Über die Dichtkunst

Über die Dichtkunst – Friedrich Ueberweg

Die Schrift des Aristoteles “Über die Dichtkunst”, welche dieser mit Griechenlands klassischer Poesie innig vertraute Philosoph um 330 verfasst hat, ist uns nur unvollständig überliefert worden. Sie handelt in den uns erhaltenen Partien über die Poesie überhaupt und über die Tragödie und das Epos insbesondere; was Aristoteles über die Komödie und über andere Formen gesagt hat, ist verloren gegangen. Auch inmitten der noch vorhandenen Partien lassen sich mehrere, teils grössere, teils kleinere Lücken nachweisen; andererseits ist der Text nicht ganz frei von fremdartigen Einschiebungen, auch mit noch andern Mängeln behaftet, die sich jedoch durch eine sorgfältige Erwägung des Zusammenhangs größtenteils beseitigen ließen. Ueberwegs Übersetzung aus dem Jahre 1869 gilt als eine der besten dieses großen Werkes der Weltliteratur. Der Originaltext ist in dieser Ausgabe insofern überarbeitet worden, dass die wichtigsten Wörter und Begriffe der aktuellen Rechtschreibung entsprechen.

Über die Dichtkunst

Über die Dichtkunst.

Format: Paperback, eBook

Über die Dichtkunst.

ISBN: 9783849666392 (Paperback)
ISBN: 9783849661533  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

Theorie der Dichtung

 

(insbesondere der Tragödie und des Epos).

 

Kap. 1. (Seite 1447, Zeile 8 der Bekkerschen Quart-Ausgabe der Werke des Aristoteles.) Die Dichtkunst überhaupt und ihre Arten, das Wesen einer jeden derselben, die Art und Weise, wie behufs einer schönen Dichtung die Fabel gestaltet werden muss, ferner die Zahl und die Beschaffenheit der Teile eines Dichtwerks, und was sonst noch in den Bereich der nämlichen Untersuchung gehört, das soll der Gegenstand unserer Abhandlung sein, und wir wollen dabei, wie es sachgemäß ist, von dem (an sich) Ersten ausgehen. (1)

(1447 a 13.) Die epische und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und das bacchische Festlied (der Dithyrambus), so wie größtenteils auch das Flöten- und Zitherspiel, sie alle sind, in ihrer Gesamtheit betrachtet, Nachahmungen.(2)

(1447 a 16.) Sie unterscheiden sich aber voneinander dreifach: nämlich teils durch die generische (den Gattungscharakter betreffende) Verschiedenheit der Darstellungsmittel, teils durch die Verschiedenheit der dargestellten Objekte, teils durch die Verschiedenheit der Darstellungsweise.

(1447 a 18.) Wie nämlich Manche, teils vermöge bewusster Kunstübung, teils vermöge der Gewöhnung, (teils auch vermöge der bloßen Naturanlage ?) mittelst Farben und Gestalten vieles abbildlich darstellen, [Andere durch die Stimme], so gebrauchen die oben genannten Künste insgesamt als Darstellungsmittel das Zeitmaß (Rhythmus), die Rede und die qualitative Tonordnung (Harmonie), und zwar entweder eins dieser Mittel oder mehrere miteinander. Bloß Harmonie und Rhythmus verwenden das Flöten- und Zitherspiel und wohl auch noch andere Künste gleicher Art, wie z. B. das Spiel auf der Hirtenpfeife. Das Zeitmaß allein ohne Tonordnung gebrauchen die (darstellenden ?) Tanzkünstler; denn auch diese bilden Charaktere, Gefühle und Handlungen nach, und zwar durch eine nach Zeitmaßen geordnete Folge von Körperstellungen. Diejenige Kunstform, welche sich nur der ungebundenen oder der metrisch gebundenen Rede bedient, der letzteren, indem sie entweder mehrere Metra mit einander verbindet oder sich auf eins beschränkt, trägt bis jetzt noch keinen gemeinsamen Namen; es gibt ja kein Wort für den Begriff, unter den die Mimen des Sophron und des Xenarch (3) und die sokratischen Dialoge (4) eben sowohl fallen, als auch dichterische Darstellungen, zu welchen Jemand etwa den [Trimeter) (Hexameter ?) oder das elegische Versmaß (die Distichen) oder ein anderes derartiges wählt. Man knüpft gewöhnlich das Wort „Dichter“ an den Gebrauch des Metrums und nennt demgemäß die Einen Elegiendichter, die Andern epische Dichter, indem man den Dichternamen nicht auf Grund der Nachbildung, sondern des Versmaßes erteilt; pflegt man doch auch den einen Dichter zu nennen, der etwa Lehren über Heilkunst oder Musik metrisch vorträgt. In Wahrheit aber haben Homer und Empedokles (5) nichts, als eben nur das Metrum, miteinander gemein; jener heißt mit Recht ein Dichter, diesen sollte man nicht einen Dichter, sondern vielmehr einen Naturphilosophen nennen. Als ein Dichter ist auch anzuerkennen, wer etwa mittelst einer Mischung von allen möglichen Metren nachbildend darstellt, wie Chaeremon im „Kentauros“ ein Mischgebilde aus den verschiedenartigsten Metren geschaffen hat. (6) Soviel hierüber! Einige Künste bedienen sich der sämtlichen genannten Mittel: des Zeitmaßes, der Melodie und der metrischen Rede, wie der Dithyrambus und der Nomus, die Tragödie und die Komödie, aber wiederum mit dem Unterschiede, dass von denselben die einen alle diese Mittel ohne Verteilung, die anderen eins derselben nach dem andern zur Anwendung bringen. (7) Dies sind die Unterschiede der Künste in Betreff der Darstellungsmittel.

Kap. 2. (1448 a 1.) Das Objekt der Darstellung sind handelnde Personen. Diese sind notwendigerweise entweder sittlich gut oder schlecht; denn hiernach allein sind wohl durchgängig die Charaktere zu bestimmen, da sich die Menschen hinsichtlich ihres Charakters als tugendhafte und lasterhafte voneinander unterscheiden. Demgemäß stellen die Dichter entweder solche Personen dar, die sich über das Durchschnittsmaß sittlicher Bildung erheben, oder solche, die hinter demselben zurückbleiben, oder solche, die demselben entsprechen. Das Gleiche gilt von den Malern: Polygnot pflegte edlere Charaktere, Pauson gemeinere, Dionysius dem Durchschnittsmaß entsprechende darzustellen. (8) Offenbar werden sich diese Unterschiede auch bei einer jeden der vorhin angegebenen Formen vorfinden; eine jede derselben wird einen verschiedenen Charakter tragen gemäß der edleren oder unedleren Natur des jedesmaligen Darstellungsobjektes, sowohl der Tanz, als das Flöten- und Zitherspiel, als auch die ungebundene und die bloß dem Metrum unterworfene Rede. Homer z. B.stellt Personen von hervorragender Tüchtigkeit dar, Kleophon gewöhnliche, Hegemon aus Thasos, der früheste Parodiendichter, und Nikochares, der Dichter der „Delias“, Personen von niedrigem Charakter. (9) Ebenso kann man auch auf dem Gebiete der Dithyramben- und Nomendichtung in dem Charakter darstellen, wie Timotheus, aber auch in dem Charakter, wie Philoxenus die „Perser“ und die „Zyklopen“ dargestellt hat. (10) In eben diesem Sinne unterscheidet sich die Tragödie von der Komödie: diese will schlechtere, jene aber bessere Charaktere, als wir heute gewöhnlich vorfinden, zur Darstellung bringen.

Kap. 3. (1448 a 19.) Einen dritten Unterschied begründet noch die Art und Weise der Nachbildung eines jeden dieser Objekte. Man kann das Nämliche mit den nämlichen Darstellungsmitteln entweder in der Weise darstellen, dass man es erzählt und dies wieder entweder so, dass man dabei eine andere Person annimmt, wie Homer verfährt, oder so, dass man ohne solchen Wechsel stets als dieselbe Person redet, oder in der Weise, dass alle Darsteller als handelnde und wirkende Personen auftreten.

(1448 a 24.) Dies sind also, wie wir zu Anfang gesagt haben, die drei Unterschiede der künstlerischen Nachbildung: nach den Mitteln, den Objekten und der Weise der Darstellung. Hiernach wird die Dichtung des Sophokles in dem einen Betracht mit der des Homer unter den nämlichen Begriff fallen, sofern Beide edlere Charaktere darstellen, in einem andern Betracht aber mit der des Aristophanes, sofern Beide die Personen in ihren Dichtwerken als handelnde oder wirkende (dramatisch) darstellen; 11) die Benennung ihrer Stücke als Dramen soll eben davon herrühren, dass sie die Personen als handelnde erscheinen lassen. Auf die Benennung gründen die Dorier den Anspruch, die Tragödie und Komödie erfunden zu haben, die Komödie nämlich die Megarenser, teils die in Megara selbst wohnenden, zu der Zeit, als ihre Verfassung die demokratische war, sei bei ihnen die Komödie aufgekommen, teils die sizilischen, denn aus Sizilien war der Dichter Epicharmus, der viel früher lebte, als Chionides und Magnes (12) und die Tragödie einige Peloponnesier. (13) Dies bekunde sich, sagen sie, in der Benennung; bei ihnen nämlich würden die umliegenden Ortschaften Komenbei den Athenern aber Demen genannt, — wobei sie voraussetzen, dass die Komödienspieler nicht von dem Umherschwärmen, sondern nach den Dörfern, in denen sie, von den Stadtbewohnern gering geachtet, umhergezogen seien, ihre Benennung empfangen haben; bei ihnen ferner heiße das Handeln dāv, bei den Athenern dagegen πράττειν.

Wie viele und welche Arten der nachbildenden Darstellung es gebe, darüber möge das Bisherige genügen.

Kap. 4. (1448 b 4.) Der Ursachen, welche überhaupt das Entstehen der Dichtkunst bewirkt haben, sind zwei; beide sind in der menschlichen Natur begründet. (14) In der Natur der Menschen liegt von Kindheit an der Trieb nachzuahmen, ––– denn mehr als alle anderen lebenden Wesen ist der Mensch zur Nachahmung geschickt, auch lernt er zuerst, indem er nachahmt,––– und auch die Freude am Wahrnehmen von Nachahmungen. Dies bekundet sich tatsächlich bei Werken der Nachbildung dadurch, dass wir Gegenstände, deren Anblick selbst uns widerlich ist, in möglichst getreuen Abbildern gern betrachten, wie z. B. die Gestalten von sehr niedrigen Tieren und von Leichnamen. Auch diese Freude ist darin begründet, dass das Lernen den Menschen höchst angenehm ist, nicht nur den wissenschaftlichen Forschern, sondern ebenso auch allen anderen; freilich verharren diese nicht lange dabei. Man sieht Bilder gern, weil man bei der Betrachtung derselben lernt, und errät, was ein jegliches darstelle, z. B. diese oder jene uns bekannte Person; kennt man zufälligerweise nicht schon das Objekt, so wird das Bild nicht als Bild Vergnügen machen, sondern nur wegen der kunstvollen Arbeit, wegen der Farbe oder aus einem andern Grunde. Da nun Nachahmung und auch (Rede ?), Harmonie und Rhythmus unserer Natur gemäß ist, ––– und offenbar sind die Metra ein Teil (15) der Rhythmen, — so hat man vermöge ursprünglicher Beanlagung und zumeist vermöge allmählichen Fortschritts von kunstlosen Versuchen aus die Poesie erzeugt.

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