besonderer Vorfälle leugnete. Wie Urlaubsscheine und Dienstzettel glichen die Briefe einander, geschrieben auf gelblichen und holzfaserigen Oktavbogen, die Anrede “Lieber Vater!” links, vier Finger Abstand vom oberen Rand und zwei vom seitlichen, beginnend mit der kurzen Mitteilung vom Wohlergehen des Schreibers, fortfahrend mit der Hoffnung auf das des Empfängers und abgeschlossen von der steten, in einen neuen Absatz gefaßten und rechts unten im diagonalen Abstand zur Anrede hingemalten Wendung: “In Ehrfurcht Ihr treuer und dankbarer Sohn Joseph Trotta, Leutnant.” Wie aber sollte man jetzt, zumal da man dank dem neuen Rang nicht mehr den alten Turnus mitmachte, die gesetzmäßige, für ein ganzes Soldatenleben berechnete Form der Briefe ändern und zwischen die normierten Sätze ungewöhnliche Mitteilungen von ungewöhnlich gewordenen Verhältnissen rücken, die man selbst noch kaum begriffen hatte? An jenem stillen Abend, an dem der Hauptmann Trotta sich zum erstenmal nach seiner Genesung an den von spielerischen Messern gelangweilter Männer reichlich zerschnitzten und durchkerbten Tisch setzte, um die Pflicht der Korrespondenz zu erfüllen, sah er ein, daß er über die Anrede “Lieber Vater!” niemals hinauskommen würde. Und er lehnte die unfruchtbare Feder ans Tintenfaß, und er zupfte ein Stück vom flackernden Docht der Kerze ab, als erhoffte er von ihrem besänftigten Licht einen glücklichen Einfall und eine passende Wendung, und schweifte sachte in Erinnerungen ab, an Kindheit, Dorf, Mutter und Kadettenschule. Er betrachtete die riesigen Schatten, von geringen Gegenständen an die kahlen, blaugetünchten Wände geworfen, und die leicht gekrümmte, schimmernde Linie des Säbels am Haken neben der Tür und, durch den Korb des Säbels gesteckt, das dunkle Halsband. Er lauschte dem unermüdlichen Regen draußen und seinem trommelnden Gesang am blechbeschlagenen Fensterbrett. Und er erhob sich endlich mit dem Entschluß, den Vater in der nächsten Woche zu besuchen, nach vorgeschriebener Dank-Audienz beim Kaiser, zu der man ihn in einigen Tagen abkommandieren sollte.

Eine Woche später fuhr er unmittelbar von der Audienz, die aus knappen zehn Minuten bestanden hatte, nicht mehr als aus zehn Minuten kaiserlicher Huld und jener zehn oder zwölf aus Akten gelesenen Fragen, auf die man in strammer Haltung ein “Jawohl, Majestät!” wie einen sanften, aber bestimmten Flintenschuß abfeuern mußte, im Fiaker zu seinem Vater nach Laxenburg. Er traf den Alten in der Küche seiner Dienstwohnung, in Hemdsärmeln, am blankgehobelten, nackten Tisch, auf dem ein dunkelblaues Taschentuch mit roten Säumen lag, vor einer geräumigen Tasse mit dampfendem und wohlriechendem Kaffee. Der knotenreiche, rotbraune Stock aus Weichselholz hing mit der Krücke an der Tischkante und schaukelte leise. Ein runzliger Lederbeutel mit faserigem Knaster lag dick geschwellt und halb offen neben der langen Pfeife aus weißem, gebräuntem, gelblichem Ton. Ihre Färbung paßte zu dem mächtigen, weißen Schnurrbart des Vaters. Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje stand mitten in dieser ärmlichen und ärarischen Traulichkeit wie ein militärischer Gott, mit glitzernder Feldbinde, lackiertem Helm, der eine Art eigenen schwarzen Sonnenscheins verbreitete, in glatten, feurig gewichsten Zugstiefeln, mit schimmernden Sporen, mit zwei Reihen glänzender, beinahe flackernder Knöpfe am Rock und von der überirdischen Macht des Maria-Theresien-Ordens gesegnet. Also stand der Sohn vor dem Vater, der sich langsam erhob, als wollte er durch die Langsamkeit der Begrüßung den Glanz des Jungen wettmachen. Hauptmann Trotta küßte die Hand seines Vaters, beugte den Kopf tiefer und empfing einen Kuß auf die Stirn und einen auf die Wange. “Setz dich!” sagte der Alte. Der Hauptmann schnallte Teile seines Glanzes ab und setzte sich. “Ich gratulier’ dir!” sagte der Vater mit gewöhnlicher Stimme, im harten Deutsch der Armee-Slawen. Er ließ die Konsonanten wie Gewitter hervorbrechen und beschwerte die Endsilben mit kleinen Gewichten. Vor fünf Jahren noch hatte er zu seinem Sohn slowenisch gesprochen, obwohl der Junge nur ein paar Worte verstand und nicht ein einziges selbst hervorbrachte. Heute aber mochte dem Alten der Gebrauch seiner Muttersprache von dem so weit durch die Gnade des Schicksals und des Kaisers entrückten Sohn als eine gewagte Zutraulichkeit erscheinen, während der Hauptmann auf die Lippen des Vaters achtete, um den ersten slowenischen Laut zu begrüßen, wie etwas vertraut Fernes und verloren Heimisches. “Gratuliere, gratuliere!” wiederholte der Wachtmeister donnernd. “Zu meiner Zeit ist es nie so schnell gegangen! Zu meiner Zeit hat uns noch der Radetzky gezwiebelt!” Es ist tatsächlich aus! dachte der Hauptmann Trotta. Getrennt von ihm war der Vater durch einen schweren Berg militärischer Grade. “Haben Sie noch Rakija, Herr Vater?” sagte er, um den letzten Rest der familiären Gemeinsamkeit zu bestätigen. Sie tranken, stießen an, tranken wieder, nach jedem Trunk ächzte der Vater, verlor sich in einem unendlichen Husten, wurde blaurot, spuckte, beruhigte sich langsam und begann, Allerweltsgeschichten aus der eigenen Militärzeit zu erzählen, mit der unbezweifelbaren Absicht, Verdienste und Karriere des Sohnes geringer erscheinen zu lassen. Schließlich erhob sich der Hauptmann, küßte die väterliche Hand, empfing den väterlichen Kuß auf Stirn und Wange, gürtete den Säbel um, setzte den Tschako auf und ging – mit dem sichern Bewußtsein, daß er den Vater zum letztenmal in diesem Leben gesehen hatte …

Es war das letztemal gewesen. Der Sohn schrieb dem Alten die gewohnten Briefe, es gab keine andere sichtbare Beziehung mehr zwischen beiden – losgelöst war der Hauptmann Trotta von dem langen Zug seiner bäuerlichen slawischen Vorfahren. Ein neues Geschlecht brach mit ihm an. Die runden Jahre rollten nacheinander ab wie gleichmäßige, friedliche Räder. Standesgemäß heiratete Trotta die nicht mehr ganz junge, begüterte Nichte seines Obersten, Tochter eines Bezirkshauptmanns im westlichen Böhmen, zeugte einen Knaben, genoß das Gleichmaß seiner gesunden, militärischen Existenz in der kleinen Garnison, ritt jeden Morgen zum Exerzierplatz, spielte nachmittags Schach mit dem Notar im Kaffeehaus, wurde heimisch in seinem Rang, seinem Stand, seiner Würde und seinem Ruhm. Er besaß eine durchschnittliche militärische Begabung, von der er jedes Jahr bei den Manövern durchschnittliche Proben ablegte, war ein guter Gatte, mißtrauisch gegen Frauen, den Spielen fern, mürrisch, aber gerecht im Dienst, grimmiger Feind jeder Lüge, unmännlichen Gebarens, feiger Geborgenheit, geschwätzigen Lobs und ehrgeiziger Süchte. Er war so einfach und untadelig wie seine Konduitenliste, und nur der Zorn, der ihn manchmal ergriff, hätte einen Kenner der Menschen ahnen lassen, daß auch in der Seele des Hauptmanns Trotta die nächtlichen Abgründe dämmerten, in denen die Stürme schlafen und die unbekannten Stimmen namenloser Ahnen.

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