Dem Untergang geweiht – Die Jungfernfahrt der Titanic

Dem Untergang geweiht – Die Jungfernfahrt der Titanic – Filson Young

Wenn jemand auf der Suche nach einem Buch über den Untergang der “Titanic” ist, dann sollte er dieses lesen. Es ist ein fast zeitgenössischer Bericht und eine faszinierende Lektüre. Filson Young, ein englischer Journalist, der den Bau des Schiffes begleitet hat, und dieses Buch bereits 37 Tage nach der Katastrophe veröffentlichte, ist ein Meister seines Fachs und nimmt uns mit auf eine Reise von den Anfängen des Schiffes, die er in einer fast lyrischen, poetischen Prosa schildert, über das Leben der Passagiere an Bord bis hin zu seinem endgültigen Untergang. Es ist eine sachliche, aber farbenfrohe Lektüre, die nur fünf Wochen nach dem Untergang des Ozeanriesen für seine Mitmenschen sehr aufschlussreich gewesen sein muss – eine gelungene Mischung aus dem Blick eines Journalisten für Details und dem Schwung eines Schriftstellers. Ein Muss für alle Titanic-Fans.

Dem Untergang geweiht - Die Jungfernfahrt der Titanic

Dem Untergang geweiht – Die Jungfernfahrt der Titanic.

Format: Paperback, eBook

Dem Untergang geweiht – Die Jungfernfahrt der Titanic.

ISBN: 9783849667740 (Paperback)
ISBN: 9783849660604 (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

Wenn man frühmorgens mit dem Postdampfer von Fleetwood in den Hafen von Belfast einläuft, sieht man weit vor sich einige Rauchschwaden. Zunächst scheinen sie nur die Spitze eines großen Dreiecks zu sein, das von den Höhen auf der einen Seite, den grün bewaldeten Ufern auf der anderen und dem Horizont im Hintergrund gebildet wird. Je weiter man fährt, desto schmaler wird dieses Dreieck, desto glatter das blaue Wasser, und das Schiff gleitet in seinem eigenen Dreieck weiter – einem Dreieck aus weißer Gischt, das parallel zum grünen Dreieck des Ufers verläuft. Hinter einem wacht der Leuchtturm von Copeland über den Sonnenaufgang und die tosende Brandung des Kanals, während sich vor einem die Rauchschwaden wie ein grauer Baldachin an die sich verengenden Ufer anschmiegen; und man hört kein Geräusch außer dem Rauschen der Gischt an der Schiffsseite.

Man scheint direkt auf ein graues Watt zuzusteuern; aber je näher man kommt, desto eher erkennt man eine schmale Gasse, die sich zwischen Schlamm und Kies öffnet. Zwei niedrige Bänke, die sogenannten “Twin Islands”, ragen mit ihren Enden wie die Ufer eines Kanals in das Wasser der Landsee hinein, und schon bald fährt das Schiff, das seine Geschwindigkeit stark verlangsamt hat, zwischen ihnen hindurch. Die Durchfahrt ist so schmal, dass das Wasser bei der Einfahrt auf den Kiesbänken aufsteigt und in Wellen zu beiden Seiten des Schiffes wegfließt, wie zwei Schimmel mit weißen Mähnen, die langsam dahin galoppieren, eine feierliche Eskorte, bis der Kanal zwischen den Inseln passiert ist. Tag und Nacht, Winter wie Sommer, diese beiden Schimmel warten immer; kein Schiff überrascht sie jemals im Schlaf; kein Schiff fährt ein, ohne dass sie sich erheben und ihre Mähnen schütteln, und es mit ihrer fließenden, galoppierenden Bewegung an den Grenzen ihres Reviers entlang begleiten. Und wenn man die Tore, die sie bewachen, passiert hat, befindet man sich im Hafen von Belfast, im stillen und schlammigen Wasser, das nach Land und nicht nach Meer riecht, und in dem man schon weit von den Gefahren des Meeres entfernt zu sein scheint.

Ist man einmal in diesem engen Kanal, nimmt man sofort ein neues Geräusch wahr, das sich ebenfalls stark von den flüssigen Klängen des Meeres unterscheidet; zuerst ist es nur ein leises, sonores Murmeln, wie das Geräusch von Bienen in einem riesigen Stock, das sich zu einer klingenden, ununterbrochenen Musik steigert – dem mannigfaltigen Crescendo von Tausenden von Schlägen von Metall auf Metall. Und wenn man sich umdreht, um herauszufinden, woher das Geräusch kommt, scheint man tatsächlich die letzten dem Meer zugehörigen Dinge hinter sich gelassen zu haben; denn zur Linken erhebt sich ein wahrer Wald aus Eisen; ein blattloser Wald aus Tausenden und Abertausenden nackten, rostigen Stämmen und Ästen, die höher aufragen als alle echten Bäume in unserem Land und aussehen wie die Überreste eines riesigen Hains, der im braunen Herbst seines Lebens vom Meer überflutet, seiner Blätter beraubt und wieder freigelegt wurde. Es gibt nichts, das eine ausgedehnte oder zusammenhängende Oberfläche hätte, nur unzählige eiserne Äste, durch die überall der graue Himmel und der Rauch hindurchscheinen, riesige Spinnweben, die zwischen Erde und Himmel hängen – verschlungene, bedeutungslose Geflechte aus stählernen Stämmen, Ästen, Stöcken und Zweigen.

Aber je näher man kommt, desto mehr sieht man, dass dieser Wald weder leblos noch seine Auswüchse verlassen sind. Von den untersten bis zu den obersten Ästen ist er von einem Leben bevölkert, das zuerst wie das von Milben in den Zwischenräumen irgendeines verrottenden Gewebes erscheint, dann wirkt es, als wären es Vögel, die in den Zweigen dieses blattlosen Waldes sitzen, und schließlich wie eine Vielzahl von zwergenhaften Menschen, die inmitten der skelettartigen Eisenkonstruktionen so groß wie Kathedralen und so zerbrechlich wie Spinnweben wimmeln und schuften. Von ihnen geht das Geschrei aus, das auf eine Entfernung von einer Meile noch so sanft und musikalisch klang und das nun, je näher man kommt, schrill und ohrenbetäubend wird. Von allen Geräuschen, die menschliche Arbeit auf der Welt erzeugt, ist das Geräusch einer großen Schiffswerft das schmerzhafteste. Nur die härtesten Materialien und die entsprechenden Verarbeitungsmethoden sind in der Lage, diesen Lärm zu erzeugen: Eisen, das auf Eisen geschlagen wird, Stahl, der auf Stahl gehämmert wird, Stahl, der auf Eisen geklopft, oder Eisen, das auf Stahl genietet wird; nichts anderes ist zu hören, tagein, tagaus, Jahr für Jahr, eine Million Mal pro Minute. Es sind endlose, ununterbrochene Geburtswehen, die das Erscheinen riesiger Wesen ankündigen sollen. Und mit Recht ist die Ouvertüre zu einer solchen Geburt gigantisch, denn hier werden aus Feuer und Stahl und dem Schweiß und Schmerz von Millionen Stunden kräftiger Männerarbeit jene zwei riesigen Kinder geboren, die vom Menschen dazu bestimmt worden sind, das Meer zu erobern.

In diesem entsetzlichen Schoß nahm die Titanic Gestalt an. Monatelang gab es in dieser monströsen, eisernen Hülle nichts, was auch nur die geringste Ähnlichkeit mit einem Schiff hatte; man erkannte nur etwas, das genauso gut das eiserne Gerüst für die Kirchenschiffe von einem halben Dutzend aneinandergereihter Kathedralen hätte sein können. In der Ferne verhütteten Öfen Tausende und Abertausende von Tonnen Rohmaterial, das schließlich in Form von großen Trägern und riesigen Metallstücken, gigantischen Rahmen, Hunderten von Kilometern von Stangen und Stäben und Bändern aus Stahl, Tausenden von Platten, von denen nicht eine einzige von zwanzig Männern ohne Hilfe angehoben werden konnte, und Millionen von Nieten und Bolzen an diesen Ort verbracht wurden – ausnahmslos die schwersten und am schnellsten sinkenden Dinge auf diesem Planeten.

Aber nichts erinnerte auch nur annähernd an die Form eines Schiffes, das auf dem Meer schwimmen könnte. Die Jahreszeiten folgten einander und die Sonne ging mal hinter den Höhen von Carricktergus und mal hinter den Copeland-Inseln auf. Täglich kamen die Schiffe von ihrem Kampf mit der ungestümen See zurück, und die beiden Schimmel galoppierten neben ihnen, während sie zwischen den Inseln hindurchglitten. Täglich dauerte das endlose Getöse an, und das Gewirr von Metall unter dem Gerüst der Kathedrale wurde dichter und dichter. Schließlich wurde eine große, fast eine Viertelmeile lange, Straße aus Stahl verlegt –eine Straße, die so schwer und so stabil war, dass sie für den Triumphzug eines gigantischen Eisenbahnzuges ganz sicher ausgereicht hätte. Einige Menschen behaupteten, dass diese Straße der Kiel eines Schiffes sei; aber beim Hinschauen konnte man ihnen keinen Glauben schenken.

Das Gerüst schraubte sich immer mehr in die Höhe; und während es größer und größer wurde, vervielfachten sich auch die eisernen Äste und wuchsen mit ihm, höher und höher in den Himmel, bis es schien, als würde der Mensch einen Tempel errichten, der alles, was er von Größe und Erhabenheit, von Beständigkeit und Dichtigkeit verstand, zum Ausdruck bringen würde – etwas, das an diesem Ort für immer bestehen sollte, fest verwurzelt mit dem Boden von Queen’s Island. Der Aufruhr und der Lärm nahmen zu. In stillen Ateliers und Büros waren kluge Gehirne mit Zeichnungen, Berechnungen, und subtilen, ausgeklügelten mathematischen Prozessen beschäftigt, und sichteten und verwerteten die tabellierten Ergebnisse jahrelanger Erfahrung. Von Zeit zu Zeit wurden die Zeichnungen an den lärmenden Ort gebracht, dort vergrößert oder unterteilt, und in schmutzige Werkstätten weiter transportiert; wo Dampfhämmer und Sägen das rohe Metall formten und teilten, um es in Übereinstimmung mit den Zeichnungen auf dem Papier zu bringen. Und immer noch fuhren die Schiffe, große und kleine, von der hohen See heran – kleine staubige Köhler von der Tyne, ramponierte Schoner von der Küste, Schiffe mit Bauholz von der Ostsee, schmucke Postdampfer und Ozeanriesen, viele davon reparatur- und hilfsbedürftig, aber alle feierlich empfangen von den beiden Schimmeln, die sie zu ihren Anlegeplätzen im Hafen eskortierten. Aber selbst der größte Riese unter ihnen, der, wenn er einlief, alles andere, was das Auge sah, in den Schatten stellte, wurde von dem übergroßen, kathedralenartigen Gebäude auf der Insel in die Bedeutungslosigkeit gezwungen.

Die Jahreszeiten vergingen; die Geschöpfe, die zwischen den eisernen Ästen arbeiteten und kletterten und dort ihr endloses Lied der Arbeit sangen, fühlten den Stahl kalt unter dem Frost des Winters und brennend heiß unter den Strahlen der Sommersonne, bis endlich das Skelett innerhalb des Gerüstes eine Form anzunehmen begann, bei deren Anblick die Menschen den Atem anhielten. Es war die Form eines Schiffes – eines Schiffes, das so monströs und undenkbar war, dass es die Gebäude überragte und selbst die Berge am Wasser in den Schatten stellte. Es schien wie eine pietätlose Blasphemie, dass der Mensch diese monströseste und schwerfälligste aller seiner Schöpfungen in die Form eines Dings bringen sollte, das auf Wasser schwimmen konnte. Und immer noch schwangen die Arme und die Hämmer klirrten, der Donner und das Getöse dauerten an, und die Schimmel schüttelten ihre Mähnen, galoppierten unter dem Schatten entlang und führten die kleinen Schiffe aus dem Meer hinein und wieder hinaus, als ob vor ihnen kein Wunder entstehen würde.

Zwischen dem eisernen Wald und dem gegenüberliegenden Ufer lag etwas mehr als seine eigene Länge an Wasser, um dieses gewaltige Bauwerk von seinem Sockel zu lösen und ins Meer zu stürzen. Der Gedanke, dass es überhaupt jemals von seinem Platz bewegt werden könnte, außer durch ein Erdbeben, war für den menschlichen Verstand unvorstellbar; ebenso wenig konnte jemand, der es betrachtete, ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich dieser riesige Leviathan aus Metall durch irgendeinen Trick auf der Oberfläche des Wassers halten würde können. Und doch nahm er immer mehr die Form eines Schiffes an und bildete, wie in einem bösen Traum, nach und nach alle, sich in abscheulicher Übertreibung stetig steigernden Eigenschaften eines solchen aus. Ein Ruder so groß wie eine riesige Ulme, Naben und Lager von Schiffsschrauben von der Größe einer Windmühle –einfach alles besaß alptraumhafte Ausmaße; und unter den eisernen Konstruktionen, auf dem Betonboden der Kathedrale, verlegten Männer eine Pflasterung aus Eichenholz, bauten große Hängegerüste aus Holz und Eisen und Gleitbahnen aus Pechkiefer, um die Masse des Monsters zu stützen, wenn es bewegt werden sollte – wobei jeder Quadratzentimeter der gepflasterten Fläche ein Gewicht von mehr als zwei Tonnen tragen musste. Nachdem man darauf zwanzig Tonnen Talg verteilt hatte, erbaute man hydraulische Rammen und Aufhängungen und fixierte diese am Rumpf des Schiffes, sodass die Wasser, die es einmal erobern sollte, das Schiff schließlich im richtigen Moment von der Erde wegstoßen konnten.

 

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