Aus den Tagen der Hansa

Aus den Tagen der Hansa – Wilhelm Jensen

Jensens epische Familiensaga erstreckt such über mehrere Jahrhunderte und besteht aus drei Novellen. Der in Heiligenhafen (Holstein) geborene Schriftsteller gehört mit über 150 Werken, oft mit historischem Hintergrund, zu den produktivsten Autoren seiner Zeit.

Aus den Tagen der Hansa

Aus den Tagen der Hansa.

Format: eBook

Aus den Tagen der Hansa.

ISBN eBook: 9783849656027.

 

 

Auszug aus dem Text:

 

Es ist ein bedenkliches Unterfangen, ein Bild aus der Mitte des 14. Jahrhunderts vor Augen stellen zu wollen. Alles in der Zeit Vorhandene ruht auf einer Vergangenheit, aus der es geworden, und doch erscheint alles noch wie in einem ersten Anfang. Kaleidoskopisch verändert jeder Moment das an Farben und Formen tausendfältige Gemenge. Zwischen andauernden Grundlagen des Alten wächst das Überlieferte nach allen Richtungen neugestaltig aus, eine ungeheure Kraft des Werdens treibt in den Wurzeln alles Lebens. Gleichartige Abkömmlinge ihrer Väter liegen in der Wiege, aber wie ihre gemeinsame Amme, die wilde Zeit sie mit einer geheimnisvoll nährenden Milch großgesäugt, gestalten sich aus ihnen neue Menschen mit neuem Willen und neuen Gedanken. Das Herkommen zwängt sie in die alte Geistestracht hinein, doch die Nähte derselben werden ihrem kraftstrotzenden Wachstum zu eng und die wuchtigen Glieder zersprengen ihr fesselndes Gewand. Überall tritt dem Blick das Recht nur als ein Spielzeug der Macht entgegen, und das Gefühl der erwachenden Stärke treibt jeden zur Selbstwahrung seiner Lebensberechtigung an. Dieser Drang aber erweitert zugleich sein Verständnis; der einzelne erkennt sich als ohnmächtig und sucht Förderung seines Trachtens im festen Anschluß an Gleichgesinnte und Gleichgestellte. So vereinigen sich, besonders in den Städten, die getrennt Schwachen zu starker, verhafteter Gemeinschaft; die Stadt selbst, von Mauern umschirmt, stellt wiederum eine erhöhte Einheit verbündeter Genossenschaften dar. Ihre sämtlichen Bewohner werden von denselben Feinden bedroht, teilen die nämlichen Anforderungen, Bedürfnisse und Bestrebungen des Lebens. Die Befriedigung derselben wird bei der steigenden Volkszahl schwieriger und innerhalb der engen Stadtgrenzen zur Unmöglichkeit; der Handelsaustausch mit anderen Gemeinwesen, auf den schon früh die Vorväter ihr Augenmerk gerichtet, gewinnt immer mehr an Wichtigkeit, wächst zur innersten Triebkraft des in sich abgeschlossenen Organismus, zur obersten Bedingung des städtischen Emporblühens an. Weiter hinaus dehnt sich der Blick nach fremden Ländern und Küsten, deren Erzeugnisse im Umsatz reichen Gewinn verheißen; die Wege zu Lande, wo sich überhaupt solche bieten, sind langwierig, mühsam und gefahrvoll, so beschränkt sich der Handel fast ausschließlich auf die Wasserstraßen. Dadurch erlangen die an der See oder an schiffbaren Flüssen belegenen Städte einen außerordentlichen Vorsprung rascher und stolzer Entwicklung; zugleich aber auch beruht ihr höchstes Lebensinteresse auf möglichster Sicherung ihrer Meereswege. Nicht mindere Gefahren drohen auf diesen, als zu Lande. Den Untiefen und Wirbelströmungen gesellt sich die Natur mit Stürmen und Unwettern hinzu, denen die Fahrzeuge der Zeit schwer zu trotzen vermögen. Noch hält der Schiffer, wo er kann, stets folglich seinen Lauf an der Küste entlang, traut sich nur bei wolkenlosem Sommerhimmel für wenige Tage auf die offene See. Schlimmeres jedoch als von Wind und Wellen droht ihm von menschlicher Raubgier. Wie an den Landstraßen überall auf steilem Fels das Habichtsnest eines Ritters, hinter dem Busch der Strauchklepper lauert, um auf den vorüberziehenden Kaufmann herabzustoßen, so dräut jede Meerbucht und Klippe als Hinterhalt der wohlbemannten Piratenschnigge eines Seeräubers, der die Warenladung des Handelsfahrzeuges als gute Beute an sich rafft, das Schiff selbst aber mit der Bemannung in den Grund bohrt, damit keine Zungen und Zeugen von dem Überfall Kunde heimbringen. Seit einem halben Jahrtausend schon haben, ganz besonders in der Ostsee, wechselnde Küstenvölker dies einträgliche Gewerbe geübt, die Kauken in ausgehöhlten Baumstämmen, die Sachsen, die Dänen und Normannen mit phantastischen Tierfratzen am Bug ihrer schnellsegelnden ›Holke‹; als Waräger, Wikinger und Seekönige haben sie die Meere des Nordens beherrscht und auf gewaltigen Freibeuterzügen Schrecken bis an die morgenländischen Küsten des Mittelmeeres getragen. Diese Periode des Seeräuberlebens ganzer Völker ist jetzt vorüber, doch am wendischen Ufer der Ostsee vor allem betreibt der einzelne Pirat noch immer in Nacht und Nebel seinen Fang und schleppt seine Beute in unzugängliche Höhlen und Mauerwerke der vielfach fast unbekannten Strandgegenden heim. Manchmal vereinigen sich die Fürsten der Küstenländer und die Handelsstädte zur gemeinsamen Jagd auf die Räuber, aber in kürzester Zeit entbrennt stets zwischen ihnen selbst eine neue Fehde, und das Freibeutertum blüht ungefährdet wie zuvor auf. Und im Grunde stellt es im Vergleich mit fürstlicher Habgier und Willkür noch das weniger gefürchtete Übel für den Seefahrer dar. Zwar erkennen Könige, Herzöge, Grafen und Herren die Vorteile, welche auch sie aus dem Handelsverkehr, teils direkt durch auferlegte Mauten und Zölle, teils indirekt durch Verwertung ihrer Landesprodukte zu ziehen vermögen, und schließen dahinzielende Verträge ab. Aber in den meisten Fällen sind die fürstlichen Siege darunter nur vorhanden, um bei jeder Aussicht auf reichhaltigeren Gewinn mit List oder Gewalt gebrochen zu werden. Dem nämlichen Ursprung verdankt, allen Bemühungen der Seestädte, der mächtigsten Landesherren, ja selbst oft wiederholter Banndrohung der Kirche zum Trotz, an vielen Küsten noch ein Überrest barbarischen Zeitalters seine Erhaltung, das Strandrecht, das mehr den Namen des Strandraubes verdient. Das Schiff, welches von dem Unfall betroffen wird, an einem Ufer, in einem Hafen zu scheitern, wo es sonst durch Verträge für seine friedlichen Zwecke geschützt sein würde, verliert alle ihm ohne jenes Unglück zustehenden Rechtsansprüche. Fahrzeug und Güter fallen dem Territorialherrn der Küste anheim, vielfach selbst die persönliche Freiheit der geretteten, zu Sklavendiensten gezwungenen Mannschaft. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts gilt es als höchster Beweis der machtvoll angewachsenen Bedeutung der Stadt Lübeck, daß sie von England für ihre Schiffe insoweit Befreiung vom Strandrecht zugesichert erhält, als die Beschlagnahme der Güter nicht stattfinden soll, wenn ein Lebender von dem verunglückten Fahrzeuge das Ufer erreicht. Allmählich schließen da und dort auch andere Fürsten ähnliche Übereinkünfte: König Waldemar der Zweite von Dänemark macht, »dem gemeinen Kaufmann zu Nutzen«, den ersten Beginn mit der Anlage eines Seezeichens bei Falsterbo an der gefährlichen Küste von Schonen, der Südspitze Schwedens. Doch alles ist unsicher, dem guten Willen, dem Augenblick, günstigem Zufall anheimgegeben, ein Recht, das nur für denjenigen besteht, der die Macht besitzt, für seinen Bruch Vergeltung zu üben. Ob der Papst zu Rom der Christenheit das menschenfreundliche Beispiel der Bewohner der Insel Melita vorhalten mag, die den schiffbrüchigen Apostel Paulus gastlich aufgenommen, widersetzt sich noch am Ende des 13. Jahrhunderts selbst der Erzbischof von Bremen dem Andrängen eines päpstlichen Legaten, strandrechtlich geraubtes Gut herauszugeben, und läßt das Kloster Dobberan sich als Privileg »omnem proventum maris vel utilitatem in perclitatione navium« zusichern. Nicht Beihilfe und menschliche Anteilnahme am Unglück, sondern seine schonungslose Ausbeutung herrscht als oberster Grundsatz. Der Vorteil, die Stärke und die Furcht allein bedingen die Sicherung vor Gewalttat aus dem Meere wie auf dem Lande.

Solchen Verhältnissen standen die Handelsstädte der Nord- und Ostsee um die Mitte des 14. Jahrhunderts in ihrem wichtigsten Lebensinteresse gegenüber. Die mannigfachen Gefährdungen der Wasserstraßen waren ihnen schon seit Jahrhunderten überliefert, aber mit der gewaltigen Ausbreitung der kaufmännischen Geschäfte wuchs die Notwendigkeit einer wenigstens vor menschlicher Raubgier beschirmten Schiffahrt zu immer höherer Bedeutung. Denn auf ihr beruhte der Reichtum, der Zusammenfluß des Geldes aus Ost, Nord und West in den städtischen Säckeln, und Geld war die oberste Macht der Zeit. Es warb Söldner zur Verteidigung und zum Angriff, schloß Schutz- und Trutzwehr mit mächtigen Bundesgenossen, erkaufte unschätzbare Vorrechte. Es erbaute Schiffe und feste Mauern, hochragende Kirchen und kunstvoll geschmückte Rathäuser. Die Ausdehnung, Bequemlichkeit und Sicherstellung des Lebens und Eigentums, welche aus den reichen Mitteln der großen Handelsstädte entsprangen, zogen überall die Landsassen, selbst vielfach Angehörige des Mittelstandes als Schutzbürger herzu. Draußen herrschten die Gewalt und die Willkür, nur innerhalb der Stadtmauern vermochte man auf Friedensgewähr und Recht zu bauen. Diese bisher unbekannte Bürgschaft aber war die Mutter einer neuen Zeit. Mit staunenerregender Hast entwickelte sie bis dahin kaum geahnte Fähigkeiten und Tätigkeiten des menschlichen Geistes. Die Kunst und die Wissenschaft begann sich nach jahrtausendlangem Schlafe zu regen, das Verständnis und den Trieb nach einer edleren Lebensführung zu erwecken. Neben der persönlichen Sicherheit bot die Stadt eine Sauberkeit, Behaglichkeit und mannigfache Schönheit des Daseins, von der die Adelssitze in Wäldern und Bergen kaum eine Ahnung besaßen. Der bisher mißachtete Kaufmann hub an, die Vorzüge seiner Stellung, die aus ihnen erwachsende Macht zu erkennen und zu nützen; die ›Geschlechter‹ in den Städten fühlten sich ritterbürtig, jeder einer Genossenschaft Angehörige empfand die Kraft des ganzen Verbandes in sich. Doch das alles war noch neu, erst im Werden, es glich dem Fluß eines geschmolzenen Metalles, aus dem sich erst da und dort feste Gestaltungen hervorgebildet. Gemeinsam arbeiteten die Bewohner der Städte einem Ziele entgegen, doch vielfach unbewußt: die Augen, welche das Ganze aufzufassen versuchten, konnten zu den gegensätzlichen Ergebnissen gelangen, es sei noch immer die alte, und es sei eine völlig neue Welt.

Der Maler, der ein Bild der deutschen Verhältnisse um die Mitte des 14. Jahrhunderts entrollen will, darf es nur mit wenigen großen Strichen darstellen; eine Zeichnung der zahllosen, unablässig sich verschiebenden Einzelheiten, selbst der bedeutendsten, würde das Ganze verworren-unkenntlich vor dem Blick zerwogen lassen.

Seit länger als einem halben Jahrhundert ist das Deutsche Reich ein Herd rastloser innerer Zwietracht. Die beiden einzigen wirklichen Mächte, die es einstmals besessen, das staufische Kaisertum und die sächsische Herrschaft Heinrichs des Löwen, sind längst wesenlos vergangen. Die Kreuzzüge und Italien haben Deutschlands Kraft nutzlos im Süden vergeudet; in langer Reihe treten Gegenkaiser widereinander auf, der Sieger kaum mächtiger als der Besiegte. Rom allein verstärkt durch den deutschen Zwist seine Macht. Es begünstigt die immer mehr wachsende Unabhängigkeit der Einzelfürsten des Reiches, kleiner wie großer. Das Ganze liegt in ohnmächtige Teile zersplittert, von denen jeglicher nur seinem Vorteil nachtrachtet. Krieg und Fehde, Gewalt, List und Gesetzlosigkeit überall: das Faustrecht ist kaiserlich sanktioniert; die Pest, der schwarze Tod, durchzieht ganz Europa und rafft mehr als die Hälfte aller Lebenden hin.

Am unheilvollsten hat sich der politische Zustand im Norden Deutschlands verändert, den Heinrichs des Löwen starke Hand fast zu einem einheitlichen Körper zusammengefaßt hatte. Mit dem Verfall des großen Sachsenreiches sind auch hier zahllose und kraftlose Einzelherrschaften entstanden, uneinig und unfähig, die Grenzen des Reiches gegen die nordischen Völkerschaften zu behüten. Noch unablässiger als im oberen Deutschland tobt an der unteren Weser, Elbe und Oder, der Trave und Eider das Kriegsgetümmel, doch kaum erfährt man davon jenseits der thüringischen Berge. Kaiser und Reich sind anders beschäftigt und liegen fernab. Wenige Wege führen vom Niederland zum Oberland, der Handel bedient sich ihrer nicht, denn sie sind für Wagen fast so unbenutzbar, wie gefahrvoll durch das an jeder Biegung lauernde Raubritter- und Raubfürstentum; kaum besteht eine Verbindung zwischen den beiden Hälften des Reiches, als durch erfolglose Verordnungen und Drohungen des Kaisers und des Papstes. Nach außen und innen ist der Norden auf sich selbst gewiesen; es ist die allgemeine Lösung für alle und jeden: Hilf dir selbst! So hat seit dem Sturz Heinrichs des Löwen ein lockeres Zusammenhalten der am meisten in ihrer Existenz Bedrohten begonnen, der anwachsenden Städte. Besonders diejenigen des Rheines, Westfalens und der Niederlande mit Mainz, Köln, Soest, Dortmund und Brügge an der Spitze haben zur Sicherung ihres Handels Bündnisse gegen Raub und Überfall auf Land- und Wasserstraßen geschlossen. Allmählich streckt dieser Verband seine Fäden weiter gegen Nordost nach Bremen, Hamburg, Lübeck. Doch es ist kein wirklicher Zusammenschluß der Städte zu Schutz und Trutz, nur eine kaufmännische Übereinkunft im alleinigen Interesse des Handels, und hin und her schwankend knüpfen sich die ungewissen Vereinigungen an und zerfallen.

Diesem Auseinanderbruch des großen Deutschen Reiches steht im Norden eine kleine, doch in sich gefestigtere und von der Natur stark gesicherte Macht gegenüber. Das Königreich Dänemark besitzt nur ein geringes, aus einigen Inseln und der größtenteils unfruchtbaren jütischen Landzunge zusammengefügtes Gebiet, seine Einwohnerschaft übersteigt kaum eine Million Köpfe. Bis vor kurzem ist es fast aus der Zahl der selbständigen Staaten ausgelöscht, jahrzehntelang unter der Botmäßigkeit des Grafen von Holstein und der Herzoge von Schleswig gewesen. Doch der 1. April des Jahres 1340 hat eine, anfänglich wenig merkliche, dann rasch vorschreitende Umänderung dieser Verhältnisse herbeigeführt. An dem genannten Tage ist der holsteinische Graf Geerdt, der sich den Beinamen des Großen erworben, der tatsächliche Beherrscher Dänemarks, in der Stadt Randers von einem jütischen Edlen, Niels Ebbeson, ermordet worden und infolge dieser Gewalttat der jüngste Sohn des vormaligen dänischen Scheinkönigs Christoph als König Waldemar der Vierte auf den Thron seiner Vorväter gelangt.

Dieser Waldemar stellt eine der interessantesten Erscheinungen der Menschengeschichte, jedenfalls die eigenartigste und bedeutendste Persönlichkeit seiner Zeitepoche dar. Landflüchtig, wächst er als junger Prinz am Hofe seines Schwagers, des Markgrafen Ludwig von Brandenburg, vielleicht eine Zeitlang auch an dem des deutschen Kaisers auf. Er tummelt sich in Turnieren und Ritterfehden, erwirbt seine Sporen als Führer markgräflicher Heerhaufen. Die Machthaber auf der cimbrischen Halbinsel beachten ihn nicht; er führt den Titel eines Herzogs von Esthland, gleich denen der Bischöfe, deren Bistümer in partibus infidelium belegen sind. Doch er selbst nennt sich als halber Knabe »wahrer Erbe des Reiches Dänemark«, und Genossen umgeben ihn, die ihm den Königstitel beilegen.

Da fällt Graf Gerhard der Große unter Mörderhand, und die Uneinigkeit seiner Söhne, der holsteinischen und schleswigschen Fürsten, führt zu dem Ergebnis, daß sie Waldemar den Sitz auf dem dänischen Thron einräumen. Sie kennen ihn nicht und wissen alle nicht, was sie damit vollbringen. Jeder von ihnen glaubt, den jungen König als Spielball und Handhabe für seine Pläne benutzen zu können.

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