Schilderungen aus der kleinen Stadt

Schilderungen aus der kleinen Stadt – John Henry Mackay.

Dieser Sammelband beinhaltet Erzählungen des Autors, der in Schottland geboren wurde, aber schon 1865 mit seiner deutschen Mutter zurück in deren Heimatland zog.

Schilderungen aus der kleinen Stadt

Schilderungen aus der kleinen Stadt.

Format: eBook

Schilderungen aus der kleinen Stadt.

ISBN eBook: 9783849656393.

 

Auszug aus dem Text:

 

Die letzte Rauchwolke seiner Zigarre verflog an der Decke, und er sah nach der Uhr.

Es war nach zwei. Ein langer Nachmittag lag jetzt vor ihm. Er ging daher auf sein Zimmer, warf sich auf das Bett und schlief länger als eine Stunde, bleiern und traumlos.

Verwundert fuhr er in die Höhe, als er erwachte. Er mußte sich darauf besinnen, wo er war, und es war mit einem Gefühl des Mißbehagens, daß er die Treppe hinunterstieg. Ihm war, als solle er nun an die Erfüllung einer unangenehmen Pflicht gehen, und er wünschte hinter sich zu haben, was ihm bevorstand.

Dann trat er vor die Tür.

Die Hitze war noch gestiegen. Um diese Stunde des Nachmittags stockte das Leben.

Eine lange Straße zog sich vor ihm hin—die Hauptstraße der
Schwesterstadt, die längste und belebteste in beiden Städten und der
Mittelpunkt des Handels und Wandels beider.

Wie oft er sie als Knabe durchschritten hatte, hinauf und wieder hinunter, und wieder hinauf!

Wenig schien sich an dem äußeren Ansehen der Stadt verändert zu haben. Einige Lücken, wo früher auf steinigem Rasen Zirkus- und Karussellbesitzer ihre flüchtige Leinwand gespannt, waren ausgebaut worden, und nur die Nebenstraßen noch öffneten sich dem Blicke nach dem Flusse hin. Die neuentstandenen Häuser zeigten das Bestreben, Schritt zu halten mit modernem Stil. Gesimse und Balkone hingen überall an ihnen herum, und in ihren Erdgeschossen waren Läden und Bierhallen entstanden mit hohen Fensterscheiben und lauten Aushängeschildern, die mit dem leuchtenden Gold ihrer Lettern die armen, verblaßten und altertümlichen Inschriften der alten Firmen verdrängten . . .

Der Schwindel des Handels, welcher die Arbeit mordet, trieb sein
Unwesen diese ganze Straße entlang.

Arme Arbeiter! Des Sonntags kamen sie, weither aus den Dörfern und Flecken, mit ihren schweren Schuhen, die Männer mit plumpen Stöcken und die Weiber mit ungeheuren, unförmigen Parapluies, halb noch bedeckt mit dem Schweiße und dem Staub der Woche, ganz noch erdrückt unter der Wucht ihrer Sklaverei, kamen sie, um einzukaufen, was sie brauchten, das heißt, drei-, vier-, fünf- und zehnfach verteuert einzutauschen, was sie selbst erschaffen hatten in anderer Form: die Arbeit. Verlegen, unsicher, bittend und schüchtern traten sie in die “Geschäfte” und ließen sich von schwatzenden Juden, und Christen, die schlimmer waren als die Juden, das Fell über die Ohren ziehen, daß es nur so flutschte.

In erschreckender Menge hatten sich die offenen Geschäfte in diesen paar Jahren vermehrt. Gleich aber war der trostlose, nüchterne Eindruck dieser Straße geblieben, und vom Morgen bis zur Dämmerung glich sie noch immer in ihrem reizlosen, staubigen Grau einem alternden, ungekämmten und ungewaschenen Weibe.

Grach ließ seine Blicke überall hin gehen. Eigentümlich verändert schien ihm alles—: fremd und doch bekannt. Aber alles war kleiner geworden, zusammengeschrumpft und, wie alte Leute, in sich zusammengesunken.

Größer sieht das Kind die Welt, kleiner sieht sie der Mann.

Vor den Läden lungerten die Kommis, an den Brunnen standen die Mägde und schrieen sich an. Warum schrieen sie so laut? Stritten sie sich? Nein, es war nur eine “gemütliche Unterhaltung”. Aber dieser Dialekt war breit, geeignet nur zu einem lauten Sprechen, und schwer verständlich für den Fremden. Grach bemühte sich, Worte und Sätze der Vorübergehenden aufzufangen und verstand meist, was sie sagten. Hatte er selbst früher so gesprochen?

Und wie die Menschen sich grüßten! Mit beängstigender Sorgfalt überspähten sie die Straße, knickten, den Arm nach auswärts in einem spitzen Winkel und zogen oder rissen dann den Hut herab, entweder steil in die Luft hinaus oder hinunter bis fast auf den Boden. “Ihr Diener”, sagten sie dabei, “Ihr Diener”—und ein langer Titel folgte.

Die unverhüllte Neugier, mit der die Menschen ihn an- und ihm nachsahen, begann Grach zu ärgern. Ihre Blicke wurden ihm lästig, und er bildete sich ein, von ihnen erkannt werden zu müssen. Er hatte vergessen, daß kein Fremder diesen Blicken entging.

Er ging schneller. Diese Nebenstraße mußte über die Brücke nach dem jenseitigen Ufer führen. Er schlug sie ein.

Eine junge Dame kam ihm entgegen. Sittsam die Blicke zu Boden gesenkt, den Schirm in der Länge einer kleinen Ulanenlanze gegen die Brust gedrückt, eingeschnürt und aufgeputzt mit Bändern und Bauschen, trippelte sie daher, und gegen seinen Willen mußte er lachen, erst heimlich, dann herzlich und offen.

So war, genau so war schon damals alles gewesen: diese ängstliche Unsicherheit im Verkehr, diese feige Rücksichtnahme auf tausend und abertausend in Watte sorgsam gehegter Vorurteile, diese engbrüstige Steifheit, die pappedeckelne Würde—wie kannte er das alles, wie erkannte er das alles wieder!

Und über all dies lachte er, hatte er gelernt zu lachen.

Und abermals lachte er, als er über die Brücke ging, die alte Brücke, und sah, daß alle Scheiben in den Gaslaternen heil und unverletzt waren.

Wie, wurden sie nicht mehr geschlagen, die Schlachten der Ehre?— War Waffenstillstand zwischen den erschöpften Schwestern geschlossen?—Oder aber—war Versöhnung—Friede—aber nein, es war ja Wahnsinn, daran zu denken! . . .

Eine komische Stadt! Eine komische, kleine Stadt! murmelte Grach vor sich hin.

….

 

 

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