Stille Helden

Stille Helden – Ida Boy-Ed

Ein Zeitgemälde um Liebe, Frauen und das Leben. Die in Lübeck verstorbene Schriftstellerin Ida Boy-Ed verfasste über siebzig Romane und Erzählbände und hatte großen Einfluß auf das kulturelle Leben der Stadt.

Stille Helden

Stille Helden.

Format: eBook.

Stille Helden.

ISBN eBook: 9783849654870

 

 

Auszug aus dem Text:

Eine Frühlingsnacht endete, und das neue Tagewerk begann. Droben im sehr geräumigen Erker ließ sich der alte Herr in seinen Stuhl helfen. Er lag jetzt die Nächte oft wachend und verzehrte sich voll Ungeduld, bis zwischen den Spalten der Vorhänge ein grauer Schein bemerkbar wurde. Diesen grauen Schein der Morgendämmerung nannte er schon “Tag”, und damit gestand er sich das Recht zu, seinen Dienern zu klingeln. Denn sein treuer Leupold konnte den mächtigen Körper nicht mehr allein regieren; ein zweiter Diener hatte angenommen werden müssen. Und so zwang sich der alte Herr mit ingrimmiger Selbstbeherrschung, noch ein neues Gesicht in seiner Nähe zu ertragen.

Stöhnend und durch das vergebliche Bemühen, selbsttätig sich zu bewegen, seinen Helfern die Handhabungen noch erschwerend, kam er in die rechte Lage. Nun saß er leidlich behaglich im gewaltigen, mit Rindleder bezogenen Stuhl, der sich durch allerlei ausgetiftelte und glatt arbeitende Mechanik mit leisem Fingerdruck in verschiedene Schräg- und Steilstellungen bringen ließ. Auch eine breite Tischplatte kam von der Erkerwand geräuschlos nahe und zog sich wieder dahin zurück, je nachdem ein kaum bemerkbarer Knopf an der äußeren rechten Armlehne berührt wurde. Auf ähnliche Weise konnten von der gegenüberliegenden Wand ein Bücherregal und eine Schreibgelegenheit herangeholt werden. Diese Beweglichkeit all der toten Dinge gab ihnen etwas von dem Leben treuer, aufmerksamer und stumm wartender Tiere. Sie machte den seit einigen Monaten halbseitig Gelähmten unabhängiger von seiner Bedienung und gewährte ihm, was seit langen Jahren sein höchstes Bedürfnis gewesen war: Stunden ungestörter Einsamkeit. In ihr konnte sein Kopf am raschesten und gesammeltsten arbeiten. Jetzt in dieser frühen Stunde mußte der bewegliche Tisch das erste Frühstück tragen. Mit nie erlöschendem Zorn aß der alte Herr diesen Haferbrei und den Hühnerflügel oder was die ärztliche Verordnung ihm sonst noch an leichter Kost gestattete.

“Das hast du nicht gedacht, Leupold, daß du mich mal päppeln müßtest wie ’ne Wöchnerin,” sagte er.

“Es ist ja nur vorübergehend, Herr Geheimrat,” tröstete Leupold und schob noch handlicher Teller und Löffel zurecht.

“Wenn er wüßte, wie er seinen Ton gegen mich verändert hat!” dachte der Geheimrat erbittert. “Na ja – wie denn nicht! Früher war ich sein Herr, jetzt ist er im Grunde der meine.”

Aber in Leupolds etwas bräunlichem Gesicht und in seinen klugen dunkeln Augen war wirklich nichts von Überhebung zu lesen. Sorgsam, mit dem freundlich-gleichmäßigen Ausdruck, den er sich in mehr als fünfundzwanzig Jahren angewöhnt hatte, schnitt er das weiße Fleisch von dem Brustknochen des jungen Huhnes herab. Wenn man einem mächtigen, übermäßig beschäftigten großen Herrn dient, dem das Blut rascher durch die Adern läuft als durchschnittlichen Menschen, dann lernt man Gleichmut. Den Leupolds hatte das Haus nur einmal erschüttert gesehen – an jenem Abend, als unten im Speisesaal ein festlicher Tisch für ein Herrendiner schon fertiggedeckt stand und die Gäste jeden Augenblick eintreffen konnten. Da, gerade als Leupold den Frack bereithielt, als der Herr schon den Arm ausstreckte, um hineinzufahren, da wurde der Riese jäh blaurot im Gesicht – stieß einen rauhen Laut aus – taumelte und fiel. … In der Dienerschaftsstube flüsterte man davon, Leupold habe nachher geweint. Aber niemand erlaubte sich, ihn hierauf anzureden.

Jetzt war alles auf dem Frühstückstisch so zurechtgestellt und vorbereitet, daß der Halbgelähmte ohne weitere Hilfe sein Mahl verzehren konnte, und Leupold zog sich zurück.

Wie er so in seiner schlichten dunkelblauen Livree durch das große Zimmer der Ausgangstür zu schritt, sah sein Herr ihm nach. Eine Aufwallung von Rührung stieg in ihm empor.

“Weil ich nicht mehr recht schlafen kann, hetz’ ich ihn aus dem Bett! Was ist das für ein brutaler Unsinn. Mißbrauch der Herrengewalt? … Und er muckt nicht mal auf … Anhänglichkeit oder Sklavensinn!? …”

Aber sein Herz sagte ihm: Anhänglichkeit! Denn auch er dachte manchmal an jenen Augenblick, wo er von den dunkeln Grenzen noch einmal zurückerwacht war zum Leben – auch eine Art von Wiedergeburt – – wie ihm das Bewußtsein kam – wie er die Lider öffnete – da sah er in ein treues, angstvolles Auge, in dem Freude aufleuchtete, als er zu sprechen begann.

Nur das Auge des Dieners – eines ergebenen Menschen – nicht das Auge seines Sohnes! –

Ah – dieser Sohn … wo war der in jener Stunde! … “Na, er wird ja mal mit meinem Testament nicht unzufrieden sein!” dachte er noch in bezug auf Leupold.

Er versuchte zu essen. Wie sollte es schmecken! Ein so mächtiger Körper muß Bewegung haben, wenn sein Haushalt in Ordnung bleiben soll …

Bewegung! Er wußte wohl: die kam ihm nie wieder. Jeder Tag, diese nächste Minute, noch ehe er den Haferbrei bezwungen, konnte ihn die unsichtbare Faust zum zweiten Male treffen. Und ein großes, furchtbares und dennoch seltsam feierliches Vorgefühl sagte ihm: dann traf sie so gut, daß es das Ende ward …

…..

 

 

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