Das Geheimnis der Ginsterschlucht

Das Geheimnis der Ginsterschlucht – Walther Kabel

“Die goldene Zeit der Krimis” war eine Ära klassischer Kriminalromane, die vor allem die 1920er und 1930er Jahre bestimmten. Die gleichnamige Serie bietet dem Fan dieser “Evergreens” eine große Auswahl von Titeln, die damals entweder bereits als eigenständige Bücher, oder aber als Fortsetzungsromane in diversen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Auch wenn die Aufdeckung des Geheimnisses der Ginsterschlucht nicht gerade zu den Sensationsfällen der Kriminalstatistik seiner Zeit gehörte, steckte dahinter doch mehr, als sich aus besagten Notizen und Aufzeichnungen entnehmen lässt …..

Das Geheimnis der Ginsterschlucht

Das Geheimnis der Ginsterschlucht.

Format: Taschenbuch

Das Geheimnis der Ginsterschlucht.

ISBN Taschenbuch: 9783849666552.

 

Auszug aus dem Text:

Man kann nicht gerade behaupten, daß die vor ungefähr zwei Jahren in der Zeit um Mitte Mai erfolgte Aufdeckung des Geheimnisses der Ginsterschlucht zu den Sensationsfällen der Kriminalstatistik gehört. Die Zeitungen erwähnten damals dieses Ereignis nur in einer kurzen Notiz und die große Masse des Publikums hatte ja auch in jenen Tagen weit größeres Interesse für die Vorgänge auf dem politischen Theater. Allerdings wäre wohl auch der aufdringlichste Reporter nicht imstande gewesen, seinem Blatt von den Ereignissen, die den überraschenden Entdeckungen an jenem Maitag vorausgingen, einen auch nur einigermaßen wahrheitsgetreuen Bericht zu liefern. Denn so gern die Behörden seinerzeit erbötig waren, der Presse, selbst wenn sie auch nur dem Sensationsbedürfnis ihrer Leser entgegenkommen wollte, über wichtigere Geschehnisse genauen Aufschluß zu geben, so sehr vermeiden sie es jetzt, wenn man so sagen darf, – in ihre Karten sich sehen zu lassen. Nur zu oft hat gerade die Polizei in den Zeitungen heimliche Gegner gefunden, Gegner, die das Vertrauen der Staatsbürger zu den Maßnahmen ihrer Organe durch eine scharfe und leider nur zu oft ungerechte Kritik erschütterte. So wurden auch in dem Fall des ‚Geheimnisses der Ginsterschlucht’ der durch drei größere Tagesblätter vertretene Presse der Provinzialhauptstadt X. mit wenigen, nur die ins Publikum gedrungenen Tatsachen angehenden Worten, abgespeist, nachdem dieselben Zeitungen beinahe täglich kurz vor dem endlichen Erfolg der Polizei über deren Unfähigkeit mehr oder minder breit sich ausgelassen hatten.

Vielen ist so ein interessanter Beitrag zur Lehre von der Entwicklung des jugendlichen Charakters entgangen. Die Erlebnisse Heinrich Seilers, wie sie nachstehend in Romanform wiedergegeben werden, sind ein sicherer Beweis für die Wandelbarkeit der kindlichen Seele, für den schnellen Umschlag im kindlichen Denken und Handeln unter dem Druck besonderer Ereignisse. –

Die folgende Schilderung schließt sich eng an die eingehenden Berichte des Kriminalbeamten Jakob Fischer und seines Schützlings an. – – –

 

Heinrich Seiler wartete schon gut eine Stunde vor der Tür der Kneipe auf seinen Vater. Hin und wieder hatte er es gewagt, seinen struppigen Kopf, auf dem ein grüner, verschossener Filzhut saß, durch einen Spalt der Tür in den dunsterfüllten Raum hineinzustecken, aus dem lautes Stimmengewirr hervortönte. Dicht gedrängt umstanden die Arbeiter den Schenktisch, vor sich in den dickwandigen Gläsern den entnervenden Schnaps, der sie einmal in jeder Woche, am Tage der Lohnzahlung, ihr stets gleichbleibendes Dasein vergessen machen sollte. –

Heinrich Seiler wußte, daß sein Vater sich in der Kneipe befand. Daher wartete er mit jener gleichgültigen Ruhe, die er allen Vorfällen in seinem freudlosen Dasein entgegenbrachte, weiter an der Straßenecke, ging vor den beiden Schaufenstern des Lokals auf und ab und fror … fror. Der Frühjahrswind fuhr durch die Löcher seiner kurzen Jacke, seiner Hose, seiner Stiefel. Dieser Stiefel, die nie ein Paar gewesen sein konnten. Denn der rechte, ein Schaftstiefel von ziemlicher Größe, entstammte einem Kehrichthaufen, der unlängst nach einem Umzug in dem Hausflur eines der feinen Häuser in der Hauptstraße gelegen hatte. Der linke Stiefel dagegen war das Geschenk von Heinrichs Flurnachbar, dem Flickschuster Albrecht, der diesen etwas stark mitgenommenen Damenzugstiefel unter seinem geringen Ledervorrat auf dem Boden gefunden und zur Ergänzung des derberen rechten Bruders hergegeben hatte.

Bisweilen warf Heinrich im Vorübergehen einen prüfenden Blick in den Schaufensterspiegel und betrachtete sein Äußeres, das keineswegs vertrauenerweckend wirkte. Besonders die funkelnden, gar nicht mehr knabenhaften Augen über der rotgefrorenen Nase erregten immer wieder des Jungen Interesse. Wenn er schließlich das Gefühl der Eitelkeit auch nicht kannte, so sagte er sich doch, daß er zwar nicht wie einer von den Zierbengeln der feinen Leute, aber dafür desto unternehmungslustiger und frecher aussah. Und als Heinrich Seiler jetzt wieder dicht an die Scheibe des Schaufensters gedrückt dastand, da kämmte er sich plötzlich mit seinen Fingern das wirre Haar noch tiefer unter der Hutkrempe in das Gesicht – so, wie er’s bei den oft angestaunten Burschen aus dem Nachbarhaus gesehen hatte, die das reichlich eingefettete Haar in breiter Locke in die Stirn hineingekämmt trugen. –

Während der Junge so angestrengt mit der Vervollkommnung seines äußeren Menschen beschäftigt war, hatte sich ihm leise eine in ein großes Umschlagtuch gehüllte Frau genähert, in deren vergrämten Zügen noch jetzt die feinen Linien einstiger Schönheit erkennbar waren. Die Frau trat hinter Heinrich und schaute eine Weile stumm dem Treiben des Jungen zu. Dann faßte sie ihn unsanft bei der Schulter. Heinrich fuhr herum. Ihm blieb vor Schreck der Mund offen stehen.

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