Auf falscher Fährte

Auf falscher Fährte – Walther Kabel

“Die goldene Zeit der Krimis” war eine Ära klassischer Kriminalromane, die vor allem die 1920er und 1930er Jahre bestimmten. Die gleichnamige Serie bietet dem Fan dieser “Evergreens” eine große Auswahl von Titeln, die damals entweder bereits als eigenständige Bücher, oder aber als Fortsetzungsromane in diversen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Im Schnellzug Amsterdam-Berlin findet ein ausgeklügelter und abgefeimter Diamantendiebstahl statt, dem ein Mitarbeiter einer holländischen Edelsteinschleiferei gerade noch mit dem Leben entkommt. Schnell nimmt die Berliner Polizei die Ermittlungen auf ….

Auf falscher Fährte

Auf falscher Fährte.

Format: Taschenbuch

Auf falscher Fährte.

ISBN Taschenbuch: 9783849666576.

 

Auszug aus dem Text:

„Alles aussteigen! Schlesischer Bahnhof! Alles aussteigen!“ riefen die Schaffner und rissen die Kupeetüren auf, als der Schnellzug Amsterdam–Berlin zischend und fauchend in der mächtigen Halle zum Stillstand kam.

Die Gepäckträger rannten entlang der Wagenreihe, Rufe ertönten, die Reisenden drängten zum Ausgang.

„Aussteigen! Steigen Sie aus, Herr! Wir sind im Schlesischen Bahnhof! Endstation!“ rief ein Bahnbeamter in eines der leeren Kupees zweiter Klasse hinein, in dem ein Mann saß. Doch der Angerufene rührte sich nicht.

Als der Schaffner ihm an die Schulter griff und ihn wachzurütteln versuchte, verlor er das Gleichgewicht und drohte vom Sitz zu fallen wie eine Figur, die man angestoßen hat und die dadurch ins Schwanken gerät. Der Bahnbeamte rief einen Kollegen:

„Du, Karl, schnell, komm mal her, aber mach ein bißchen fix. Ich glaube, hier ist ein Toter im Abteil!“

Der Angerufene eilte so schnell als möglich herbei, und im Handumdrehen hatte sich auch ein neugieriges Publikum, durch das Rufen des Schaffner herbeigelockt, vor dem betreffenden Wagen angesammelt.

„Steigen Sie aus, Herr! Wir fahren nicht weiter!“ rief ihm Karl ziemlich laut ins Ohr und wollte den Fahrgast gerade mit einem etwas energischen Rütteln den Freuden dieser Welt wieder zurückgeben, als sich aus dem immer größer werdenden Kreis der Zuschauer ein Herr hervordrängte und rief:

„Rühren Sie ihn nicht an! Ich bin Arzt!“

Die beiden Beamten traten sofort zurück und machten dem zu so rechter Zeit erschienenen Mediziner Platz. Dieser, ein etwas korpulenter, aber lebhafter, kleiner Herr mit einem freundlichen, runden Gesicht, untersuchte den Erstarrten und stellte sofort fest, daß man es mit keinem Toten zu tun hatte, denn das Herz arbeitete, wenn auch nicht besonders stark, und die atmende Brust hob und senkte sich ziemlich regelmäßig. Auch von Trunkenheit konnte keine Rede sein, denn von Alkoholgeruch war keine Spur zu bemerken. Und doch es war ein sonderbarer Zustand, in dem sich der Mann befand. Auch die Lage des Körpers war merkwürdig, irgendwie starr, fast stocksteif. Er saß nicht, sondern er lehnte vielmehr seitlich verrutscht an der Lehne der Bank, so daß es aussah, als ob man eine große Puppe hätte hinsetzen wollen.

Die schnell angestellten Wiederbelebungsversuche Dr. Bleis, dies war der Name des Arztes, blieben vorderhand ohne Resultat. So befahl er den anscheinend Erstarrten auf eine Bank im Wartesaal zu legen, um ihn dort noch einmal eingehend untersuchen zu können.

Es hatte sich noch ein zweiter Arzt gefunden, der sich bereit erklärte, seinem Kollegen beizustehen, und die beiden Herren folgten den Bahnbeamten, die den Besinnungslosen nach dem Wartesaal transportierten.

Dr. Blei öffnete die Kleidungsstücke des seltsamen Patienten, aber es zeigte sich keine Wunde am Körper, die auf eine Gewalttat hätte schließen lassen können. Am Hals waren keine Strangulationsmerkmale zu bemerken, Herz und Lunge funktionierten ziemlich normal, der Puls ein wenig vermindert – kurz, es war durchaus nichts Außergewöhnliches zu entdecken.

„Wissen Sie, Herr Kollege,“ meinte Dr. Blei, „ich will ja keine feste Behauptung aufstellen, aber ich gewinne immer mehr den Eindruck, als wäre der Mann hypnotisiert worden. Meinen Sie nicht auch? Ich wüßte wenigstens nicht, um was es sich sonst handeln könnte. Diese seltsame Starrheit des Körpers trotz regelmäßiger Funktion der inneren Organe – ich kenne derartiges nur von meinen hypnotischen Experimenten her, wo ein solcher Zustand sehr leicht bei dem Hypnotisierten zu finden ist.“

Während sich zwischen den Herren ein kleiner Disput über Hypnose im allgemeinen und diesen Fall im speziellen entwickelte, lag das ‚Streitobjekt‘ noch immer starr und steif auf der Bank. Der Herr war zirka dreißig Jahre alt, gut gekleidet und anscheinend den besseren Klassen angehörend. Er war schlank und mittelgroß, das blasse, ziemlich schmale Gesicht hatte einen intelligenten Ausdruck. Das Haar war schwarz und einfach gescheitelt. Der ganze Mann machte den Eindruck eines Bankbeamten etwa.

Dr. Blei setzte gerade ziemlich heftig, mit beiden Händen gestikulierend, irgend eine Theorie auseinander, als mit dem Körper des Bewußtlosen eine Veränderung vorzugehen schien. Die Starrheit der Glieder löste sich allmählich, das eine Bein und der Arm fielen schlaff an der Seite der Bank herunter. Das Bewußtsein des Fremden schien allmählich wiederzukehren. Dann öffnete er die Augen, erhob etwas müde den Oberkörper, aber ein traumähnlicher Zustand umfing ihn noch. Sein Blick war trübe, schien verschleiert, wie bei einem Menschen, der aus einem aus einem tiefen, schweren Schlaf erwacht. Mit hastender Unsicherheit versuchte er sich emporzurichten, stand endlich aufrecht und sah sich verwundert um, als ob ihn seine neue Umgebung überraschte ja verunsicherte. Seine Augen waren noch immer verschleiert und blickten fast furchtsam. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um unangenehme Bilder zu verscheuchen.

„Wo ist Heubner?“ fragte er leise.

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