Der Sohn der Hagar

Der Sohn der Hagar – Paul Keller

“Der Sohn der Hagar” ist ein sozialkritischer Heimatroman des schlesischen Schriftstellers Paul Keller. In diesem Roman, in dem Paul Keller den Gipfel seines künstlerischen Werkes erreicht hat, verbindet sich die sozialkritische Anklage mit der christlichen Zuversicht des Autors. Das Buch ist in der Schilderung einiger Charaktere humorvoll und mit Augenzwinkern über die Schwächen der Menschen geschrieben, aber auch voll Poesie in den Naturschilderungen und den Visionen, in denen die verstorbene Mutter Roberts oder am Ende des Buches Christus selbst erscheint. Paul Keller appelliert durch seine gemütvolle Darstellung an das Gefühl des Lesers und versteht es sowohl zu rühren, zu unterhalten und auch nachdenklich zu machen.

Der Sohn der Hagar

Der Sohn der Hagar.

Format: eBook

Der Sohn der Hagar.

ISBN eBook: 9783849656119.

 

 

Auszug aus dem Text:

 

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin,
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.«

Die Lore sang schön. Und sie selbst war schön. Die Abendsonne, die durchs geöffnete Fenster schien, bestrahlte ihren blonden Kopf, bestrahlte das Nähzeug, das sie in den kleinen Händen hielt, und überzog selbst die blanke Nadel mit einem leichten Goldschimmer.

»Die Luft ist kühl und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein,
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.«

Der Rhein war dieser schleichen Flur fern; aber das Wasser des großen Teiches funkelte rotgolden auf, das tiefe Leuchten ging über seine stille Fläche und stieg am jenseitigen Ufer den kleinen Berg hinauf, wo der vereinzelte wilde Kirschbaum stand, den die Leute den »Wächter« nannten.

Der »Wächter« stand auf einer kleinen Anhöhe wie auf einem Auslugposten und sah übers ganze Dorf weg und übers ganze Tal. Wenn ein Wetter kam, dann wehrte der »Wächter« mit ausgestreckten Zweigen die Blitze ab, daß sie den Häusern nicht zu nahe kämen.

Seit Menschengedenken hatte es in Teichau nicht eingeschlagen; dagegen zeigten sich gelegentlich die Leute mit leiser Furcht und großem Respekt die kleinen Schmarren und Risse wie auch die tiefe Wunde, die der tapfere, treue Baum durch die Wetterstrahlen erlitten hatte. Und wie ein Vorposten war er, den der Wald ausgestellt hatte, der Wald, der ruhig wie ein schlummerndes Heer den Hügel hinauf im ersten Herbsttraume lag.

»Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar –«

»Sing’ nich immerfort! Näh’ lieber! Bei dem ewigen Gedudele wird nischt fertig!«

Lore erschrak und stach sich leicht in den Finger. Sie sah ihre Tante, die Frau Gastwirt Anna Hartmann, die so plötzlich in die Wirtsstube getreten war, an und sagte leise, aber mit leichtem Trotz:

»Ich näh’ ja!«

Ihr Onkel, der Gastwirt Wilhelm Hartmann, der im hohen Schanksims sanft eingeschlummert gewesen war, war durch das Erscheinen seiner Frau jählings erwacht und tat nun, als ob er eifrig Gläser ausspüle. Seine Frau warf einen Blick in seine hölzerne Burg und sagte mürrisch:

»Du könntest lieber amal in a Pferdestall sehn. Es is Zeit zum Füttern, und der Gottlieb wüstet mit ‘m Haber, als wenn a gar nischt kostete.«

Darauf verschwand sie. Lore seufzte und zog dann ein schnippisches Mäulchen, Hartmann hörte auf zu spülen, trocknete sich die Hände ab und kam aus dem Schanksims heraus.

»Lore, du kannst singen! Aber sing’ leise«, sagte er.

Nach diesem tapferen Ausspruch verließ er das Zimmer, um zu Gottlieb, dem alten Großknecht, in den Pferdestall zugehen.

Einen Augenblick blieb’s still in der großen Wirtsstube, dann tönte leise wieder des Mädchens Gesang:

»Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.«

Sie hat ganz zu nähen aufgehört. Im Glase des offenstehenden Fensterflügels betrachtet sie ihr Bild. O, sie ist schön! Hat auch goldene Haare. Und heißt auch Lore. Wenn sie auf dem Felsen am Rheine säße und die Schiffer zögen vorbei und sähen alle voll Liebe und Bewunderung zu ihr hinauf, das wäre herrlich! Es wären viele: der Bernert Bruno, der Postassistent aus der Stadt, der jeden Sonntag kam, der neue Adjuvant aus der Schule, der Forsteleve, sogar der Gendarm, der Witwer war und fünf Kinder hatte. Lore lachte leise. Dann fast alle Bauernburschen und am Schluß der Berthold – Berthold Hartmann, ihr Vetter. Aber der müßte auf einem Schweinetrog fahren, wie er in Ermangelung eines Bootes draußen auf dem Teich manchmal im Schweinetrog ruderte, wenn er das Bedürfnis hatte, ein kaltes Bad zu nehmen. Denn der Trog kippte immer um.

Lore schrie plötzlich auf. Ein großer dunkler Gegenstand sauste durch das breite Fenster herein, und ehe sie noch feststellen konnte, daß es ein gefüllter Bettstrohsack war, kam schon ein zweiter dunkler Gegenstand durchs Fenster, und dieser zweite war Berthold.

»Berthold – du bist ja – du bist ja ganz verdreht – du erschrickst einen –«

Berthold, der auf dem Strohsack hockte, sagte stolz:

»Ja, Lore, das is so! Das is so a feiner Witz, den ich mir ausgedacht hab’! Denn siehste, erst kummt der Sack und dann kommt der Esel.«

Lore mußte lachen.

»Haste dir das wirklich alleine ausgedacht? Das glaub’ ich nich«, sagte sie freundlich.

»Nu je, der Gottlieb hat mir a bissel gehulfen beim Ausdenken. Aber daß ich a Strohsack hier reinschmeißen wullte, das is mir ganz alleine eingefallen.«

….

 

 

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