Himmelfahrt

Himmelfahrt – Hermann Bahr

“Himmelfahrt” ist ein Bekenntnisroman und erzählt die Geschichte des Grafen Flayn, der, nachdem er einer Schwindlerin aufgesessen ist, zu seinem Bruder aufs Land flieht. Dort versucht er mit sich und der Welt ins Reine zu kommen …

Himmelfahrt

Himmelfahrt.

Format: eBook.

Himmelfahrt.

ISBN eBook: 9783849654856

 

 

Auszug aus dem Text:

Erst als der Zug endlich fuhr, atmete Franz auf, entkommen. Die dumme Furcht! Wer soll ihm denn nachsetzen? Sie freut sich, ihn los zu sein. Und alle werden sich freuen. Und ihn auslachen.

Entkommen, wieder einmal! Und wieder einmal nur fort, möglichst weit fort, am liebsten aus der Welt fort! Einschlafen und nie mehr aufwachen! Und er wird aber ja doch wieder aufwachen, auch diesmal, und wieder ein neues Leben anfangen, sein Leben bestand ja darin, immer wieder ein neues Leben anzufangen. Wie lange noch? Er wurde jetzt schon grau.

In dem ruhig rollenden Zug schlief er wirklich halb ein. Er war entkommen, er war geborgen; er wird vergessen. Und dann wird dies alles bei den anderen Erinnerungen liegen. Und wenn er später wieder einmal daran denkt, wird er lachen, wie er über die anderen Erinnerungen lacht. Er wird aber nicht oft daran denken, denn es wird ja dann wieder irgend etwas sein, dem er wieder entkommen muß, um sich wieder zu bergen und es wieder zu vergessen. Denn sich selber wird er ja niemals entkommen. Dazu hat er sich zu lieb. Er sieht ein, daß er sich selber ändern müßte. Er versucht es ja auch immer wieder, sein Leben bestand bisher aus lauter solchen Versuchen. Und dieser, dem er eben entfloh, wird auch noch nicht der letzte gewesen sein. Früher hat er sich in solchen Augenblicken immer gesagt: Jeder muß Lehrgeld zahlen, aber bis du nur erst älter sein wirst! Nun machte das Lehrgeld schon eine ganz schöne Summe, der Wunsch aber, älter zu werden, mäßigte sich, er hatte darauf auch kein rechtes Vertrauen mehr. Vielleicht war es überhaupt klüger, sich nichts zu wünschen. Er hatte sich niemals einen Wunsch versagen müssen, alle waren ihm erfüllt worden; es hielt aber keiner sein Versprechen. Vielleicht tun uns nur unerfüllte Wünsche gut! Vielleicht war es sein Unglück, sich keinen Wunsch versagen zu müssen. Aber das wird er wohl nie lernen, dazu müßte man doch anders erzogen sein. Und war er denn unglücklich? Er hatte sich oft getäuscht, Menschen hatten ihn betrogen, und weder in der Kunst noch in den Wissenschaften fand er Befriedigung. Das verdroß ihn oft, und wenn es ihn zu sehr verdroß, war er bisher einfach immer wieder abgereist. Sein Leben war hauptsächlich ein Abreisen. Wie ja jetzt auch wieder. In der Stadt wird es noch eine Zeit rumoren, die schöne Betrügerin wird vielleicht eingesperrt und es darf sich dort jetzt so bald kein Spiritist mehr blicken lassen, er aber, er ist einfach abgereist, er fährt heim zu seinem Bruder, der wird ihn nicht fragen, der fragt ja nie, dem war es übrigens auch gleich. Er ist wieder einmal abgereist und hat wieder einmal etwas hinter sich! Und es bleibt ihm nur die Erinnerung an zwei große, tiefe, fragende Kinderaugen. Diesmal waren sie grau, die Farbe wechselte; aber immer noch ist ihm schließlich von allem nichts als eine Erinnerung an ein paar Augen geblieben. Es wäre nun aber doch anmaßend, sich deshalb schon unglücklich zu nennen. Er würde sich vielleicht wohler fühlen, wenn er einmal Unglück hätte, ein klares, entschiedenes Unglück. Wenn er alles recht bedenkt, kann er höchstens sagen, daß er kein Glück hat. Und auch das ist eigentlich noch ungewiß. Er hat Geld, er tut und läßt, was ihm gefällt, er hängt an seiner Mutter, sein Bruder verwöhnt ihn, sein Name führt ihn überall ein, er hat die Welt gesehen, kennt die besten Männer der Zeit, gefällt den Frauen; wohin er kommt, ist er gut aufgenommen, man schätzt sein Talent, gönnt ihm seine Grillen und sieht ihm seine Launen nach. Wenn dies alles noch nicht zum Glücke langt, wer wäre dann glücklich? Was fehlt ihm denn noch? Nichts als das Gefühl, glücklich zu sein. Sein Bruder, der schon ein auffällig unbegabtes Kind war, eine lächerliche Frau und ein Rudel Kinder hat, jahraus, jahrein auf seinem Acker hockt, nicht viel besser als ein Bauer lebt und schon selig ist, wenn er einmal einen guten Gaul billig erhandelt, hat dieses Gefühl. Ja, der gerät dem Vater nach, der auch, nachdem er als flotter Dragoner sein bißchen Erbe verjuxt, immer noch guter Laune blieb; im Lande hieß er nur der Graf von Luxemburg, und richtig wurde sein holder Leichtsinn auch belohnt, er führte die reiche Braut heim. Das hat auch der Bruder: wenn er noch so bedrängt wird, doch unerschütterlich gewiß, daß es gut ausgehen muß; und so geht’s auch immer gut aus. Und ihm selber geht’s immer schlecht aus, vielleicht weil er alles schon mit dem Vorgefühl beginnt, daß ihm nichts glückt. Am besten wär’s, nichts mehr zu beginnen. Er hat es ja schließlich doch nicht nötig! Ein Graf Flayn zu sein genügt. Er hat mehr gelernt, mehr gesehen, mehr getan, als in seinen Kreisen üblich, fast schon mehr, als in seinen Kreisen erlaubt ist. Wie leben denn die anderen? Jagd, Spiel, Sport, ein bißchen Landwirtschaft, Weiber und allenfalls noch etwas Politik. Wenn er sich dabei langweilt, kann er auch wieder malen. Das hat er sich ja doch auch nur durch den Ehrgeiz verleidet, ein Künstler zu werden. Wenn er bloß zum Vergnügen malen wird, reicht es schon. Es hätte sicherlich auch in der Wissenschaft gereicht, zum bloßen Vergnügen. Wie war der alte Herr in Leipzig stolz auf ihn, es schmeichelte ihm ja sehr, einen leibhaftigen Grafen im Laboratorium zu haben, aber daß ein Graf Ernst machen wollte, ganz wie irgendein Student, der es nötig hat, von dem Augenblick an war er ihnen verdächtig, das litten sie nicht, und er hatte plötzlich alle gegen sich. Und immer wenn er Ernst machte, überall. Brotneid? Vielleicht auch. Aber mehr wohl noch das Gefühl einer Anmaßung von ihm. Man wies ihn in seine Schranken. Nicht wir fühlen uns als Kaste, sondern die anderen. Was man unsere Vorurteile nennt, haben sie viel mehr als wir.

In solchen Gedanken überließ sich der Graf dem ruhigen Rollen des Zuges, das ihn in Schlaf sang. Es schwoll an, sank wieder ein, stieß wieder auf, immer in derselben Bewegung, immer im gleichen Takt, wirklich wie ferner einförmiger Trommelschlag. Und indem er sich dem einwiegenden Geräusch ergab, schien es Stimmen anzunehmen, und er bemühte sich, halb im Traum, zu hören, was die Stimmen sangen. Es quälte ihn, daß er sie nicht verstehen konnte. Er hatte das Gefühl, den Text zu kennen, und es wäre bloß an ihm, nur noch ein wenig besser acht zu geben, und er würde gleich wissen, was sie, nur wie hinter einem dichten Schleier oder aus einem tiefen Nebel, ihm sangen. Er strengte sich an, so sehr, daß er davon erwachte. Er saß auf und sah sich um, noch halb betäubt, ohne gleich recht zu wissen, was mit ihm war. Draußen das weite flache Land. Der Herbst. Die Sonne kam nicht recht durch. Und immer das gleiche ruhige Rollen. Da war ihm auf einmal, als ob jemand, dicht hinter ihm, laut gesagt hätte, deutlich war es zu hören: Still, auf gerettetem Boot! Unwillkürlich sprach er es leise nach, vor sich hin, die Finger im Takte dazu bewegend, im Takte des ruhigen Rollens. Es stimmte genau. Er besann sich auf den ganzen Vers, fand ihn nicht gleich und sprach ihn dann laut, es war, als spräche der ruhig rollende Zug:

In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling,
Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis.

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