Der stumme Prophet

Der stumme Prophet – Joseph Roth

Erzählt wird aus dem Leben und von den Gefechten des Friedrich Kargan, des enttäuschten Revolutionärs ohne Vaterland. Der Roman kann gelesen werden als die Geschichte der unglücklichen Liebe von Friedrich und der Wienerin Hilde von Derschatta. Endlich ist der Text eine der wehmütigen Reminiszenzen des Autors an die untergegangene Donaumonarchie.

Der stumme Prophet

Der stumme Prophet.

Format: eBook

Der stumme Prophet.

ISBN eBook: 9783849656959.

 

Auszug aus dem Text:

Friedrich wurde in Odessa geboren, im Hause seines Großvaters, des reichen Teehändlers Kargan. Er war ein unerwünschtes, weil uneheliches Kind, der Sohn eines österreichischen Klavierlehrers namens Zimmer, dem der reiche Teehändler seine Tochter verweigert hatte. Der Klavierlehrer verschwand aus Rußland, vergeblich ließ ihn der alte Kargan suchen, nachdem er von der Schwangerschaft seiner Tochter erfahren hatte.

Ein halbes Jahr später schickte er sie und den Neugeborenen zu seinem Bruder, der ein wohlhabender Kaufmann in Triest war. In dessen Hause verbrachte Friedrich seine Kindheit. Sie verlief nicht ganz unglücklich, obwohl er in die Hände eines Wohltäters gefallen war.

Erst als seine Mutter starb – in jungen Jahren und an einer Krankheit, die man nie mit einem genauen Namen bezeichnete –, wurde Friedrich in einem Dienstbotenzimmer einquartiert. An Feiertagen und bei besonderen Gelegenheiten durfte er an einem gemeinsamen Tisch mit den Kindern des Hauses essen. Er zog die Gesellschaft der Dienstboten vor, von denen er die Freuden der Liebe lernte und das Mißtrauen gegen die Herrschaften.

In der Volksschule erwies er sich weit begabter als die Kinder seines Brotgebers. Deshalb ließ ihn dieser nicht weiter lernen, sondern als Lehrling in eine Schiffsagentur eintreten, wo Friedrich Aussicht hatte, es nach einigen Jahren zu einem tüchtigen Beamten mit hundertzwanzig Kronen monatlichen Gehalts zu bringen.

Um jene Zeit mehrte sich die Zahl der Deserteure, Emigranten und Pogromflüchtlinge, die aus Rußland über die österreichischen Grenzen kamen. Die Schiffsgesellschaften begannen deshalb, in den Grenzstädten der Monarchie Filialen anzulegen, die Auswanderer abzufangen und sie nach Brasilien, Kanada und den Vereinigten Staaten zu befördern.

Diese Filialen erfreuten sich des Wohlwollens staatlicher Behörden. Offenbar wollte die Regierung die armen, arbeitslosen und nicht ungefährlichen Flüchtlinge möglichst schnell aus Österreich entfernen; aber auch die Meinung entstehen lassen, daß die russischen Deserteure mit Schiffskarten und Empfehlungen nach den Überseeländern versorgt würden – dermaßen, daß die Lust, die Armee zu verlassen, immer mehr Unzufriedene in Rußland ergreifen sollte. Die Behörden bekamen wahrscheinlich den Wink, den Überseeagenten nicht auf die Finger zu schauen.

Es war aber nicht leicht, zuverlässige und geschickte Beamte für die Grenzfilialen zu finden. Die älteren Angestellten wollten ihre Heimat, ihre Häuser, ihre Familien nicht verlassen. Außerdem kannten sie die Sprachen, Sitten und Menschen der Grenzgebiete nicht. Schließlich fürchteten sie auch eine halb gefährliche Tätigkeit.

In dem Büro, in dem Friedrich arbeitete, hielt man ihn für begabt und fleißig. Er beherrschte einige Sprachen, unter ihnen die russische. Er war ein bedächtiger Junge. Man wußte nicht, daß seine stille und immer wache Höflichkeit eine kluge und schweigsame Arroganz verdeckte. Man hielt seinen wortkargen Hochmut für Bescheidenheit. Indessen haßte er seine Vorgesetzten, seine Lehrer, seinen Wohltäter und jede Art von Autorität. Er war feige, körperlichen Spielen mit Altersgenossen abgeneigt, er teilte keine Prügel aus und bekam keine, ging jeder Gefahr aus dem Weg, und seine Angst war immer noch größer als seine Neugierde. Er bereitete sich vor, Rache an der Welt zu nehmen, von der er glaubte, sie behandelte ihn als einen Menschen zweiter Klasse. Es tat seinem Ehrgeiz weh, daß er nicht wie seine Altersgenossen und seine Vettern das Gymnasium besuchen durfte. Er nahm sich vor, es eines Tages dennoch zu absolvieren, die Hochschule zu beziehn und Staatsmann, Politiker, Diplomat – jedenfalls ein Mächtiger zu werden.

Als man ihm vorschlug, in eine der Grenzfilialen zu gehen, sagte er sofort zu, in der Hoffnung auf einen glücklichen Wechsel des Geschicks und eine Unterbrechung der normalen Laufbahn, die er am meisten fürchtete. Er nahm auf seine erste Reise seine Vorsicht, seine Schlauheit und die Fähigkeit, sich zu verstellen, mit, Eigenschaften, die er von der Natur bekommen hatte.

Bevor er in den Personenzug stieg, der nach dem Osten fuhr, warf er noch einen sehnsüchtigen und vorwurfsvollen Blick auf einen eleganten kaffeebraunen Schlafwagen der Internationalen, der mit der Bestimmung Paris von Triest abgehn sollte.

Ich werde einmal zu den Passagieren dieses Wagens gehören, dachte Friedrich.

Achtundvierzig Stunden später kam er in der kleinen Grenzstadt an, wo die Familie Parthagener die Filiale der Schiffsgesellschaft leitete. Der alte Parthagener besaß seit mehr als vierzig Jahren die Herberge “Zur Kugel am Bein”. Sie war das erste Haus auf der breiten Straße, die von der Grenze zur Stadt führte. Hier kehrten die Flüchtlinge und Deserteure ein und begegneten der reinen und stillen Heiterkeit des Alten mit dem silbernen Bart, der ein Beweis für den blinden Willen der Natur zu sein schien, alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre Sünden oder Verdienste schließlich mit der weißen Farbe der Würde zu bekleiden. Eine blaue Brille trug der Herr Parthagener über seinen schwachen und sonnenscheuen Augen. Sie vertieften nur noch die Stille seines Angesichts und erinnerten an einen dunklen Vorhang über dem Fenster einer hellen und klaren Häuserfront. Die aufgeregten Flüchtlinge faßten zum Alten sofort Vertrauen und ließen ihm einen guten Teil ihrer mitgebrachten Habe.

Die drei Söhne Parthageners hatten dank ihrer weißen Marinemützen und meerblauen Armbinden einen amtlichen und seemännischen Charakter. Sie verteilten unter die Emigranten illustrierte Prospekte, in denen man dunkelgrüne Weiden, gescheckte Kühe, Hütten mit aufsteigendem blauem Rauch, grenzenlose Tabak- und Reisfelder betrachten konnte. Aus den Prospekten wehte ein satter und fetter Frieden. Die Flüchtlinge bekamen Heimweh nach Südamerika, und die Parthageners verkauften Schiffskarten.

Nicht alle Emigranten besaßen die notwendigen Papiere. Also wurden sie bei ihrer Ankunft in den fremden Ländern zurückgewiesen. Sie blieben in Massenbaracken liegen, erlitten eine Desinfizierung nach der anderen und traten endlich eine lange Wanderung durch die Polizeigefängnisse einiger Staaten an. Für jene aber, die zahlen konnten, gab es an der Grenze Legitimationsfabriken. Die Wohlhabenden und Vorsichtigen versorgte ein Mann namens Kapturak mit falschen Dokumenten.

Wer war Kapturak? Ein winziger Mann von grüngrauer Gesichtsfarbe, dürren Knochen, hurtigen Bewegungen, Bader und Winkelschreiber von Beruf, als Schmuggler berühmt und mit den Grenzbehörden vertraut. Sein Warenschmuggel war nur ein Vorwand für seinen Menschenhandel. Die mannigfachen Freiheitsstrafen, die er in verschiedenen Kerkern des Landes verbüßte, waren seine freiwilligen Konzessionen an das Gesetz. Jedes Jahr im Frühling tauchte er an der Grenze auf wie ein Zugvogel. Er kommt aus einem der vielen Gefängnisse im Innern des Landes. Der Schnee schmilzt. Es regnet warm und duftend in den verhängten Nächten. Und die Grenze schläft. Man kann sie lautlos und unsichtbar überschreiten.

In den Monaten Februar, März, April arbeitet er. Im Mai sitzt er mit einem Päckchen unverzollter Ware am hellichten Tag im Zug, täuscht bei der Revision einen Fluchtversuch vor und läßt sich einfangen. Manchmal gestattet er sich einen Urlaub und fährt nach Karlsbad seinen Magen kurieren.

Mit ihm arbeitet die Familie Parthagener. Am Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, bringt er seine Schutzbefohlenen in die Herberge “Zur Kugel am Bein”. Sie erlegen für drei Tage Kost und Quartier im voraus. Hierauf erscheint ein junger Parthagener mit Prospekten.

Von Zeit zu Zeit aber muß jemand von der Agentur eine Nacht vorher über die Grenze, eine sogenannte “Stichprobe” machen. Denn es ereignet sich manchmal, daß Kapturak seine Flüchtlinge über eine andere Stadt, zu anderen Parthageners, in andere Herbergen führt, anderen Filialen in die Arme. Man muß ihn also noch auf russischem Gebiet in der sogenannten “Grenzschenke” überraschen.

Friedrich kam an einem sonnigen Märztag des Jahres 1908 zu den Parthageners. Es tropfte gleichmäßig und fröhlich von den Eiszapfen an der Dachrinne. Der Himmel war hellblau. Der alte Parthagener saß vor der Tür seiner Herberge. Eine dunkelgraue, schmutzige Kruste lag über den großen Schneehaufen zu beiden Seiten der Landstraße. Der Winter fing an zu verwesen.

Friedrich war jung genug, um alle Vorgänge der Natur zu vermerken und in eine Beziehung zu seinen Erlebnissen zu bringen. Er trank das besondere Licht des Tages. Es war stark wie der warme, junge Südwestwind, das Dunkel des schiefen Tors und die silberne Würde des Alten.

“Er kann nächste Woche gleich eine ›Partie‹ übernehmen!” sagte der Alte zu seinen Söhnen, die mit weißen, strahlenden Marinemützen am offenen Fenster standen.

“Treten Sie ein!” sagte er dann zu Friedrich, “und trinken Sie etwas!” Von nun an blieb Friedrich in der Herberge “Zur Kugel am Bein”.

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