Deutscher Novellenschatz, Band 8

Deutscher Novellenschatz, Band 8

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 8 von 24. Enthalten sind die Novellen: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. Riehl, Wilhelm Heinrich: Jörg Muckenbuber. Spindler, Karl: Die Engel-Ehe.

Deutscher Novellenschatz, Band 8

Deutscher Novellenschatz, Band 8.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 8.

ISBN eBook: 9783849661113

ISBN Taschenbuch: 9783849667207

 

Auszug aus dem Text:

Wo der Arlberg steil niedergeht ins Land an der Iller, am Rhein und am Bodensee, liegt der kleine Ort Stuben. Das Posthaus daselbst ist wenig besser als die umher zerstreuten Wohnungen der Bauern, was sein Äußeres anbelangt. In seinem Inneren dagegen hat es eine Stube, die an Traulichkeit schwerlich ihres Gleichen findet. Wohl erhellt durch mehrere Fenster und sauber aufgeputzt mit Schränken und Gerätschaften aller Art, ist sie der Aufbewahrungsort aller Glas- und Porzellanschätze, die das Haus besitzt. Ein paar reinliche, aber altväterische Tische füllen, mit den dazu gehörigen Sesseln und dem breiten Kanapee, den inneren Raum; eine hübsche Hecke von Kanarienvögeln ist an einem der Fenster, Käfige mit andern Vögeln sind an den übrigen zu schauen; an dem getäfelten Plafondgesims laufen grüne Ranken, festgehalten von weißen Bändern, hin und beschatten die Sänger des Waldes. In der Ecke gegen die Straße ist das Bild des Gekreuzigten aufgerichtet, umgeben von Heiligenbildern; an der Decke schwebt die hölzerne Taube, die Versinnlichung des Heiligen Geistes. Die geschnitzten Friese der Schränke sind mit Porzellan- und Tonfiguren besetzt, unter welchen die eines kaiserlichen Soldaten mit der Fahne in der Hand, besonders hervorsticht. Spiegel und Vorhänge, der Kalender an der Wand, die Rechentafel an der Tür, die Essig- und Branntweingefäße auf dem mächtigen Ofen, stimmen vollkommen zu dem Übrigen und malen ein heiteres Bild genügsamen Stilllebens vor dem Beschauer aus. — Auch vor dreißig und noch mehreren Jahren mag dieses behagliche Zimmer gerade so ausgesehen haben wie heute; nur waren die Gäste darinnen schwerlich so friedlich, wie die heutigen. Es war Krieg im Lande. Die Verteidiger des letzteren und die Schwärme des Feindes zogen hin und her, auf und ab. In ihrem Gefolge war bald Sieg, bald Niederlage; aber stets der Mangel, stets die Noth des Volkes, das unter der Geißel der Waffen leiden und bluten musste. — Er hatte eine schlimme Zeit zur Reise gewählt, der alternde Mann, der eines Abends im Sturmwetter mit seinem Weibe und zwei Kindern, von denen das eine sehr krank, in dem Wirtshause ankam. Sein bescheidenes Fuhrwerk vermochte kaum noch von den abgetriebenen Gäulen geschleppt zu werden. Seine Habseligkeiten waren durchnässt, so wie er selbst und die Seinigen. Mit großer Mühe hatte er vor der Raubgier des Feindes seine Tiere und das Gepäcke über den Berg gerettet. Er verlangte ein Nachtlager und Erquickung für seine Familie von den gutmütigen Wirtsleuten. Wenn mein Bub’ nicht krank geworden wäre, ließ er sich vernehmen, es hätte mich Nichts abgehalten, trotz der elenden Witterung noch in der Nacht meine Reise fortzusetzen. — Und als die Wirtin voll Mitleids hinging, nach dem kranken Kinde zu sehen, das auf dem Schoss seiner starrblickenden und stummen Mutter lag, fuhr der Mann fort: Ihr habt wohl seit manchen Jahren keine so betrübte Familie beherbergt, liebe Frau. Lasst Euch sagen: Wir sind im Frieden aus Mähren davon gereist und mussten hier im Lande den Krieg finden! Ist das nicht ein Unglück? Doch würde das nichts ausmachen, denn ich fahre ja meiner Heimat entgegen, und meine Sehnsucht nach ihr ist ungemessen; aber da hat im Salzburgischen der Tod zwei meiner Kinder ins Himmelreich geführt, und das war ein harter Schlag für mich: ein doppelt harter für die Mutter. — Die Genannte erhob die dunkeln, schwermutsvollen Augen wie mit einem bitteren Vorwurf gegen ihren Mann, sagte aber kein Wort und versank wieder in die Betrachtung des von Gichten geschüttelten Knaben. — Der Mann strich sich die ergrauenden Haare verlegen aus der Stirne und sprach zum Wirt, abseits tretend: Ist kein Doktor im Ort? Der kleine Johann kommt mir wunderlich vor, und auch die Frau könnte eine zweckmäßige Hilfe wohl brauchen. Der Wirt verneinte, die Achseln zuckend. In Bludenz sei ein Wundarzt, meinte er. — So lassen wir’s bis dorthin, versetzte der Reisende; mir blutet das Herz, weil der Knab’ so leidet, und weil die Mutter sich schier hinterdenkt; aber ich kann’s in Gottes Namen nicht ändern. Die Pferde wollen kaum mehr fort, und dem Kind wär’ eine weitere Reise ein sicherer Tod. Wäre der Bube nur halb so frisch und flott, wie sein Schwesterchen …. Vreneli, komm her und küsse mich! — Das Mädchen kam lustig herbei, strich des Vaters Wangen und stammelte — es konnte erst unvollkommen plaudern: Hansel wird nicht sterben, Papa! — Behüte, behüte, versicherte der Vater, obschon ihm nicht allzu wohl ums Herz war. Da rief die Mutter mit ausländischer Betonung: Verena, Verena ! komm zum Bruder; spiele mit ihm. Ich will eine Suppe für euch kochen. — Sie ließ den Kranken in den Armen der halberwachsenen Wirtstochter und ging mit hängendem Kopfe nach der Küche, wohin die Hausfrau sie begleitete.

Wie nun der Gatte ihr kopfschüttelnd nachschaute, begann der Wirt voll biederer Teilnahme: Das Unglück hat das gute Weib recht angegriffen. Von Mähren, sagten Sie, lieber Herr? Aber aus Ihrer Sprache zu schließen, sind Sie dort nicht zu Hause. Ich glaube eher einen Nachbar in Ihnen zu erkennen, einen Schweizer. — So ist’s, mein Freund, entgegnete der Fremde, indem ihm die helle Freude aus den Augen blitzte; ein Appenzeller, bei Gott, und ich kann’s nicht erwarten, bis ich mein Vaterland wieder sehe. Das Vaterland, braver Mann, ist auch das Höchste in der Welt, und das Heimweh hätte mich dort innen aufgezehrt, obgleich mir’s gut ging, fürwahr. Ich hab’ im Leben viel erfahren, bin eines Bauern Sohn, hab’s dann im Militär bis zum Hauptmann gebracht, und bin schließlich, nachdem ich invalid geworden, zum Verwalter auf eines Fürsten Gütern an der schlesischen Grenze avanciert. Der Fürst gab mir ein gut Salär, Nebenverdienst fand ich auch und, was das Beste, ein treffliches Weib, von polnischen Eltern zwar, doch in Mähren geboren. Ich hätte als ein glücklicher Vater von vier lieben Kindern mit dem Kaiser selbst nicht getauscht; da kam das Heimweh plötzlich über mich, und es litt mich nicht mehr im fremden Lande. Leider hat mich der Durst nach der Heimat die Halbschied meiner Kinder gekostet. Er wischte sich einige Tränen aus dem Auge. Die Fassung stellte sich jedoch bald wieder ein, dass er ruhig sagen konnte: Nun, wie Hiob sprach: der Herr hat’s gegeben, und so weiter. Wenn ich nur einmal wieder meinen Geburtsort betreten habe, soll Alles gleich besser gehen, und wir haben von hier aus nicht mehr weit; nicht wahr? — Nicht allzu sehr. Seien Sie überzeugt, dass ich Alles tun werde, um Ihnen die Reise zu erleichtern, wenn Sie etwa in Verlegenheit sein sollten. Was bei diesen schlechten Zeiten in meinen geringen Kräften steht… — Nicht doch, nein, wahrlich nicht, guter Freund, rief der Reisende mit Lächeln, indem er seine Weste aufstreifte und darunter eine wohlgefüllte Geldkatze sehen ließ: da ist schon zu leben; da stecken noch Kremnitzer und ungarische Taler die Hülle und Fülle. Auch hat mir der Fürst eine kleine Pension zugesagt. Ich werde daheim einen wohlhäbigen Mann vorstellen. Seid daher bedankt, lieber Freund, und spart Eure Kräfte für die ungebetenen Gäste, die Euch morgen etwa schon über den Hals kommen dürften. Jenseits des Berges wimmelt es allenthalben von feindlichen Soldaten, die den Aufbruch mit Schmerzen erwarten. Ich will jedoch flink davon fahren, ehe sie da sein können. — Sie sind glücklich, seufzte der Wirt voll Sorgen: Sie eilen Ihrem ruhigen Land entgegen, und wir müssen im Drangsal bleiben, wohin uns Gott gesetzt hat. — Glücklich? fragte der Reisende mit einem Anflug von Schmerz: mein appenzellerisches Herz jubelt, aber mein Vaterherz ist bis zum Tode betrübt. Gott geb’s besser. In der Alpenluft soll mein Weib und das mir gebliebene noch einmal so teuer gewordene Kinderpaar wieder aufblühen und gedeihen, so der Himmel will. Das Geschehene ist freilich nicht mehr anders zu machen!

Die fremde Familie genoss ihr frugales Abendbrot und suchte alsdann die stille Kammer. Der Vater küsste das vor Ermattung eingeduselte kranke Kind, und betete: Gott erhalte dich! Gelt, Johann, du bist morgen wieder gesund, du kleiner unartiger Bube? — Der Knabe plauderte halb im Schlafe allerlei unverständliches Zeug. — Lass ihn, Hagenbach, sagte die Mutter, das Kind zudeckend: es wird sein letzter Schlaf auf Erden sein. — Warum nicht gar, Scholastika! Das ist freventlich gesprochen. — Die Frau warf dem Gatten wieder den besonderen unheimlichen Blick zu, der seit dem Tode ihrer Kinder sich bei ihr eingestellt hatte, und erwiderte kurz, aber bitter: Du wirst sehen, wir bringen den Jungen nicht davon; wendete sich gegen die Wand und stellte sich, als ob sie einschliefe. Der Vater, nach einigen Seufzern und einem herzlichen Gebete, entschlief wirklich, müde wie er war vom Kutschiren, von den Mühseligkeiten und Sorgen jeglicher Art. —

Und als der Morgen gekommen und die Pferde angeschirrt waren, und der mit den Zurüstungen zur Abreise fertig gewordene Vater hinaufging, um die Seinigen zum Aufbruch zu mahnen, fand er die Kammer angefüllt von allen Weibsleuten des Hauses. Scholastika war in laute Verzweiflung geraten, denn Johann hatte wieder seine Gichten bekommen, und kein Besänftigungsmittel wollte mehr anschlagen. Vergebens rieten die Weiber Das und Jenes; vergebens versuchte die Mutter, was die Angst ihr eingab, an dem kleinen Kranken. Der Anfall der Krämpfe wurde immer heftiger, des Leidenden Atem immer kürzer, und der Vater hatte ihm kaum einen Kuss auf die blauen Lippen gedrückt, so streckte sich das Kind zum ewigen Schlafe aus und war tot; das dritte, das die Eltern binnen acht Tagen hatten verlieren müssen. — Das Wehklagen der Mutter, und wie sie ihr schwarzes Haar zerraufte und sich die Brust und Stirne zerschlug, ist nicht zu beschreiben. Die entsetzliche Lage der Fremden wurde noch peinlicher durch das Heulen der anwesenden Weiber und durch die Hiobsposten, die von Minute zu Minute vom Berge eintrafen. Die Feinde hatten in der Morgendämmerung die Höhen besetzt, und waren mit Schützen und Landsturm in heftigen Kampf geraten. Man hörte das Schießen, den Lärm des hartnäckigen Gefechts immer näher und näher. Vorübereilende Flüchtlinge weissagten Mord und Brand, alle Schrecknisse des Sieges der vorwärtsdringenden Feinde. Was noch zu bergen war in den armen Hütten, musste jetzt geborgen oder geflüchtet werden. Der Wirt rief sein Gesinde und seine Kinder zusammen; für Alle gab es Arbeit. Bei der kleinen Leiche blieb Niemand zurück als die trostlosen Eltern und das stille, staunende Vreneli. Scholastika glich bald einer Rasenden, bald einer zu Eis erstarrten Person. Hagenbach begriff indessen trotz seines Leidens, dass längeres Verweilen das größte Unheil nach sich ziehen würde. Der stärkere Mann lässt sich nicht vom Elend in dem Maße niederschmettern, dass er vergäße, was der Augenblick gebietet. Komm, liebes Weib, sagte der Hauptmann; die Stunde drängt. Noch können wir dem Gräuel der Plünderung und Misshandlung entrinnen. Komm, wir sind um Geld, Pferde und alle Habe gebracht, wenn wir an diesem Orte die Zeit versäumen. — Geh, geh! hieß die Antwort des Weibes; ich bleibe bei meinem toten Kinde. — Unkluges Geschöpf! Dein eigenes Leben willst du wagen? Und warum? Gott wird diese Reste schützen, sowie er die Seele, die darinnen gewohnt, zu sich genommen. — Sein Zureden war umsonst. Da setzte er schnell entschlossen das kleine Vreneli auf seinen Arm und schleppte die Frau mit Gewalt hinunter, ungeachtet ihres Geschreis und ihrer heftigsten Gegenwehr. Der Wirt begegnete ihnen an des Hauses Schwelle. Helft mir, diese Wütende, deren Vernunft dahin ist, auf den Wagen zu setzen, bat Hagenbach, und der Wirt leistete die verlangte Hilfe. Erst nachdem sich der Schweizer seines Weibes völlig versichert und sein einziges Kind im Wagen geborgen, rief er dem braven Wirt zu, die Zügel und die Peitsche erfassend: Legt meinen kleinen Toten zur Seite, dass die Klauen des Feindes ihn nicht entweihen, und begrabt ihn, sobald der erste Tumult vorüber. Ich will Euch gern erkenntlich sein. Warum nicht gar? entgegnete der Wirt: ich will auch ohne Lohn tun, wie Sie es wünschen. Bin ich doch selbst Vater und weiß, wie Ihnen zu Mute sein muss. Seien Sie versichert, dass ich die Leiche berge und sie im ersten ruhigen Augenblick zur Erde bestatte. Reisen Sie aber jetzt in Gottes Namen, und der Herr stärke Ihre Frau in ihrem schweren Leiden!

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