Erzählungen

Erzählungen – Karl Emil Franzos

Dieser Sammelband beinhaltet Erzählungen und Novellen des Schriftstellers, darunter “Der Aufstand von Wolowce”, “Gouvernanten und Gespielen”, “Die ‘Gezwungenen’ “, “Der lateinische Kanonier”, “Jancu, der Richter”, “Der Bart des Abraham” u.a.

Erzählungen

Erzählungen.

Format: eBook

Erzählungen.

ISBN eBook: 9783849655433.

 

 

Auszug aus “Der Aufstand von Wolowce”:

Über die sonnige Heide ging ein Summen, leise und unablässig, als schliefe sie und das wäre ihres Atems Ton. Ich lauschte darauf, wie ich so langsam im Sonnenbrande dahinschritt, und lauschte und konnte nicht ergründen, woher das leise Tönen rühre. Ähnlich hört sich’s, wenn urplötzlich – wer weiß, wovon? – ein Windhauch wach wird auf der Heide und im Wacholder wühlt. Aber diesmal standen die Lüfte still über der erhitzten Erde, und droben am Himmel waren die weißen Wölkchen wie angenagelt, und dennoch schwamm jenes seltsame Summen in den lauen Wellen des Äthers. Gezirpe von Grillen konnte es auch nicht sein; das klingt schrill und aus nächster Nähe; jenes Tönen aber zitterte sanft, halb verweht in mein Ohr. Einmal erlosch es ganz, und es war unsägliche Einsamkeit um mich; kein Ton und keine Bewegung, so weit die ungeheure Glocke des Himmels auf der Ebene stand. Dann wachte es wieder auf; zuerst von einer Richtung her, bis sich mählich wieder das Netz der Töne über die ganze Heide spann. War das Musik, eine Fiedel oder Flöte, aber fern, sehr fern? War’s vielleicht Jacek der Spielmann? Der irre Greis hat sich ein Plätzlein gesucht, wo das Gesträuch dicht zusammensteht, und seine flickige Jacke darüber gebreitet, und nun spielt er im Schatten leise auf seiner Fiedel, wild, süß, wirr, wie der Vogel sein Lied pfeift. Heut wär’s ja nicht zum ersten Male; wie oft hab’ ich ihn so getroffen, wenn ich aus der Klosterschule fort und in die Heide lief, immer tiefer hinein, den Faltern nach oder den Wolkenschatten. Ja, der Alte wird es sein, vielleicht wieder drüben beim “schwarzen Kreuz”, da hab’ ich ihn an jenem Sonntag zuletzt getroffen …

Und rascher begann ich zu gehen, und immer rascher und – blieb jählings stehen. Ein lautes Lachen kam mich an, und dennoch brannten leise meine Lider. Ich Tor, ich träumender Tor! Fünfzehn Jahre waren’s seit jenem Sonntag, und der alte Jacek war längst tot und ich kein wilder Knabe mehr, sondern ein Mann, der sich in aller Herren Ländern müde gewandert hatte und wieder einmal gekommen war, die Heimat zu grüßen. Fünfzehn Jahre! Es ist eine lange Frist, und vieles kann da sterben, um uns und im eigenen Herzen. Und vieles wandelt sich, selbst in dem entlegensten Winkel der Erde, selbst in einem podolischen Heidestädtlein. Vielleicht waren auch die Leute von Barnow dieselben geblieben und nur ich ein anderer geworden, ich weiß nicht! Nur eines weiß ich: Während ich so durch die Gäßchen ging, vorüber an den dumpfigen Hütten und den verwahrlosten Menschen, da habe ich alle jene beneidet, die ihrer Heimat als einer lichten, freundlichen Stätte gedenken können, ich habe sie sehr beneidet. Und zu jener Stunde war’s mir unfaßbar, warum ich doch so sehr an dieser Heimat hänge.

Aber als ich auf die Heide kam, da verstand ich es. Die Zauber der Ebene kamen wieder über mich und machten mein einsames Herz traurig, ergeben und weit. Die alten Träume kamen über mich, und ich ging, ein Lächeln auf den Lippen und doch sonderbar bewegt, auf das “schwarze Kreuz” zu, als müßt’ ich dort den greisen Spielmann treffen. Aber er war nicht zu gewahren, obwohl von dorther jenes Summen über die Heide klang. Je näher ich kam, desto deutlicher wurde es, desto schriller. Es waren zwei Hirtenpfeifen gewesen, die in der Ferne so zauberisch getönt hatten.

Das Kreuz ist mächtig und plump gefügt aus schwarzbemalten Tannenbalken. Kein Christus hängt daran, nur der Umriß einer Hacke ist am Fuße derb und roh eingeschnitten. An einem großen Tage ward dies Zeichen aufgerichtet: da die Hörigkeit von den Leibern dieser armen Menschen fiel. Darum haben sie die Hacke eingeritzt, das Merkzeichen des freien Mannes. Auch einige Birken sind ringsum gepflanzt, der einzige Schatten, soweit das Auge blickt. Darum rastet unter diesen Bäumen gern das fahrende Volk, das im Sonnenbrand über die Heide zieht: die Zigeunerschar, die rastlos stehlend umherwandert und daneben wahrsagt, fiedelt und die Pferde kuriert; der slowakische Drahtbinder; der ukrainische Tagelöhner; der jüdische “Dorfgeher”, der von Sonntag bis Freitag von Gehöft zu Gehöft zieht und Waren und Schmeichelworte vertauscht gegen Geld und Schläge; der fremde Gaukler; der russische “Sänger”, sehr ehrwürdig und sehr eigentumsgefährlich, der unserem zahmen Bauer von den Großtaten seiner Ahnen und Stammesgenossen, der Kosaken, berichtet und sich dabei demütig durchbettelt und frech durchstiehlt; endlich Bettler ohne poetische Beschönigung, Bettler schlechtweg, jeglicher Nation, jeglichen Glaubens, darunter der “Schnorrer”, der daneben auch Talmudist ist und die lebendige Zeitung für seine Glaubensgenossen. Sie alle rasten hier unter den Birken und trinken aus der Quelle, die hervorsprudelt; der Platz liegt selten verödet, und selbst wenn von dem fahrenden Volk niemand zur Stelle ist, so freuen sich doch einige Hirten der Kühle. Denn der Hügel, auf dem sich das Kreuz erhebt, bildet zugleich die Markung zwischen den Triften des Städtchens Barnow und des Dorfes Wolowce.

Auch heute saßen nur zwei Hirten da und bliesen auf ihren Schalmeien wirr durcheinander, daß es schrill und häßlich klang. Aber als ich ganz nahe herankam, da verstummten sie und erhoben sich. Es waren Knaben, dreizehn-, vierzehnjährig, Flachsköpfe mit stumpfen Gesichtern und jenen sonderbar traurigen Augen, die man bei allen Menschen findet, die einsam heranwachsen in der großen Ebene. Sie waren sehr einfach bekleidet, der eine nur mit Hemd und Hose aus gröbstem grauem Linnen, der andere hatte einen braunen Serdak an, aber dafür kein Hemd darunter. Überhaupt war er der Elegantere, denn er trug einen Strohhut, während sich sein Gefährte mit einem verschossenen blauen Soldatenkäppi behalf. Sie entblößten ihr Haupt vor mir, hielten aber die Kopfbedeckung dicht am Ohr, um sich mit derselben Hand hinter dem Ohr krauen zu können.

Ich mehrte ihre Verlegenheit nicht, ich nickte den Hirten zu, aber ich sprach sie nicht an; was hatte ich auch von ihnen zu erfragen? Ob der oder jener noch lebe, der mir hier einst eine Pfeife geschnitzt oder eine Geschichte erzählt hatte?! Tot! Wie oft hatte ich diese Antwort drinnen im Städtchen gehört; ich hatte genug daran, übergenug. Ich warf mich unter die letzte Birke hin, weitab von den Hirten, und dachte an die alte Zeit und jenen Sonntag vor fünfzehn Jahren.

Das war ein schöner, fast lenzheller Septembertag gewesen, und ich war auf die Heide hinausgegangen, Abschied von ihr zu nehmen; denn morgen sollte ich wieder auf die lateinische Schule. Und wie ich also, recht müde gewandert, hier unter den Birken saß und ringsum war große Stille – nur zuweilen ging ein Windstoß wie ein jäher Seufzer über die Heide –, da wurden mir die Lider schwer, und ich schlief ein. Aber ein schrilles Tönen schnitt meinen Traum entzwei; und als ich jählings emporfuhr, da glaubte ich erst recht fortzuträumen. Vor mir stand der alte Spielmann, noch zerlumpter als sonst, aber einen großen Blumenstrauß an der Brust, und in den sonst so traurigen, glanzlosen Augen glühte es wildfeurig. Bald küßte er seine Fiedel und drückte sie an die Brust, bald strich er wie toll über die Saiten; es klang so ungefähr wie der Radetzkymarsch. “Grüß Gott, Paniczu!  Ich habe dich geweckt, ich muß dir etwas erzählen. Aus dem Kreisgericht komme ich, und meine Fiedel habe ich wieder, weil die Muhme Kasia sie mir aufbewahrt hat, und jetzt übe ich mir den Marsch da ein. Den spiele ich, wenn man den Herrn Wincenty doch endlich zum Galgen führt.” Und wieder klangen lustig die Takte. “Aber wo sind die anderen?” fragte ich. – “Noch im Kerker, wegen des Aufstandes. Mich haben die Schreiber freigelassen: ›Du kannst gehen, du bist verrückt.‹ Nun, Paniczu, verrückt bin ich, das ist wahr, der Starost hat mich verrückt gemacht, als ich noch jung war. Aber das weiß ich doch: Noch lebt der Kaiser, und er wird erfahren, was geschehen ist, und was dann?! Hei, dann legt er den Mund an den Draht und sagt den Schreibern beim Kreisgericht: ›Lasset die Leute von Wolowce heim, es sind brave Leute, auch wenn sie in der Verzweiflung Dummheiten gemacht haben, und was den toten Husaren betrifft, so laufen ja noch genug Zigeuner herum, die man einfangen kann und blau anziehen und auf ein Pferd setzen.‹ Und dem kleinen boshaften Schreiber in Barnow sagt er: ›Laß den Herrn Wincenty henken, die Bauern haben recht gehabt, als sie es tun wollten; er hat es redlich um den Fedko verdient und um die anderen auch.‹ Und dann muß der Dicke dran, ob er will, ob nicht, und nimmt sich wieder die Husaren mit, und sie ziehen den Pallasch und blasen und reiten nach Wolowce; aber diesmal gilt’s nicht uns, sondern dem Herrn und seinen Knechten! Und der Dicke sagt betrübt zum Wincenty: ›Herr Bruder, es tut mir leid, aber hängen mußt du!‹ Und sie führen ihn zum Galgen. Ich aber gehe neben dem Karren und spiele diesen Marsch, hörst du, Paniczu, diesen Marsch!”

Es klang mir noch im Ohr, wie er damals gespielt an jenem schönen Septembernachmittag. Aber auf Erden hat der alte Spielmann nicht mehr lange gefiedelt, im nächsten Frühling war er tot. Und der Kaiser hat es nicht erfahren, die Leute von Wolowce sind noch lange im Kerker gelegen, und der Herr Wincenty ist nicht gehenkt worden, “obwohl er es redlich um den Fedko verdient hat”. Immer tiefer lockte mich die Erinnerung in jene verschollenen Geschichten, und ich dachte an den unseligen Kampf, der hier gestritten worden ist, an den sonderbaren “Aufstand von Wolowce” …

Ich grübelte lange darüber. Es ist nicht gut, mußte ich mir schließlich sagen, daß solche Geschichten geschehen. Es ist nicht gut für die Polen, nicht für die Ruthenen, nicht für die österreichische Regierung. Und in allerallerletzter Linie ist es auch nicht gut für den lieben Gott. Je höher ein Herr steht, desto mehr muß er auf seine Reputation sehen. Und der liebe Gott steht am höchsten. Er ist allgütig, allgerecht, und da läßt er in Podolien eine solche Geschichte zu; weiß Gott, es ist auch für Gott nicht gut, daß sie geschah. Aber – sie geschah. Recht alltäglich begann, recht seltsam endete sie. Und in ihre erschütternde Tragik mischt sich ein grell komischer Zug.

Das Dorf Wolowce bei Barnow ist ein großes, schönes Gut. Es gestattet seinem Besitzer ein stattliches Leben. Sogar nach Paris kann er von Zeit zu Zeit gehen und dort den Schneidern, Kokotten und Professionsspielern vergnügte Tage machen. Zu vergnügten Jahren freilich reicht das Einkommen nicht hin. Und wenn sich der Mann gar zehn Jahre nicht um seine Wirtschaft kümmert, sondern fortwährend nur die Pariser Menschheit vergnügt macht, dann muß er freilich im elften Jahre notgedrungen heimkehren, und über sein Haupt kommt Trübsal. Und die Juden dazu.

Damit ist das Geschick des Herrn Wincenty von Barwulski genügend berichtet. Da saß er nun in dem düstern, verfallenen Edelhofe und kämpfte gegen die Trübsal und kämpfte gegen die Juden. Mit verschiedenem Erfolg. Denn was die Juden betrifft, so warf er sie freilich anfangs kurzweg hinaus, aber schon in den nächsten Jahren mußte er sie zuerst um Erneuerung der Wechsel bitten, ehe sie hinausflogen, und schließlich beschränkte er sich aus guten Gründen gar nur auf das Bitten und gewöhnte sich das Hinauswerfen ganz ab. Die Juden also besiegten den Herrn Wincenty, hingegen besiegte er die Trübsal. “Denn”, sagt Pestalozzi schön und richtig, “ein guter Mensch ist auch glücklich; ihm fließt aus dem reinen Herzen ein unerschöpflicher Quell harmloser Freuden.” Wort für Wort paßt das auf den Besitzer von Wolowce, der ein guter Mensch war, ein Normalmensch, ein Mustermensch. Den Müßiggang haßte er glühend; ein vergähnter Nachmittag, ein verschnarchter Abend dünkte ihm mit Recht etwas Gräßliches. Darum hazardierte er am Nachmittag und am Abend bis in die Nacht hinein. Wer Makao spielt, der geht nicht müßig, er sitzt und tut etwas; er verliert sein Geld. Übrigens gewann auch später der Normalmensch zuweilen, sogar auffällig, und stand daher allmählich im ganzen Kreise im Rufe eines fleißigen, fingerfertigen Menschen. Aber ärger noch als den Müßiggang haßte er alle geistigen Getränke, und sein ceterum censeo war: “Der Schnaps ist des Menschen Fluch!” Darum vertilgte er ihn, wo er ihn traf, in unglaublichen Mengen, nicht minder den Wein oder den Met. Allnächtlich schlug er die Schlacht gegen den Dämon Alkohol, allnächtlich ward er besiegt und sank im Morgengrauen unter den Tisch; aber gegen die Mittagsstunde erhob er sich wieder und begann düster und entschlossen die Schlacht von neuem. Er gab seinem Erbfeind keinen Pardon, er forderte keinen; es lag Größe in diesem guten Menschen, sittliche Größe. Aber diese Heldenseele war auch weich und zartester Empfindung fähig: Herr Wincenty konnte kein Weib weinen sehen, am wenigsten sein eigenes Weib. Denn er hatte bald nach seiner Heimkehr aus Paris geheiratet, teils der Trübsal, teils der Juden wegen. Eine reiche adelige Erbtochter hatte er freilich nicht gefunden, nur eine Schullehrerstochter. Aber keine gewöhnliche. War da nämlich irgendwo in einem podolischen Städtchen ein Schullehrer, der eine schöne Frau hatte, und ein Dominikanerkloster, das einen stattlichen Prior hatte. Die Schullehrerin gebar dem Schullehrer ein Mädchen, und als die kleine Aniela heranblühte, erwies es sich, daß sie dem Prior ähnlich sah; darum liebte sie der Hochwürdige und bestimmte ihr eine große Mitgift. Aber es fand sich kein Freier trotz der Mitgift und trotz der rührenden Schönheit des armen Kindes, das aus seinen braunen Augen so scheu und traurig in die Welt blickte, als müßte es die Menschen um Vergebung bitten für das Schandmal, das ihm unverschuldet auf dem holden Antlitz brannte. Aber ein Mustermensch kehrt sich an keine Vorurteile; Herr Wincenty heiratete die Aniela, und solange die Mitgift vorhielt und der Prior lebte, hatte die Ärmste keine Launen. Aber als der Hochwürdige starb, da kam Frau Aniela auf sonderbare Einfälle: Nur in einem eiskalten Zimmer wollte sie schlafen, nur schimmeliges Brot essen, und dazu geißelte sie sich täglich so heftig, daß der arme junge Leib über und über bedeckt war von blutigen Striemen. Ja, sie tat sich das alles selbst an; so versicherte wenigstens Herr Wincenty seine Spießgesellen, wenn selbst diese rohen Herzen etwas wie Mitleid verspürten und ihm sagten: “Bruder, fürchte dich vor Gott, nimm eine Hacke und mach’s auf einmal ab, aber quäle deine Tränenweide nicht so stückweise zu Tode!” Die “Tränenweide”; denn die Frau weinte beständig. Und der gute Wincenty konnte kein Weib weinen sehen; darum jagte er sie einmal in eisiger Winternacht zum Tor hinaus. Am nächsten Morgen fand man sie erfroren auf der Schwelle.

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