Oberlin

Oberlin – Friedrich Lienhard

Ein historischer Roman aus der Revolutionszeit im Elsaß. Der 1865 im französischen Elsass geborene Lienhard studierte auch evangelische Theologie in Straßburg, brach das Studium jedoch nach vier Semestern ab.

Oberlin

Oberlin.

Format: eBook

Oberlin.

ISBN eBook: 9783849656317.

 

Auszug aus dem Text:

 

Sommerliche Ranken der wilden Rebe schaukelten am Fenster. Ein leiser Ostwind durchlief den Park und bewegte das zierliche Blattwerk. Die Sonne stand steil über dem Westgebirge; in flimmerndem Gold wogte die Luft. Es war über dem warm durchleuchteten Elsaß ein reiner Sonnenuntergang zu erwarten, dem gewöhnlich am dunkelblauen Wasgenwald ein langes Abendrot zu folgen pflegt.

Viktor Hartmann, der Hauslehrer auf Birkenweier, einem Landschlößchen im oberen Elsaß, neigte den gepuderten Kopf über seinen Rokoko-Schreibtisch. Er war mit ganzer Seele seiner Lieblingsbeschäftigung anheimgegeben. Diese Beschäftigung bestand darin, daß er Gedanken und Empfindungen in ein Tagebuch eintrug.

Er schrieb in ein hübsches, von ihm selbst genähtes Schreibheft. Etwas von der beschaulichen Freude mittelalterlicher Mönche lag in der liebevollen Art, wie er die vergoldete Gänsefeder, ein Geschenk seiner Schülerinnen, in das verschnörkelte Tintenfaß eintauchte und dann seine wohldurchdachten Sätze zu Papier trug.

“Das fruchtbare Land, das sich zwischen Rhein und Wasichengebirge gleich einem wohlbebauten Garten erstreckt, ist vorzüglich berühmt wegen seiner Abendröten. Unter dem farbigen elsässischen Abendhimmel macht das waldreiche Gebirge, das sich mit seinen vielen zerfallenen Schlössern als eine Mauer vor dem übrigen Frankreich erhebt, einen ausgezeichnet bedeutenden Eindruck. Auch hat derjenige das weltberühmte Straßburger Münster nicht erschaut, der es nicht in einem dahinterscheinenden Abendrot aufmerksam betrachtet hat. Alsdann ist jener gewaltige und doch leichte Bau ein durchsichtiges Stangenwerk; es steigt die violett umränderte und von den Himmelsflammen durchsprühte Steinmasse siegreich gen Himmel und trägt auf ihrer Spitze das Kreuz. Der obere Turm hat an seinem Rande gleichsam Staffeln, auf denen man zu diesem triumphierenden Kreuz emporsteigt. Es läuten dazu die schweren und langsamen Münsterglocken. Auch im übrigen Elsaß findet man viele Kirchen und Glocken und ungemein zahlreiche Dörfer. Und so verbindet sich an manchem Sommerabend mit dem vielfarbigen Himmel ein vielstimmiges Abendläuten. Das Elsaß ist ein sehr schönes Land; und ich bin stolz darauf, Elsässer zu sein.”

So schrieb der Kandidat Viktor Hartmann im Sommer des Jahres 1789. Er schrieb es mit einer schlanken, feinen und festen Handschrift, in deutschen Buchstaben. Dann legte er die Feder neben sein Journal oder Tagebuch und betrachtete mit seinen großen braunen Augen das nahe Gebirge.

Die Luft über den Bergen, jenseits der Rappoltsweiler Schlösser und der breiten Trümmermasse der Hohkönigsburg, begann weißlich zu erglühen. Die Ranken der wilden Rebe tanzten zwischen dem sinnierenden Schreibersmann und den umglühten Gebirgen. Viktors Gesicht verwandelte sich allmählich; es bemächtigte sich seiner eine zarte Sehnsucht. Und wieder bückte er sich auf sein Journal und schrieb das Folgende:

“Es ist zu wenig Liebe in der Welt. Und leider ist mein Herz nicht stark genug, der Welt entgegenzuwirken und an der großen Aufgabe teilzunehmen, die Welt mit Liebe zu erfüllen. Ich bin eine zu ängstliche Natur und muß daher vorderhand mein Herz verschlossen halten, bis ich dereinst der Außenwelt gewachsen sein werde. Jedoch in der Stille will ich mich üben, stark zu werden an guter Liebe und gleichzeitig zu wachsen an Tugend und Klarheit. Der beste Weg dazu scheint mir dieser zu sein, daß ich in den Büchern der Geschichte nachlese, wie es andre gemacht haben, um die Welt zu überwinden. Als der Größte erscheint mir Christus. Aber ich muß zu meinem Leidwesen bekennen, daß ich, obschon Kandidat der Theologie, von Christus noch nicht die Kräfte in mich einströmen spüre, die ich als wünschenswert erflehe; auch über viele andre große Erscheinungen und letzte Dinge bin ich noch unklar. Dies bekümmert und bedrückt mich oft. Ich sehne mich nach einem Freund und Führer, der mich stark und frei machen könnte. Ich komme mir in dieser Hauslehrerstelle wie ein stehendes Gewässer vor, über welchem sich blühende Sumpfgewächse auszubreiten beginnen. Es verkehrt in unsrem Schloß eine Frau Marquise v. M., die sommersüber in der Nachbarschaft wohnt; diese sagte mir, daß mir nicht die Bücher, sondern die Liebe die Augen öffnen würde. Indessen ist Frau v. M. eine Pariserin und neckt gern. Ob je einmal die Liebe bei mir anklopfen wird? Es träumte mir einst, es werde mich ein schönes, stilles und stolzes Mädchen lieben; sie schritt hoch und edel neben mir her; sie sagte wenig, aber ihre Gegenwart tat mir ausnehmend wohl. Du künftige Geliebte, wo werd’ ich dich finden? Das müßte sein wie an einem Geburtstag, wenn das Kind morgens erwacht und auf dem Stuhl vor dem Bett ein neues Kleid oder eine Puppe findet; es reibt sich die Augen und glaubt erst gar nicht dran. Liebe? Ach, so ein armseliger Hofmeister wie ich! Sie soll mich meinetwegen auch fernerhin ›kleiner Pedant‹ nennen, wenn es ihr Spatz macht. Ich behalte mein Herz und mein Geheimnis für mich. Au revoir, mon cher journal! Ich höre Sigismund nach mir rufen und werde nun doch noch einmal zur Gesellschaft hinunter müssen.”

Der Hauslehrer verschloß das Tagebuch bedächtig in seinem Schreibtisch. Er hatte angenommen, daß er für heute seines Dienstes ledig sei. Die Damen des Hauses – Frau Baronin von Birkheim mit ihren Töchtern – hatten sich mit der reizend gesprächigen und reizend kleinen Marquise von Mably in einer Laube niedergelassen, als er sich für heute höflich verabschiedet hatte. Das lange Töchterchen der Marquise, Adelaïde, genannt Addy, hatte im Entzücken über Sigismunds russisches Pony ihre gewöhnliche Verträumtheit abgelegt und jagte mit den andern Kindern im weitläufigen Park umher.

Aber inzwischen war ein Wagen angefahren. Das Gefährt schüttete, nach den lebhaften Stimmen zu urteilen, eine ganze Anzahl Gäste aus. Und schon hörte der Lehrer, wie der Schwarm der Kinder – die drei Brüder Sigismund, Fritz und Gustav mit Fanny, der jüngsten ihrer Schwestern, und Adelaïde von Mably – samt Hunden und Pony im Park heranlärmten.

Gleich darauf kam Sigismund ins zweite Stockwerk emporgehastet und trug die Unruhe von unten in Hartmanns beschauliches Eckzimmer.

“Möchten Sie wohl die Güte haben, Herr Hartmann, und noch ein wenig in den Salon herunterkommen? Herr Pfeffel und Herr Lerse aus Kolmar sind angekommen!”

Sigismund, ein strammer Bursch von dreizehn Jahren, in der blauen Uniform der Pfeffelschen Militärschule, war ein wenig erregt. Er war Schüler des Pfeffelschen Instituts im nahen Kolmar, hatte aber den heutigen Sonntag im väterlichen Hause verbracht. Wenn nun zwei seiner wichtigsten Lehrer erschienen, so wurde wohl auch über seine Leistungen gesprochen. Und so hatte er sich von sämtlichen ankommenden Freunden des Hauses gerade nur jene zwei Herren gemerkt.

Hartmann legte die Hände auf den Rücken und betonte seinem ehemaligen Schüler gegenüber, den er für die Militärschule vorbereitet hatte, eine gewisse Würde.

“Sigismund, Sie laufen vor Ihren Lehrern fort? Und wo sind Ihre kleinen Brüder Fritz und Gustav? Und was für Herrschaften sind außerdem noch angekommen?”

“Die Türckheims – und Herr Direktor Pfeffel und Herr Hofrat Lerse – und Demoiselle Pfeffel. Und Fritz und Gustav sind unten an der Treppe. Kommen Sie mit hinunter?”

Des schlanken Erziehers bemächtigte sich immer eine verlegene Unruhe, sobald er in eine Gesellschaft sollte. Doch verriet er das äußerlich wenig; zumal vor dem ungeduldigen Knaben blieb er in einer gemessenen Haltung. Er trat vor den Spiegel und beschaute sein fein rasiertes, etwas blasses Gesicht; er zupfte, strich und rückte Frisur, Zopf und Jabot zurecht; er fuhr mit der Bürste über die langen braunen Rockschöße und warf einen raschen Blick über Kniehose, Strümpfe und Schnallenschuhe. Alles in Ordnung! Durch einen energischen inneren Befehl raffte sich der immer ein wenig lässig gebückte Träumer zu einer salonmäßigen Haltung auf und verfügte sich hinunter in die adlige Gesellschaft.

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