Visionen aus der Dämmerung – Skizzen und Erzählungen

Visionen aus der Dämmerung – Skizzen und Erzählungen – Oskar Panizza

Oskar Panizza war ein deutscher Schriftsteller, Satiriker und Publizist. Dieser Band beinhaltet viele seiner bekanntesten Werke, darunter “Das Wachsfigurenkabinett”, “Der Stationsberg”, “Die Menschenfabrik”, “Eine Mondgeschichte”, “Abschied von München” u. v. a.

Visionen aus der Dämmerung - Skizzen und Erzählungen

Visionen aus der Dämmerung – Skizzen und Erzählungen.

Format: eBook

Visionen aus der Dämmerung – Skizzen und Erzählungen.

ISBN eBook: 9783849656812.

 

Auszug aus dem Text:

Es war im alten Nürnberg. Ich war auf der Reise und hatte etwas Eile. Wir mochten um Anfang Oktober sein. Auf dem Marktplatz war ein großer Jahrmarkt aufgeschlagen, oder »Dult«, wie dort die Leute sagen. Es war schon gegen Abend und bei der vorgerückten Jahreszeit schon etwas dunkel. Trotzdem war der Verkehr zwischen den Buden noch ein ziemlich reger. Nach Abschluß meiner Geschäfte führte mich mein Weg über den Marktplatz, und ich war eben im Begriffe nach Hause zu gehen, als ich auf einer der Schaubuden, vor der im Gegensatz zu allen anderen zu meiner Verwunderung kein Ausschreier stand, die Überschrift las: »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi.« – Ich bin von Haus aus allen religiös-theatralischen Vorstellungen abgeneigt, und ich wollte mich mit Abscheu von der Idee abwenden, einen so heiligen Stoff mitten in diesem Jahrmarkts- fest, plastisch oder beweglich, mit Draht-Puppen, gemalt, geformt, geschnitzt oder gar tragiert dargestellt zu sehen. Gleich drauf kamen aber in meinem Kopf Schlagwörter wie »Nürnberg,« – »Spielwaren,« – »Puppen,« – »Figuren auf Lebkuchen« zum Vorschein. Ich erinnerte mich des großen Rufes, den die Nürnberger Arbeiten der Art genießen, und mehr aus Interesse für den mechanischen Apparat, mehr aus Neugier für die Marionetten-Künste kehrte ich um und schritt auf die Bude zu. – »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi« – las ich noch einmal auf der gemalten Überschrift.

Nur einzelne Leute standen vor der sehr primitiv gehaltenen Barake. Und diese gafften, wie das so Usus ist. Der Preis schien mir etwas höher als bei den andern künstlerischen Veranstaltungen. Ich trat ein. Ein segeltuch – überspannter, mit Lampen etwas düster beleuchteter Raum, in dem sich ein Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts und aus allen Ständen des Volkes befand. »Sie kommen gerade recht«, – sprach mich der Budenbesitzer, der ein Sachse war, an – »soeben beginnt die Vorstellung.« Im Hintergrund der Bude, wohin Alles erwartungsvoll blickte, befand sich ein erhöhtes Gerüst, eine Art Bühne, die aber geschlossen war. Doch sah man an den durchschimmernden Lampen, daß sich dort etwas vorbereite. Und eben, als der Budenbesitzer die obigen Worte gesprochen hatte, ging der Vorhang auf, und Alles drängte nun vor bis zur Rampe.

Auf einer Estrade, die einige Fuß über dem Erdboden erhaben, und ringsum mit Soffiten-Werk entsprechend verkleidet war, befand sich eine große Gruppe dunkler, steifer Gestalten, sitzend, bunt gekleidet, zum Teil mit höchst pathetischem Gesichtsausdruck, aber regungslos, die einen schief, die andern gerad, die dritten buckelig, glotzend, stierend, lächelnd, entrüstet, vor Wehmut zerfließend, wie es gerade der Moment oder der Schauspiel-Part erheischte, an einem Tisch zusammen vereinigt. Es war kein Zweifel, es sollte das die Abendmahlszene vorstellen. Das Arrangement war das wie auf dem bekannten Bilde von Leonardo da Vinci: Eine nach vorn offene, weiß gedeckte Tafel; die Brüche im Tischtuch von der Büglerin stark prononciert, damit das Tafeltuch als unzweifelhaft neu erscheint, wodurch der Begriff des Feierlichen erhöht wird. Die ganze hintere Front gegen den Zuschauer zu mit Jüngern und Christus in der Mitte dicht gepfropft besetzt, aber doch so, daß auf den zwei schmalen Seitenkanten noch zwei bis vier Jünger Platz nehmen, die ja das Publikum noch immer von der Seite sehen kann, und, damit auch die Tafel nicht zu lang werde. Meistens nimmt man zwei untergeordnete Apostel, den Bartholomäus oder jüngeren Jakobus, für diese Seitenkanten, da ja das Hauptinteresse sich doch der Mitte zuwendet, wo Christus sitzt; und gewöhnlich begnügt man sich ein paar gut-profilierte Köpfe, die in nicht zu schreienden Kaftanen stecken, hier an die Enden des Tisches zu placieren, damit das Publikum hier zwar einen wohlthuenden Abschluß finde, aber ja nicht mit der Aufmerksamkeit abgelenkt werde.

Es ist klar, daß die späteren Apostel Paulus und Matthäus hier bei der Einsetzung des Abendmahls noch keine Verwendung finden können. Denn Paulus ist eigentlich Extraordinarius, hat mit der Zwölf-Zahl gar nichts zu thun, und hat so zu sagen auf eigene Verantwortung die Apostelgeschäfte ausgeübt, und Matthäus wurde an Stelle des später ausgeschiedenen Judas Ischariot gewählt. Dieser letztere ist aber hier noch von der größten Wichtigkeit, und wird, wie der Leser bald sehen wird, eine imposante, eine imponierende, Alles elektrisierende Rolle spielen. Die ganze Gesellschaft war durch sechs am Boden durch ein Brett gegen das Publikum hin gedeckte Lampen aufs grellste beleuchtet. In der Mitte Christus mit einer fein gearbeiteten, blonden Perrücke; er hat die größte Ähnlichkeit mit einem englischen Lord, wie man sie bei uns auf dem Theater in komischen Stücken darstellt; nur ganz bartlos; die gleiche blasierte Langweile auf dem regungslosen Gesicht; man erwartet jeden Moment, daß er den Mund zum Gähnen öffnet; der Blick, regungslos blau den Beschauer anstarrend, hat etwas Lammfrommes, Trauriges, Kindlich-Unbewußtes; der bleiche, glatte Unterkiefer ragt etwas zu weit vor, und fordert zu Vergleichen mit Repräsentanten aus dem Tierreich auf; der Wachsguß ist etwas zu fettig ausgefallen; man meint Christus schwitze Fett, was nicht zur Heiligkeit beiträgt. Vor ihm auf einem zinnernen Teller liegt ein Karpfe aus dem Bach Kidron; auf dem Tisch verteilt stehen in Glasschaalen Brode und einige Äpfel mit auffallend roten Backen. Christus streckt mit brünstiger Geberde die beiden lang-gefalteten Hände über den Fisch aus; doch ist es offenbar, er kann zu keiner Verteilung der Speisen, oder zu einem Brechen der Brode schreiten, denn beide Hände sind vorn an den Fingerspitzen zusammengepappt. – Das Publikum und ich waren beschäftigt, die einzelnen Gruppen und Persönlichkeiten in der Weise durchzumustern: und es herrschte eine lautlose Stille, als der Budenbesitzer plötzlich mit weinerlich-sächsischem Pathos laut die Worte in’s Publikum rief: »Wahrlich, ich sage Euch, Einer unter Euch wird mich verraten!« – Nun ist es klar, daß diese Worte als aus dem Mund Christi hervorgehend gedacht waren. Sei es nun, daß der Sprach-Mechanismus dieser Hauptfigur nicht in Ordnung, oder durch vieljährigen Gebrauch ausgelaufen, oder daß er ihn gar niemals besessen, in jedem Falle konnte Christus die ihm zukommenden Worte nicht sprechen; er bekräftigte aber das eben Gehörte durch ein eigentümliches, norddeutsch klingendes und etwas schnarrendes »Nja!« –

Dieses »Nja« war so sonderbar prononciert, daß ich es dem Leser etwas analysieren muß: zuerst kam ein schnurrendes Geräusch, dann hob sich die Oberlippe und zeigte zwei Reihen vortrefflich eingesetzter Zähne fest aufeinandergebissen; da die Holzpfeife, welche das schnurrende Geräusch hervorbrachte, ziemlich dicht hinter den Kiefern saß, so wurde der Ton jetzt bei geöffneten Lippen heller, hatte aber gleichzeitig einen gaumigen, holzigen Clarinettentimbre, der übrigens, wie ich glaube, beabsichtigt war; nun sprang der Unterkiefer auf, die Mundhöhle wurde sichtbar; die gleiche Feder, die dies bewirkte, mußte auch noch ein anderes Register öffnen, denn im gleichen Moment, und direkt anschließend an das schnurrende »N«, sprang ein helles, tönendes, frisches »ja!« heraus, welches insofern vortrefflich konstruiert war, als jetzt der Mund durch das etwas Offen-bleiben der Lippen einen zufriedenen, heiteren Ausdruck annahm, was doch mit dem bejahenden Charakter der Partikel »Ja!« durchaus im Einklang steht. – Nun kommen aber die Fehler hintennachgehinkt: Nachdem die Kiefer sich wieder geschlossen, blieb die Oberlippe viel zu lang oben, da Lippe und Kiefer getrennte Mechanismen hatten; die obere Zahnreihe mit ihren breiten, wie mit dem Meißel abgehackten Zähnen, gab dem ganzen Gesicht etwas peinlich Lustiges, etwas Lachendes; und als endlich die Oberlippe sich langsam herabsenkte, bekam der Mund einen solchen Ausdruck des Müden, des plötzlich Erstarrenden, Leichenähnlichen, wie ihn der Künstler gewiß nicht beabsichtigt hatte.

Gleichzeitig mit dem »Nja!« aber begann Christus Kopf und Arme ruckweise in die Höhe zu heben und die wächsernen Hände wie segnend über den Karpfen vor ihm auszustrecken. Dann sank er wieder zu der halb geknickten und resignierten Positur, die er anfangs eingenommen hatte, herab. Dieser Aktus hatte eine vehemente Wirkung auf das Publikum. An der veränderten Atmungsweise aus dem Dutzend oder wie viel Leute, die wir beisammen waren, konnte man dies deutlich abnehmen. Das blaue Christus-Auge, welches bei etwas veränderter Kopfstellung nun aus einer schrecklich breiten, wächsernen Apathie herausstarrte, blieb fast gerade mir gegenüber stehen und schaute mich an. Kinn, der rechts im Guß zusammengeflossene rote Mund, Nase und die massigen Fleischteile waren zweifellos auf größere Entfernung berechnet; aber wie schön war dieses blaue Auge! Wenn der Blick des wirklichen Heilandes nur halb so innig war, dann mußte er alle Frauen Jerusalems in dem Maße entzücken, daß sie nach Hause zu ihren Männern liefen, und unter Androhung der Entziehung aller weiblichen Gnadenmittel erklärten, ein Mensch mit so schönen blauen Augen dürfe nicht hingerichtet werden. – Der Budenbesitzer hatte nach den schwerwiegenden, Christi Mund entnommenen Worten: »Einer unter Euch wird mich verraten!« offenbar dem Publikum Zeit gelassen sich zu orientieren. Er mußte aber auch warten, bis der Sinn dieser Worte in die Wachsköpfe der Jünger eingedrungen war. Und dieß schien nun wirklich der Fall gewesen zu sein. Denn als der artistische Leiter, ich meine der Budenbesitzer, noch einmal mit kräftigem Dresdener Dialekt, eindringlich, und mit echt protestantischer Verve betont hatte:

»Wahrlich, ich sage Euch, Einer unter Euch wird mich verraten!« – und Christus wieder mit zerschmelzendem Rythmus das breite Lords-Gesicht erhoben, die prachtvoll-weißen Hände über den Fisch ausgestreckt, und ein klingendes »Nja!« herausgestoßen, begann sofort eine wächsern-glänzige Revolution unter den Jüngern. Jakobus (der Ältere) und Andreas, ersterer in einem schottisch-karrirten Überwurf, die beide an der, vom Publikum aus betrachtet, linken äußersten Tischecke einander zugewandt saßen, und von denen der letztere bis dahin konstant in die rechte Soffite, Jakobus dagegen auf eine vor ihm stehende Schaale mit roten Äpfeln geblickt hatte, begannen nun beide mit bedenklicher Miene die Köpfe hin und her, von den Jüngern zum Publikum und vom Publikum wieder zu den Jüngern, zu drehen, als wollten sie sagen: »Das ist ganz unmöglich! Diese Geschichte mit dem »»Verraten«« ist ganz unmöglich; wirklich ganz unmöglich!« – Einige Leute im Publikum fröstelnd getroffen von den schwarz lackierten Augen des Jakobus (des Älteren), räuspern verlegen und schauen vorsichtig um, ob sich der Verräter unter den Zuschauern befinde. Die ruhelos schnurrenden Köpfe der beiden Jünger bleiben schließlich dicht einander gegenüber stehen, und durchbohren sich gegenseitig mit glänzigstarrenden Blicken, als röchen sie mit den Augen gegenseitig auseinander heraus, wer von ihnen heute noch »den Herrn« verraten werde.

Zweifellos war auf der andern Seite des Tisches eine ähnliche Serie von Entrüstungen vor sich gegangen, ohne daß ich sie beobachten konnte; ich schloß dies daraus, daß die oben schon genannten Bartholomäus und jüngerer Jakobus, von denen der letztere einen gelbseidenen Kaftan an hatte, und die zu Anfang ruhig und gelassen dort saßen, nun mit Händen und Oberkörper zum Tisch hineingelümmelt waren, und trotzig und wie herausfordernd zu Christus hinüberschauten. Der artistische Arrangeur hatte hier offenbar ein große Schwierigkeit zu überwinden und wäre durch diese Gruppe beinahe zu Fall gekommen. Zum Glück hatte der jüngere Jakobus, der eine von den beiden etwas ungeschlachten Jüngern, die hohlgemachte Hand am Ohr, so daß man sah, er horchte, und, was ihre wulstigen, dicken Lippen frugen, war etwa: »Was ist da gesagt worden von »»Verraten««? Haben wir recht gehört? Wer verraten? Wie verraten? – Beim »»Verraten«« müssen wir bitten, unsere Namen auszuschließen!« – Eine sehr gute Geste hatte sich Matthäus einstudiert, der als späterer Evangelienschreiber seinen Platz gleich links vom »Herrn« hatte, und der mit der rechten Hand immer in bestimmten Pausen an die Stirne fuhr, als besänne er sich, ob denn ein ähnlicher Verdacht früher schon ausgesprochen worden sei, im Üebrigen aber in der maßvollen Zurückweisung desselben mit seinen Genossen gleichen Sinnes war. Daß Thomas, der später durch seinen Unglauben soviel Aufsehen gemacht, und der wiederum links von Matthäus saß, ungläubig sein Haupt – nun schon seit fünf Minuten – schüttelte, war vom Mechaniker dieser Gruppe zu erwarten gewesen, und da in diesem Falle der Akteur – Thomas – von jedem Übertreiben sich fern hielt, also beim Schütteln auf der Höhe der Exkursion nicht jeweilig mit dem Blick das Ohr seines Nachbarn zur Rechten oder Linken (dort saß Philippus) streifte, so war sein ewiges Verneinen durchaus im Rahmen des Protestes der Andern.

In all dieser fleißigen Bewegung, diesem Fragen, Besinnen, Kopfschütteln, Entrüstet-Thun ec. war aber Christus, dieser schöne Mann in der Mitte, vollständig apathisch, und so zu sagen stocksteif; er kümmerte sich nicht im Geringsten um die Vorgänge um ihn, sondern blickte ruhig auf seinen Fisch. –

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