Nach Sonnenuntergang

Nach Sonnenuntergang – Wilhelm Jensen

In diesem Roman schildert Jensen die Leidenszeit eines Knaben, der unverkennbar seine Züge trägt. Der in Heiligenhafen (Holstein) geborene Schriftsteller gehört mit über 150 Werken, oft mit historischem Hintergrund, zu den produktivsten Autoren seiner Zeit.

Nach Sonnenuntergang

Nach Sonnenuntergang.

Format: eBook

Nach Sonnenuntergang.

ISBN eBook: 9783849656058.

 

 

Auszug aus dem Text:

 

Ich bitte um Entschuldigung, wenn das erste Wort des Anfangs meine eigne Persönlichkeit bezeichnet. Aber ich halte dafür, daß ein überängstliches Vermeiden solches Beginns einer falschen Bescheidenheit entspringt, die wir weniger im Denken als im Schreiben anzuwenden besorgt sind. Da ich jedoch zu schreiben beabsichtige, wie ich denke, wie in Wahrheit die Welt sich mir darstellt, die ein ungeheures kreisendes Rad ist, das sich doch stets und überall nur um die kleine, gebrechliche Achse des Ich dreht und auch nur aus der tausendfältigen Verschiedenheit der Augen des letzteren seine eigenen tausendfach wechselnden Farbenspiele herleitet, so verschleiere ich meine Geschichte nicht unter dem Deckmantel eines fremden Namens, sondern beginne damit, daß “ich” sie so erlebt habe.

Es gab eine Zeit, in welcher der klassisch gebildete Deutsche ein derartiges Unterfangen mit dem nationalbescheidenen Zitat: “Quod licet Jovi, non licet bovi” abgetan hätte. Diese Lehre in weiterer Ausdehnung bildete allerdings einen Teil der Mitgift, die meine Geburt mir in die Wiege gelegt, oder vielmehr, da jener unpersönliche Begriff sich gegen solchen Vorwurf nicht rechtfertigen kann, die mir die männlichen Ammen eines heranwachsenden Kindes – viri doctissimi et illustrissimi in der Kunstsprache benannt – als altehrwürdig überlieferten Grundsatz ins Gemüt geprägt haben. Es war das gleichfalls ein Ausfluß jener oben bewährten Bescheidenheit, die ungefähr über den Köpfen lag, wie am Sommerabend das Brauen des Fuchses über den Wiesen, Denn um das Gleichnis in einem weiteren Bilde zu begründen, blickte darunter aus allen Augen der Fuchsschwanz eitler Ueberzeugung hervor, selbst eine Ausnahme zu bilden, vermählt mit der liebevollen Beeiferung, sie für keinen zweiten gelten zu lassen. In jener halbvergangenen “guten, alten Zeit” spielte in Wirklichkeit das Ich geheimer und offener Anmaßung eine gar gewaltigere Rolle als die veränderte Welt des deutschen Reiches sie heut dem Einzelnen – tesi viro doctissimo et perillustrissimo – verstattet. Aus der Notwendigkeit ist eine Tugend geworden, und der gewichtigste Ausspruch der Gegenwart schränkt sich dahin ein, seine ehemalige persönliche Unfehlbarkeit unter dem Plural zu verbergen. Das Ich ist verpönt, und Fichte würde in unseren Tagen als ein geschmackloser und (unverhehlt-) selbstgefälliger Scribent betrachtet werden. Aber von allen geistigen Modewandlungen der Zeit hat sich mir eine gewisse Altmodigkeit als die liebste erhalten, und obwohl ich niemals mich in die philosophische Tiefe der absoluten Anschauung habe hinabarbeiten können, daß die Sonne, die Menschen, alle Dinge um mich her gar nicht existierten, sondern nur Gedanken-Schöpfungen und Sinnes-Spiegelungen meines eigenen Ich seien, so ist mir die Knabenempfindung doch bis heute treu geblieben, die Sonne sei köstlich, weil sie mich mit Wärme und Glanz überfließe, die Menschen schön und häßlich, liebenswert und abstoßend, weil sie in mir diese Gefühle wachriefen, die Dinge um mich her freudig, traurig, Zuneigung und Widerwillen einflößend, weil sie zu meinen Sinnen und zu meiner Seele in solchen Sprachen redeten. Augen und Ohr, Verstand und Herz mögen mich bei dieser altmodischen Anschauung oftmals beirrt haben, doch ich glaube, daß diejenigen, welche mich der Täuschung zeihen, sich ebenfalls keines zuverlässigeren Führers durch den bunten Szenenwechsel des Lebens – ich meine, daß sie sich im Grunde alle des nämlichen bedienen, nur daß sie zu dem ihrigen soviel mehr Vertrauen hegen, als ihnen der Geschmack eines guten Bissens auf der eigenen Zunge lieber ist als auf der eines anderen. Und so nutze ich denn am Ende nur offen ein Recht, das jeder im Geheimen beansprucht und für sich geltend macht, wenn ich mich als den Mittelpunkt meines Lebens betrachte und mit dem Wort beginne:

Ich bog mich vor und blickte aus dem Fenster des Eisenbahnwagens. Die Landschaft, durch welche der Zug hinrollte, bot nur eine Art von Abwechselung: manchmal war Haide zur Rechten und Moor zur Linken, dann das Moor rechts und die Haide links. Eine unerquickliche Gegend, wie die Unterhaltung eines langweiligen Gesellschafters. Aus dem Munde eines solchen fällt ab und zu ein Wort, das dadurch Wert erlangt, weil es eine selbständige Gedankenkette anspinnt, und auf ähnliche Weise sah mich aus dem trostlosen Einerlei dann und wann eine ferne Windmühle, ein Dornstrauch auf dem Rücken einer alten Düne an und versuchte in meinem Gedächtnis eine nebelhafte Verknüpfung herzustellen. Allein ehe es wirklich dazu kam, war der Zug vorüber, und alles in allem hätte ich einen körperlichen Eid, d. h. für meine Sehnerven, darauf ablegen können, daß ich nie etwas von den reizlosen Dingen, an denen ich vorbeirollte, gesehen. Geistig betrachtet, würde ich falsch geschworen haben, da es gegen besseres Wissen geschehen wäre, denn unzweifelhaft hatten jede Windmühle und jeder Dornstrauch in meiner Knabenzeit schon ihr Bild auf meine Netzhaut geworfen. Doch mir war nichts davon geblieben, als die Mutmaßung, daß es so gewesen, in einer Art von Vorleben, ungefähr wie ich mir denke, daß die Anhänger der Seelenwanderung sich eine Erinnerung ihrer früheren Existenz auf einem andern Stern bewahren.

Mir saß jemand gegenüber, der die Julihitze unerträglich fand und fortwährende Bewegung des Mundes als ein Hilfsmittel dagegen anzusehen schien. Er machte mich auf alles aufmerksam, was ich sah, und nannte mir die Farbe, die jeder Gegenstand besaß. Wo etwas aufragend die Ebene unterbrach, bezeichnete er es als eine Erhöhung und er ließ mich nie in Zweifel darüber, ob ich mein Augenmerk auf ein Haus oder einen Baum richtete. Aber manchmal nannte er auch den Namen eines vorüberfliegenden Dorfes und rief dadurch eine Reihe vergessener Vorstellungen wach.

Er war unfraglich einer jener vortrefflichen Menschen, deren Abscheiden ein Freundesnachruf im Wochenblatt ehrt, und unwillkürlich gestaltete sich mir sein sonnverbranntes Gesicht zu einem rötlichen Granitstein mit eingefügter weißer Marmorplatte, in welche mit goldenen Buchstaben eingeschrieben stand: “Hier ruht zu besserem Erwachen ein treuer Gatte, ein sorgsamer Vater, ein verdienstvoller Mitbürger und ein redlicher Geschäftsmann, namens –”

Es kam mir mit einem Schlage die sichere Überzeugung, daß er aus der Stadt, in welche der Zug uns trug, gebürtig sein müsse. Seine Antwort auf meine Frage bestätigte es und ich reichte ihm instinktiv die Hand. “Sie kennen mich?” versetzte er halb befremdet. Ich entgegnete: “Durch und durch,” und er fiel ein: “Sollten Sie sich nicht doch vielleicht – ich wenigstens habe im Augenblick nicht das Vergnügen, mich zu erinnern – mein Name ist Nitschke.” – “Er könnte auch anders sein, ich würde Sie doch kennen,” erwiderte ich; “Sie wissen, Goethe sagt, Name ist Schall und Rauch.” – “Ich habe im Augenblick auch nicht das – ich meine mich zu erinnern,” antwortete Herr Nitschke und knüpfte etwas rascher daran: “Sie sind wohl sehr bekannt in der Stadt?” – “Passiv wohl kaum,” versetzte ich, “aber aktiv einigermaßen; es ist meine Vaterstadt.” – “Oh. was Sie sagen!” – Herr Nitschke bemerkte nach einigen Augenblicken des Umherdenkens: “Aktiva sind immer besser als Passiva,” und fügte hinzu: “Früher kannte man jeden in der Stadt; aber seit dem erfreulichen Fortschritt hat sich das geändert. Sie reisen wohl in Geschäftssachen? Verzeihen Sie, aber Ihr werter Name will mir immer noch nicht beifallen.”

“Ich glaube auch schwerlich, daß meine Firma Ihnen bekannt ist. Sie lautet: Reinold Keßler.”

“Und Compagnie vielleicht?”

“Nein, simpelhin, auch ohne Sohn und dergleichen.”

“Und wenn ich fragen darf, in welcher Branche arbeiten Sie?”

“Ich will mir eine Steinhauerarbeit ansehen – auch das Straßenpflaster –”

“Ein vorzügliches seit unserer Neupflasterung! Sie waren wohl – es scheint fast nach Ihrer Sprache – lange nicht bei uns?”

“So etwa dreißig Jahre nicht.”

“Da werden Sie Ihre Freude an der Veränderung haben. In Kommunal-Angelegenheiten sind wir mancher Großstadt voraus, wir lassen nichts beim Alten! Haha! Ich bin nur Stadtverordneter, aber ich darf sagen, was ich dazu beitragen kann, das tue ich. Lange ist’s keinem gegeben, für das Gemeinwohl zu sorgen, darum muß man sich beeilen, wenn man bei den Nachkommen in gutem Andenken bleiben will! Also unser Pflaster wollen Sie uns absehen?”

Die Lokomotive pfiff und veranlaßte Herrn Nitschke fortzufahren: “Wenn Sie seit dreißig Jahren nicht hier waren, so kennen Sie auch unsere Eisenbahn noch nicht?”

“Nein, ich fahre zum ersten Mal auf ihr.”

“Unbegreiflich – ich meine, wie es eine Zeit hat geben können – oder ich meine vielmehr, wie die Menschen es haben aushalten können, ohne Eisenbahn zu leben. Sie müssen gar nicht wirklich gelebt haben, die Schnecken ihnen ungefähr damals so vorgekommen sein, wie sie uns jetzt vorkommen. Ich bin nicht fromm, aber wenn ich es wäre, würde ich Gott täglich danken, daß er mich nicht zu ihrer Zeit in die Welt gesetzt hat.”

“In der Schneckenzeit? Ich habe einige gekannt, die recht eilig ans Ziel kamen.”

….

 

 

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