Die Winterpostille

Die Winterpostille – Wilhelm Löhe

Der evangelisch-lutherische Theologe Wilhelm Löhe veröffentlichte im Jahre 1858 seine aus zwei Teilen bestehende Epistelpostille mit Predigten für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Die Winterpostille umfasst dabei Predigten vom Beginn des Advents bis Pfingsten, nebst einigen kurzen Lektionen dazu.

Die Winterpostille

Die Winterpostille.

Format: Paperback, eBook

Die Winterpostille.

ISBN: 9783849666170 (Paperback)
ISBN: 9783849661731  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

Am ersten Sonntage des Advents.

Röm. 13, 11–14.

11. Und weil wir solches wißen, nämlich die Zeit, daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wirs glaubten; 12. Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbei kommen: so laßet uns ablegen die Werk der Finsternis, und anlegen die Waffen des Lichts. 13. Laßet uns ehrbarlich wandeln, als am Tage, nicht in Freßen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid: 14. Sondern ziehet an den Herrn Jesum Christ, und wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde.

 Mancherlei Jahre hatte man früher, meine lieben Brüder, mancherlei Jahre haben wir auch jetzt noch. Die Juden hatten und kannten von Alters her ein gemeines Jahr, welches im Herbste den Anfang nahm; sie hatten dann aber auch seit dem Auszug aus Aegyptenland ein heiliges Jahr, welches im Frühling begann. Wir haben ein gemeines Jahr, nach dem wir alle Dinge des gewöhnlichen Lebens bemeßen: es beginnt, wie wir Alle wißen, am 1. Januar; für die Geschäfte unsres Staates gibt es gleichfalls ein besondres Jahr, welches vom 1. Oktober ausgeht; und die christliche Kirche hat für ihre gottesdienstlichen Geschäfte und Uebungen, für ihr gesammtes geistliches Leben auch ihr besonderes Jahr, welches vier Sonntage vor Weihnachten, also je nachdem dies hohe Fest auf einen Wochentag fällt, am Sonntag vor oder nach dem Gedächtnistage des heil. Apostels Andreas den Anfang nimmt. So haben wir mancherlei Jahre und leben unsre Zeit nach Abschnitten dahin. Man könnte wol sagen, es bedürfe der Abschnitte nicht, zumal, wenn sie willkürlich gemacht werden, und der Mensch werde mit dem Leben ebensowol fertig, wenn er in den Tag hinein lebe und keines Abschnitts achte; allein das könnte man doch nicht anders, als eine rohe Ansicht von unsrem Leben nennen. Es ist ein tiefes Bedürfnis der Seele, das Leben nicht als eine abschnittlose Reihe des Daseins anzusehen, sondern von einem Abschnitt zu dem andern zu leben, von einem auf den andern rückwärts und vorwärts zu schauen und zu rechnen, und ob wirs versuchen wollten, wir würden es bald für unmöglich und unerträglich erachten, unsre inneren und äußeren, zeitlichen und ewigen Geschäfte ohne Rücksicht auf das Maß unsrer Zeit, auf Tage und Wochen und Monden und Jahre zu vollbringen. Wir bedürfen den Wechsel der Zeit, im Wechsel werden und reifen wir für Zeit und Ewigkeit, und selbst unsre Ewigkeit wird nichts andres sein, als ein ungetrübter, freudenreicher Wechsel einer unendlichen Zeit. Das liegt schon in der Schöpfung: der Herr schuf die Tage und Alles nach Tagen, Er selbst stiftete an Seinem ersten Sabbath die heilige siebentägige Woche; Er setzte Sonne, Mond und Sterne an den Himmel, zu geben Zeiten und Zeichen und Tage und Monden und Jahre, und es kann daher niemand die Abschnitte unsrer Zeit verachten, ohne die Schöpfung der Zeit zu verachten, und den allerheiligsten Schöpfer zu beleidigen. Wolan denn, freuen wir uns eines jeden Tages, einer jeden Woche, jedes Monats, jedes Jahres und treten wir auch heute mit bedachtsamer ernster hoffnungsvoller Freude in das Kirchenjahr ein, dessen Ankunft wir seit dem gestrigen Abend begrüßen. Es beginnt ein neues Jahr der Feier und des Andenkens der großen Thaten Gottes in Christo Jesu, ein neues Jahr der Lektionen,der Predigten, der Gebete, der Gesänge, der heiligen Uebungen, ein neues Jahr der Gnade und des Erbarmens, der Kräfte des gütigen Wortes Gottes und der zukünftigen Welt, und wer weise ist, der beachtet’s. Die Jahre kommen, aber sie gehen auch, es ist, als flögen sie davon, und eines ist das letzte hier, das erste dort, und bringt uns die große „Veränderung“, von welcher Hiob spricht. „Lehr’ uns bedenken, Herr, daß wir sterben müßen, daß wir davon müßen, laß uns weise werden, unsre Zeit auskaufen und sonderlich dies Jahr.“ So laßt uns beten und, Brüder, wenn unsre vergangenen Kirchenjahre uns den Segen nicht nachgelaßen haben, den sie konnten, wenn wir mit einer geringen Ernte unsrer vergangenen Jahre an der Schwelle dieses Jahres stehen, so werde es jetzt endlich einmal Ernst mit dem Kirchenjahr und der Benützung der reichen Güter, die es in sich hält und bringt. Zwanzig Jahre hab’ ich euch gerufen, eingeladen, vermahnt, gebeten, genöthigt, reich zu werden von den Gütern des Hauses Gottes, die ich unter euch feil habe und ohne Kosten biete; wie wenn ich nichts zu bieten hätte, wie wenn ich ein Bettler wäre, bin ich mit dem Reichtum Jesu Christi vor euren Thüren pochend und rufend gestanden. Ich will nicht sagen, wie ihr den Reichtum Jesu Christi an- und aufgenommen, nicht strafen, nicht schelten, nein, aber ernstlich und dringlich, mächtig, wenn ich könnte unbeweglich, möcht ich euch zurufen heute und immer wieder im Lauf des Jahres, das nun anhebt: Jetzt benützet die Zeit für eure Ewigkeit.

 Mit dieser Ermahnung treffe ich hoffentlich den Sinn der Kirche, welcher sich in der Wahl der heutigen epistolischen Lektion ausspricht, denn diese ganze Lektion handelt von nichts anderem als von der Beachtung der Zeit und ihrer Benützung.

Ich will mich daher mit euch in diesen Text vertiefen und euch sagen zuerst, wie ihr nach den Worten des heiligen Apostels die Zeit beachten sollet, in der ihr lebet, dann zweitens, wie ihr sie benützen sollet, und am Ende drittens will ich einen Punkt absonderlich hervorheben, der mir hart auf meiner Seele liegt, die Trägheit nämlich, welche den Menschen so schwer dahin kommen läßt, zu beachten und zu benützen seine edle Zeit.

I.

Mit dem 11. Verse des 13. Kapitels an die Römer beginnt unser Text. Zehen Verse gehen voran, welche, sowie das 12. Capitel des Briefes von einzelnen Ermahnungen des Apostels überfließen, Ermahnungen der eingreifendsten Art, samt und sonders aber auf die christliche Lebensgerechtigkeit gerichtet. Unser Text bildet den Schluß des Capitels und gibt allen den einzelnen Ermahnungen großen Nachdruck dadurch, daß er die Zeit hervorhebt, oder den Zeitpunkt, in welchem sie geschehen. „Weil wir solches wißen, nämlich die Zeit,“ übersetzt Martin Luther. Enger anschließend ans Wort des Apostels heißt es: „Und dieses, – dies alles, wozu ich euch ermahnt habe, thut, weil ihr den Zeitpunkt kennet und wißet.“ O es liegt ein starker Nachdruck für die Verpflichtungen, die wir haben, für die Ermahnungen, die man uns zu denselben gibt, in der Berücksichtigung des Zeitpunkts, da sie geschehen. Es ist ganz etwas anderes, wenn ich zur Vollführung meiner Pflichten noch eine lange weite Zukunft vor mir sehe, und ganz etwas anderes, wenn die Zeit zusammengeht, und die Sanduhr verrinnt und die Aufgabe gelöst sein soll und die Rechenschaft vor der Thüre steht! Ein jeder von euch hat das in einzelnen Fällen schon an sich selbst erfahren, will ich hoffen, und keiner wird sein, auf welchen nicht dann und wann die Rücksicht auf die flüchtige Stunde gehörigen Eindruck gemacht hat. Und das soll auch sein, das liegt in der Absicht Gottes und in dem Wort der Apostel: die Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre, die da kommen und gehen, sollen und wollen beachtet sein. – Was nun den Text anlangt, den wir gerade vor uns haben, so erinnert der Apostel nicht bloß an den Zeitpunkt, in welchem er schreibt, sondern er beschreibt ihn auch näher. „Die Nacht ist vergangen,“ sagt er, „der Tag aber herbeikommen.“ Dem Wortlaut nach eine sehr bestimmte Rede. Es ist, wie wenn ein Mann des Morgens die Augen öffnet, und zum Fenster hinaus sieht, dort geht am Walde westlich der fahle Mond mit der Nacht unter, und im Osten erscheint die goldene Sonne; die Nacht ist vorüber, der Tag ist da, Morgen ist’s, die Morgenlüfte wehen. Aber das alles ist in unsrem Texte nur Gleichnis: was ist denn die Nacht, die vergangen ist, und der kommende Tag und der vorhandene Morgen? Unterder Nacht können wir nicht schlechthin das alte Testament verstehen; denn wenn man es auch eine Nacht nennen könnte, so wäre es doch keine tadelnswerthe Nacht. Der Apostel aber redet von einer tadelnswerthen Nacht; nicht von einer Nacht, die Gott gemacht hat, wie das alte Testament, sondern von einer Nacht, wie sie die Menschen gemacht und unterhalb der lichten, hehren Gestirne ausgespannt haben, wie ein finsteres greuliches Gezelt, eine böse Hütte Kedar. Er redet ja auch bald von Werken der Finsternis, von Werken der Nacht, verwirft und verdammt sie, da kann die Nacht kein göttliches Geschöpf bedeuten, nicht die ehrliche Pracht des Königreichs Gottes im alten Testamente. Vom alten Testamente heißt es: „Auch die Finsternis ist Licht vor Dir, die Nacht leuchtet, wie der Tag.“ Dagegen die Nacht, von der St. Paulus spricht, ist grauenvoll, ein böses Menschenwerk, vollbracht unter Einfluß und Führung der Dämonen, ein teufelisch-menschliches Werk, das böse Werk von Anfang her, das Heidentum, die Abgötterei, ihre Blindheit, ihr finstrer Sinn, ihre Bosheit, ihre sittliche Versunkenheit, ihre Oede und Leere der Herzen, ihr unaussprechlicher, großer, weher Jammer. Das ist die Nacht, von der St. Paulus spricht: „Die Nacht ist vorgeschritten.“ Und der Tag? Der Tag ist das Gegenteil. Er ist das volle, helle, liebe, lichte Reich des Königs Christus, in dem es keine Abgötterei, keine Blindheit des Geistes, keine sittliche Versunkenheit, keinen Jammer und kein Unglück mehr gibt, wo die Erkenntnis Gottes das Land bedeckt, wie die Waßer den Meeresgrund, guter Wille die Menschheit führt, wie selige Winde, Fried und Freude die Herzen erfüllt, wie Frühlingswonne. Ha, wie mein Geist die Flügel regt, wenn ich des Tages gedenke, und seines wundervollen seligen Lebens! Ha, wie man fröhlich ist, wenn man die Fenster öffnen und rufen kann: Der Tag ist nahe gekommen! Aber ist man denn nicht am vollen Tage, meint der Apostel nicht, daß der Tag des lieben lichten Reiches schon zu der Zeit da gewesen sei, in welcher er diese Epistel schrieb? Nein, meine Brüder, das, was er den Tag heißt, ist der volle Mittag des Reiches Christi. Es ist dasselbe, was er in den Worten unseres Textes sagt: „Das Heil ist jetzt näher gekommen, als da wir gläubig wurden.“ Dies Heil und der Tag, der mit ihm gleichbedeutend ist, können nicht die Zeit bedeuten, in welcher der Apostel lebte; sonst könnte der Apostel nicht sagen: „Der Tag ist herbei gekommen, das Heil ist näher.“ Der Tag und das Heil sind der vollkommene Gegensatz der Nacht und des Heidentums, sind das vollkommne Reich des Herrn, das erscheinen wird erst dann, wenn der größte Triumph des Satans, das vollendete Heidentum der antichristlichen Zeit in den Abgrund gestürzt sein wird durch den, der da kommt, dessen Advent wir feiern, dem Seine Braut so sehnlich Hosianna singt und: „Komm bald, Herr Jesu.“ Wenn der Herr wird sitzen auf Seines Vaters David Thron, wenn die Zeit des Reiches David und Israel da sein wird, von welcher Er am Auffahrtstage zu den Aposteln spricht: „Es gebührt euch nicht zu wißen Zeit oder Stunde, welche der Vater Seiner Macht vorbehalten hat“: dann ist’s Tag, ein siegender mächtiger Tag, gegen welchen auch der letzte Kampf Gog’s und Magog’s nicht gelingen und nicht mehr siegen wird die alte Nacht. – Wenn nun aber das die richtige Deutung ist von Nacht und Tag, was ist dann die Zeit, in der St. Paulus schreibt, und die er beachten lehrt? Der Morgen ist’s, lieben Brüder, wo Tag und Nacht sich scheiden, die Stunde, wo man Ursach hat vom Schlafe aufzustehen. Die apostolische Zeit, das ist der frühe Morgen, der dem Tag vorangeht und der beachtet und geehrt sein will durch wache Sinnen. Und unser Zeitpunkt, unsre Zeit, das ist der späte Morgen, an dem sich wache Sinnen um so mehr geziemen. Warum wache Sinnen? Die Nacht ist schier hin, der Tag rückt heran. Warum ziemen uns die wachen Sinnen mehr? Weil der große Tag Christi und das Heil, das unter Seinen Flügeln aufgeht, uns um so viel näher ist, denn dem Apostel, als mehr Jahre und Tage hingegangen sind, seit jene ersten Väter entschliefen. Advent ist’s also, Morgen und Advent ist eins: die Zukunft Christi ist näher, als zur apostolischen Zeit, später Morgen ist es. „Auf, ermuntert eure Sinnen, denn es rinnt die Nacht von hinnen,“ so singen die Wächter nach 1800 Jahren. Laut singen sie durch die Straßen der Gemeine, dazu krähen die Hähne und das Licht wird stark, das von dem kommenden Christus weißagt. Gebt Acht auf die Zeit, in der ihr lebet! Der Herr ist nahe, und wenn der Apostel den Römern zuruft: „Schon ist’s Zeit und Stunde vom Schlafe aufzustehen,“ denn so sagt er; so mußich Wächter auf der Zinne in meiner Zeit so ernst den Morgen verkünden, daß ich sage: Schon ist bald nicht mehr Zeit, vom Schlafe aufzustehen! Höchste Zeit ist’s, wer erwachen will! Bald geht der Morgennebel auf, der die Nacht noch einmal will bringen, der Nebel des Antichristus; aber die Sonne steigt, der Mittag kommt, es geht mit der Welt zur Vollendung! Ernste Zeit, ernste Jahre, alle Jahre ernsterer Advent, – ernste heilige, bedenkliche Adventzeit auch jetzt, meine Brüder, da wir dies Kirchenjahr, dies heilige Vorbereitungsjahr auf Christi Wiederkunft beginnen! Das beachtet und wer Ohren hat zu hören, der höre.

Dieser Beitrag wurde unter Religionen der Welt veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.