Die Kinder aus Ohlsens Gang

Die Kinder aus Ohlsens Gang – Gustav Falke

Ein Roman aus Falkes Hamburger Milieu. Er beschreibt das tägliche Leben im Kiez seiner von ihm so sehr geliebten Heimatstadt anhand der Geschicke mehrerer Familien.

Die Kinder aus Ohlsens Gang

Die Kinder aus Ohlsens Gang.

Format: eBook

Die Kinder aus Ohlsens Gang.

ISBN eBook: 9783849655372

 

 

Auszug aus dem Text:

Alle diese verräucherten und verwitterten Häuser, die sich in dem engen Sackgäßchen zusammendrängten, wie gebrechliche Greise in einem Alterswinkel, die sich gegenseitig stützen und wärmen und die alten Köpfe voll von Erinnerungen eines langen Lebens zusammenstecken, auch im Schweigen noch mit dem beredten Ausdruck eines nachdenklichen Gemütes – alle diese altersschwachen, schiefen, halb in sich zusammengesunkenen Häuser waren Heimstätten menschlichen Glückes und menschlichen Elendes, Heimstätten der Hoffnung und Heimstätten der Sorge.

Wenn man von der lichtüberfluteten Hafenstraße mit ihrem nimmerruhenden Lärm der Straßenbahn, der Rollfuhrwerke, des rastlos auf und ab wogenden Welthandels, durch den niederen Torweg in dieses dämmerige Gäßchen hineinsah, erschien es freilich nichts weniger als heimisch und wohnlich. Man sah dann auch seinen schönsten Schmuck nicht, den Kirchturm von St. Michael, der im Hintergrund über die niedrigen Häuschen schlank und schön in den Himmel stieg.

Zu Zeiten konnte der schmale Torweg sogar einen unheimlichen Eindruck machen, wenn der dunkle Abend von hier seinen Ausgang zu nehmen schien, und die einzige Laterne, die ihn erhellte, noch nicht ihren traulichen Schimmer auf die schmutzigen Wände und das schadhafte Pflaster warf. Oder wenn der Wind, der auf dem Strom durch die Schiffstaue pfiff, einen plötzlichen Seitenstoß in diesen dunklen Winkel wagte, daß die Scheiben der alten Laterne erschrocken klirrten. Aber es gab auch Stunden, wo die Sonne die eine Hälfte des engen Gäßchens überleuchtete, daß die alten Baracken aussahen, wie fröhliche Greise, die in behaglicher Sonntagsstimmung eine lustige Geschichte aus ihrer Jugend erzählen. Und wenn gar der Mond, beweglicher als die Sonne, in schönen, stillen Nächten seinen milden Schimmer über das Gäßchen breitete, und St. Michael wie in einem flüssigen Silber dastand – ja, dann hatte es manchmal etwas Feierliches, märchenhaft Heimliches, und die Ratten, die über das spitze Pflaster huschten, konnten aussehen, wie verwunschene Prinzen und Prinzessinnen. Dann träumten die Menschen, die diese alten Häuser bewohnten, in ihren Betten auch wohl von Glanz und Glück. Ihre Seelen, entzauberte Prinzen, spazierten in einem stolzen freien Schritt in ihren königlichen Gärten umher und vergaßen, daß sie am Tage eigentlich nur ein Rattendasein führten, in einem ärmlichen Winkel, umgeben von Reichtum und Glück, wovon sie nur träumen durften.

Ohlsens Gang hieß dieses Gäßchen. Mit großen, schwarzen Buchstaben stand es über dem niederen Torweg. Asmus Andreas Ohlsen war der Schiffshändler rechts neben dem Torweg. Ihm gehörte dieses hohe schmale Haus in der Hafenstraße, dessen altertümlicher Treppengiebel über den breiten Strom hinweg auf die gegenüberliegende Werft von Thoms und Dieckmann sah, und ihm zinsten auch die zwölf kleinen Wohnungen, die sich in dem engen Gang versteckten. Außer diesem Zinsverhältnis gab es noch ein Band, das die kleine dämmerige Welt der Hinterhäuser mit der großen hellen des Vorderhauses verband. Das war Mutter Krautsch. Mutter Krautsch, wie man sie, trotz ihrer Jugend, ihrer breiten Behäbigkeit wegen allgemein nannte. Sie hatte im Vorderhaus den Geschäftekeller inne, hinter dessen immer blitzblankem Fenster sie so appetitliche Dinge wie Grün- und Rotkohl, gelbe Rüben, weiße Teltower und was der Markt gerade brachte, zu einem reizvollen Bilde aufzustapeln wußte. Da stand sie tagsüber mit ihrer großen breiten Figur hinter dem niederen Ladentisch, oder bewegte sich in dem kleinen Raum mit einer Gewandtheit, die man ihrer Fülle nicht zugetraut hätte. Schien die Sonne, stand sie auch wohl, die vollen Arme in die Seite gestemmt, in der Tür oder auf halber Höhe auf der Treppe, die aus ihrem Kellergewölbe ans Licht des Tages führte, und wandte ihr volles, gutmütiges Gesicht dem vorüberfließenden Strom täglicher Arbeit zu. Und selten stand sie so, daß nicht einer oder der andere der Vorüberschreitenden ihr einen Gruß zurief. »Dag, Mudder Krautsch.« »Süh, Krautschen, auch ‘n büschen auskucken?« »Was macht der Mann? Noch immer in der Südsee?« »Ja, wi Schippersfrun sünd man halbe Frun.«

Aber Mutter Krautsch sah nicht aus wie eine halbe Frau, wenn man das Wort so nehmen wollte. Sie brauchte Platz für zwei, wenn sie so dastand, ein Bild der Zufriedenheit und Gesundheit und einer dauerhaften Jugend. Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt. Eine junge Frau. Und sie würde in zehn Jahren noch eine junge Frau sein, sagte Schiffshändler Ohlsen, der sie nicht nur als seine beste Mieterin gern leiden konnte.

Oft, wenn Mutter Krautsch sich einen Augenblick auf der Treppe sonnte, galten ihre Blicke ihrem einzigen Kinde, einem runden, untersetzten, strammen Jungen von sieben Jahren, der auf der Straße, unbekümmert um die Fußgänger, seinen Kreisel trieb oder mit andern Kindern Marmel spielte.

»Anton, daß du mich nich von Haus gehst.«

»Nee, ich geh schon nich, man nich bange.«

»Es gibt n Jackvoll.«

Nach solchen kurzen, aber meist lauten und heftigen Zwiegesprächen verschwand die Mutter wieder in ihrem Keller, und Anton marmelte oder kreiselte gleichgültig weiter, als wär n Jackvoll etwas, dem nicht weiter Gewicht beizulegen ist.

Heute, es war ein Mittwoch in der ersten Hälfte des Juli, ein heißer, trockner, staubiger Tag, stand Mutter Krautsch nicht hinter dem Ladentisch und sah auch nicht mit eingestemmten Armen auf die glühende Straße. Heute stand da Lene Lerch, ein halbwüchsiges, blasses Kind von vierzehn Jahren, einen großen, grauen Wollstrumpf in der Hand, das Knäuel unter die Achselhöhle geklemmt, und sah mit ihren wasserblauen Augen starr auf den blauen Schornsteinring eines Schleppers, der gerade vor Schiffshändler Ohlsens Haus seinen Liegeplatz hatte.

Wo aber war Mutter Krautsch? Mutter Krautsch hatte heute ein schwarzes Kleid angelegt und war in diesem feierlichen Staat nach dem letzten kleinen Haus an der rechten Seite von Ohlsens Gang gegangen. Ihre großen, gutmütigen, braunen Augen sahen verweint aus, und wer grade in der Tür oder am Fenster stand, sah ihr mit einem mitleidigen Kopfschütteln nach. Ein paar alte Frauen hatten ihr sogar die Hand gedrückt und sich ihr dann angeschlossen.

»Das ist der Krautschen ihr schwerster Tag. Man gut, daß ihr Mann schon wieder abgereist ist,« sagte die alte Cyriaks, die die weißen Zuggardinen von ihrem Fenster zurückgezogen hatte und nun mit ihrem Vogelgesicht hinter den Scheiben lauerte.

Inzwischen fuhr vorne ein schlichter, schmuckloser Leichenwagen vor. Die vier Träger – viel Umstände waren hier nicht nötig – saßen gleich darin und ließen die Beine pendeln. Grade vor Lene Lerch hielt der Wagen und verdeckte ihr den schönen blauen Ring um den Schornstein des Schleppers. Die mageren Arme erwachten aus ihrer Regungslosigkeit, die starren, wasserblauen Augen bekamen einen lebhaften, fast triumphierenden Glanz, und der ganze hagere Körper geriet in eine zappelnde Beweglichkeit. Sie lief die paar Stufen vollends hinauf, wobei ihr das Knäuel entfiel. Es rollte mit einem langen Faden bis unter den Wagen. Sie sprang ihm hastig nach und kroch halb unter das unheimliche Fuhrwerk, wo sie es wieder erhaschte. Sie ließ sich keine Zeit, den Faden wieder aufzuwickeln, und raffte ihn mit ein paar schnellen Griffen zusammen. Sie sah um die Ecke in den Torweg hinein, lief wieder zurück, in den Keller hinunter, kam wieder nach oben und beteiligte sich mit wichtiger Miene an der lebhaften Unterhaltung der jugendlichen Gaffer, die plötzlich wie hergeweht dastanden. Die vier Leichenträger in ihren abgetragenen schwarzen Röcken mit sammetnen Ärmelaufschlägen verschwanden im Torweg, während der Kutscher an den schwarzen Pferdedecken herumzupfte, die schwarzen Federbüsche zwischen den Ohren der Tiere ein wenig grader rückte und sich sonst an dem Wagen zu schaffen machte.

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