Die Memoiren der Glückel von Hameln

Die Memoiren der Glückel von Hameln – Bertha Pappenheim

Die Glückel von Hameln, auch bekannt als Glikl bas Judah Leib, war eine deutsche orthodoxe jüdische Geschäftsfrau und Tagebuchschreiberin, die 1724 verstarb. Ihre Memoiren, die sie über einen Zeitraum von dreißig Jahren in ihrer Muttersprache Westjiddisch verfasste, waren ursprünglich als ethisches Testament für ihre Kinder und zukünftigen Nachkommen gedacht. Glückels Tagebücher sind die einzigen bekannten von einer Frau verfassten vormodernen jiddischen Memoiren. Sie bieten ein intimes Porträt des deutsch-jüdischen Lebens zwischen dem späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert und sind eine wichtige Quelle für Historiker, Philologen, Soziologen, Literaturkritiker und Sprachwissenschaftler .

Die Memoiren der Glückel von Hameln

Die Memoiren der Glückel von Hameln.

Format: Paperback, eBook

Die Memoiren der Glückel von Hameln.

ISBN: 9783849665517 (Paperback)
ISBN: 9783849662516 (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

Erstes Buch.

Im Jahre 1691 beginne ich dieses zu schreiben, aus vielen Sorgen und Nöten und Herzeleid, wie weiter folgen wird. Gott aber erfreue uns so lange Zeit, als er uns plagte, und schicke unseren Messias und Erlöser bald. Amen.

Alles, was Gott – gelobt sei er – erschaffen hat, hat er nur zu seiner Ehre erschaffen und »die Welt wird mit Barmherzigkeit erbaut werden«. Wir wissen, daß Gott – gelobt sei er und gelobt sein Name – alles erschaffen und getan aus eitel Gnade und Barmherzigkeit, denn der Herr – gelobt sei er – hat keines seiner Geschöpfe nötig. Aber da der Gepriesene vielerlei erschaffen hat, ist alles zu seiner großen Ehre, und er hat alles mit Gnade und Barmherzigkeit erschaffen, daß es uns sündigen Menschen alles zu nutzen kommt.

Denn alles, was erschaffen ist, kommt uns Menschen zu nutzen, auch das, was wir Menschen schon nicht begreifen oder betrachten können.

Aber es ist so, wie König David gefragt hat, wozu ein Narr und eine Wespe und eine Spinne ist erschaffen worden, denn ihm hat gedeucht, wem zu nutzen kommen die dreierlei auf die Welt. Aber er ist endlich gewahr worden, daß alle dreierlei ihm selber sind zu nutz gekommen und ihm, nächst Gott, sein Leben erhalten haben, wie es im Buche der Könige beschrieben ist. Wer es wissen will, kann es in den 24 Büchern nachlesen. Nun ist auch bekannt, wieviel Trübsal, Elend und Widerwärtigkeiten wir sündige Menschen in dieser vergänglichen Welt haben.

Zudem finden wir, wieviel fromme Leute in der Welt sind, denen es gar übel ergeht und die im Diesseits gar elendiglich leben. Hingegen findet man wiederum viele Böse, die in großem Wohlstand tagen und in Reichtum leben. Es geht ihren Kindern gar wohl, dagegen es den Gerechten und Gottesfürchtigen nebbich und ihren Kindern gar übel ergeht. Nun wollten wir uns Gedanken machen, wie kann das sein, Gott der Allmächtige ist ja ein gerechter Richter. Ich hab mir aber gedacht, auch das ist eitel, denn die Werke des Allmächtigen – gelobt sei er – sind unmöglich auszudenken und zu ergründen. Unser Gesetzgeber Moses hat es gerne wollen und hat gesagt: »Mache mir Deine Wege bekannt«, ist aber nicht dazugekommen. Darum sollen wir nicht darüber grübeln. Das ist auf alle Fälle gewiß, daß diese Welt zu keinem anderen Zweck erschaffen worden ist, als wegen jener Welt. Und darum hat uns Gott in seiner großen Gnade in diese Welt, die nichts und vergänglich ist, gestellt, damit wenn wir wohl tun und unserem großen Herrn wohl dienen, dann bringt er uns unbedingt aus der beschwerlich mühseligen Welt in eitel Ruhe und Sänftigkeit.

Es besteht all unser Übel- und Wohlleben in dieser Welt nur für eine kleine Zeit. Des Menschen Leben ist gesetzt auf siebzig Jahre, wie bald sind die hin. Wieviel hunderttausend Menschen sind, die lange auch das nicht erreichen; aber das Jenseits ist immer und ewig. »Wie groß ist die Güte, die du denen bewahrst, die dich fürchten.« Wohl dem, dem Gott Lohn gibt im Jenseits, im ewigen und unvergänglichen. Denn alle Bedrängnis, Sorgen und Unheil, die der Mensch auf dieser Welt hat, sind nur eine Zeitlang.

Wenn der Mensch all seine Nöten, Leid und Widerwärtigkeiten ausgestanden hat und seine Stunde ist abgelaufen, daß er sterben soll, alsdann stirbt er mit denen allen zugleich, welche ihre Tage in großer Wollust gelebt haben. Jedoch jener Arme, der nebbich seine Tage in Nöten und Leid zugebracht hat, stirbt sicher ruhig, denn: »Auf diesen Tag hab ich gewartet.« Er ist nebbich alle Tage gestorben und hat allzeit seine Zuversicht in Gott gehabt, daß es ihm im Jenseits besser gehen werde, und hat immer behauptet, er habe eine Schuld bei Gott – denn all seine Freude und Trost auf dieser Welt ist die Hoffnung auf das Jenseits. »Wann werde ich kommen und das Antlitz Gottes sehen?« Daraus schließt mein kleiner Verstand, daß dem Armen das Sterben nicht schwer fällt und er es gar mit Ungeduld erwartet.

Ganz anders der reiche Bösewicht, der all seine Wollust in Gut und Geld genommen hat; der sieht nichts anderes vor sich, als lauter Gutes. Es geht ihm und seinen Kindern ganz wohl, es hindert ihn nichts. Aber wenn dem seine Zeit kommt, daß er soll von dieser Welt gehen, und er weiß, was für Lust und Gutes und Freude er in dieser Welt gehabt hat – besonders wenn er sich in seinen letzten Betrachtungen befindet und er bedenkt, welches Gute Gott ihm in dieser Welt gegeben hat – und wenn er bedenkt, daß er dem Höchsten nicht recht gedient und sein Amt nicht richtig versehen hat, gewiß, wenn er daran denkt, daß er von all seinem Reichtum weggehen und von dieser Welt scheiden und in die ewige Welt eingehen muß, daß er muß sein Amt niederlegen und Rechnung geben, wie er sich im Diesseits verhalten hat – dann wird ihm die Reise viel schwerer und saurer ankommen als nebbich den Armen.

Wozu soll ich noch dabei verweilen, meine lieben Kinder. Ich habe dieses angefangen zu schreiben mit Gottes Hilfe nach dem Tode eures frommen Vaters, und es hat mir wohl getan, wenn mir die melancholischen Gedanken gekommen sind, aus schweren Sorgen, als wir waren wie eine Herde ohne Hirt und wir unseren getreuen Hirten verloren haben. Ich habe manche Nacht schlaflos zugebracht und ich habe besorgt, daß ich nicht, Gott bewahre, in melancholische Gedanken sollte kommen. Darum bin ich oft nachts aufgestanden und habe die schlaflosen Stunden damit zugebracht.

Meine lieben Kinder, ich gehe nicht darauf aus, euch ein Moralbuch zu machen und zu schreiben, ich bin nicht kapabel dazu, dazu sind unsere Weisen da, die viele Bücher darüber geschrieben haben. Wir haben unsere heilige Thora, damit wir alles daraus ersehen und begreifen können, was uns nützlich ist und was uns vom Diesseits in das Leben des Jenseits bringt. Und an unserer lieben Thora können wir uns festhalten.

Zum Exempel: Es ist ein Schiff mit Leuten auf dem Meer gefahren. Einer ist auf den Bord des Schiffes gegangen und hat sich so sehr in das Meer gebückt, daß er ins Wasser gefallen ist und wäre ersoffen. Der Schiffer hat das gesehen und ihm mehrere Stricke zugeworfen und ihn aufgefordert, er solle sich an den Stricken festhalten, dann wird er nicht ersaufen. Also sind wir sündige Menschen in dieser Welt, als wenn wir auf dem Meer schwämmen. Wir wissen uns keinen Augenblick sicher, daß wir nicht ersaufen. Aber Gott der Allmächtige hat uns in Gnade und Barmherzigkeit erschaffen, daß wir ganz ohne Sünde sein sollten. Aber durch die Sünde des Adam ist die Versuchung leider Gottes in uns mächtig geworden. Nun hat Gott – gelobt sei er – viele Heere von Engeln geschaffen. Alle tun den Willen Gottes – gelobt sei er – und folglich ist kein böser Trieb in ihnen und alles Gute tun sie ohne Geheiß.

Noch hat Gott Haustiere, wilde Tiere, Vögel und sonstige Tiere erschaffen, die haben eitel bösen Trieb und wissen von nichts Gutem. Dann hat Gott – gelobt sei er – uns Menschen in seinem Ebenbild erschaffen und wir haben Verstand wie die Engel.

Aber uns Menschen ist die Wahl gegeben, daß wir tun können, was wir wollen: Böses – Gott bewahre – oder Gutes. Aber der große, gnädige, gütige Gott mit seiner großen Barmherzigkeit hat uns Stricke ausgeworfen, woran wir uns festhalten sollen. Das ist unsere heilige Thora, die uns vor allem warnt, daß wir nicht versaufen, und uns sagt, wie sehr wir Macht haben, zu tun, was wir wollen. Aber in unserer lieben Thora steht auch, daß wir sollen fromm sein und alles Gute tun, wie die Engel tun. Und in der Thora steht geschrieben von Lohn und Strafe für gute und böse Taten. »Du aber wähle das Leben.« Gott bewahre, daß wir unserem Schöpfer nicht sollten dienen und sollten leben nach unserer bösen Herzenslust wie das unvernünftige Vieh, das keinen Lohn und keine Strafe weder im Diesseits noch im Jenseits hat. Wenn wir, Gott bewahre, so täten, so wären wir viel ärger als das Vieh. Denn das Vieh fällt nieder und stirbt und hat keine Rechenschaft zu geben, aber der arme Mensch, sobald er stirbt, muß er Rechenschaft geben vor seinem Schöpfer. Wohl uns Menschen, so wir unsere Rechenschaft hübsch fertig machen, so lange wir leben.

Indem wir wohl wissen, daß wir sündig sind und daß der böse Trieb in uns herrscht, »denn kein Gerechter ist im Lande, der das Gute tut und nicht sündigt«, also soll sich der Mensch einrichten, sobald er eine kleine oder große Sünde getan, zu bereuen und Buße zu tun, wie unsere Sittenlehrer geschrieben haben, damit die Sünde aus dem Buche gelöscht werde und dafür sogar eine Guttat angeschrieben werde.

Aber wenn der sündige Mensch so hinlebt wie das Vieh und nichts Gutes, sogar alles Böse tut, und in seinen Sünden also hinstirbt, o wie wird er auf jener Welt sein Buch mit eitel Schulden – die seine Sünden sind – finden gegenüber dem Blatte, wo billigerweise sein Guthaben – Buße und gute Taten – stehen sollte, das leer ist. Also bleibst du, sündiger Mensch, Schuldner, und womit willst du deinen Erschaffer bezahlen, der dich so treulich hat warnen lassen?

Nun, was soll ich alle Nöten und Pein beschreiben, die der sündige Mensch muß ausstehen und mit was für Angst und bitterer Not und Qual, und wie lange er an seinen Schulden im Jenseits zu bezahlen hat. Ist doch Gott – gelobt sei er – so erbarmend, daß er von ihm seine Schuld auf dieser Welt abnimmt, wenn sie der Mensch einzeln bezahlt, indem er Buße, Gebet und Almosen und gute Taten hübsch einzelweise tut. So kann er seine Schulden auf dieser Welt bezahlen. Denn Gott begehrt nicht, daß man sich mit der Buße ums Leben bringen soll. Nein, alles hübsch wie unsere Weisen geschrieben und in unserer Thora steht, und wenn der Mensch dann solches tut, so macht er sein Buch rein auf dieser Welt und hat keine verworrene Rechnung und kann alsdann mit Freuden zu seinem Erschaffer kommen. Denn der große Gott ist barmherzig. Was ist denn sonst Gott daran gelegen, ob der Mensch gut oder, Gott behüte, böse ist, »nur aus Gerechtigkeit und Barmherzigkeit hat er es uns getan, wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt«. Wir sind seine Kinder, Gott hat Mitleid mit uns, wenn wir nur selber wollen. Wir bitten »erbarme dich unser, wie ein Vater seiner Kinder«.

Wehe, wenn sich Gott nicht sollte unser erbarmen, wie Eltern über Kinder. Ein Mensch, der ein böses Kind hat, tut an ihm und hilft ihm zweimal und dreimal, endlich wird er müd und verstößt sein böses Kind und läßt es geh’n, wenn er auch wissen muß, daß es sich sollt verrecken.

Aber wir armen Kinder, wir sündigen gegen unseren himmlischen Vater allezeit, alle Stunde, alle Augenblicke; aber der große, gütige, himmlische Vater läßt uns doch durch seine große Barmherzigkeit wissen, wann wir schon sehr mit Sünden beschmutzt sind. Und wenn wir ihn mit ganzem Herzen anrufen und für unsere Sünden Buße tun, nimmt er uns viel eher wieder an, als ein menschlicher Vater sein böses Kind.

 

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