Zwielicht

Zwielicht – Heinrich Mann

“Zwielicht” ist nicht nur eine fesselnde und interessante, sondern auch überaus überzeugende Geschichte. Die Hauptfigur ist eine kranke Frau, die sich in ein altes Landhaus zurückzieht, von dem sie bald feststellt, dass es dort spukt. Sie bemerkt, dass sie, wahrscheinlich aufgrund ihrer schlechten Gesundheit und dem ständigen Konsum von Betäubungsmitteln, die Fähigkeit besitzt, die Vormieterin des Hauses, eine Frau mit Namen Margaret Capel, zu sehen. Diese geisterhafte Besucherin war zu Lebzeiten eine Schriftstellerin von schnell vorübergehendem Ruhm gewesen, und ihre Heimsuchungen werden offensichtlich von dem Wunsch angetrieben, ihre Lebensgeschichte aufschreiben zu lassen. Sie überredet die Kranke, diese Aufgabe zu übernehmen, und lässt ihr einige Tagebücher, Briefe und Notizen zukommen, die die dramatische Geschichte der toten Frau, in der der Arzt der Kranken als auch ein renommierter Londoner Verleger wichtige Rollen spielen, enthüllen. Das Buch steckt voller kleiner Zwischenfällen und jenen klugen Charakterstudien, die so viel zur Lebendigkeit und zum Realismus der Geschichten der Autorin beitragen.

Zwielicht

Zwielicht.

Format: Taschenbuch/eBook.

Zwielicht.

ISBN Taschenbuch: 9783849669744

ISBN eBook: 9783849660383

 

Auszug aus dem Text:

 

Vor ein paar Jahren, als ich noch auf der Schwelle der Krankheit stand, die sich später meiner bemächtigte, mietete ich ein kleines, möbliertes Haus in Pineland. Ich selbst besichtigte das Haus gar nicht erst vorher, sondern unterzeichnete den Vertrag auf Veranlassung eines örtlichen Maklers, der sich als genauso einfallslos erwies wie die meisten seiner Kollegen.

Eine über drei Monate dauernde Nervenentzündung, die sich nur mit Hilfe einer Unmenge Medikamente halbwegs ertragen ließ, hatten mich meiner Umgebung gegenüber vergleichsweise gleichgültig gemacht. Ich musste umziehen, weil ich nicht nur mit meinen Freunden haderte, die über mein krankes Aussehen tuschelten, sondern auch mit meinen Bekannten, die keinerlei Veränderung an mir bemerkten. Eine meiner Schwestern, die ich genauso liebte wie sie mich, verärgerte mich durch ständige Besuche und schlecht versteckte Besorgnis. Eine andere war etwas weniger lästig, spielte aber mein Leiden dauernd herunter und sprach so leichtfertig über Nervenentzündungen, als seien sie vergleichbar mit Zahnschmerzen oder einem Hühnerauge. Ich fand keinen echten Schlaf mehr, und wenn ich nicht gerade an der Grenze zum Wahnsinn wandelte, betrachtete ich mich selbst als extrem belanglos. Vernünftiges Verhalten war nicht mehr möglich, und ich wusste, dass es besser für mich wäre, allein zu sein.

Ich möchte mich weder an diese miesen Tage noch an die viel schlimmere Zeit vor meiner Abreise erinnern, als ich der Gnade geldgieriger Ärzte und gleichgültiger Krankenschwestern ausgeliefert war, ständig abhängig von schlecht ausgeführten Dienstleistungen und überbezahlter Achtlosigkeit – und das alles während einer so genannten Erholungskur. Dennoch möchte ich ein höchst merkwürdiges Ereignis, oder, besser gesagt, eine Reihe von Ereignissen schildern, die meinen Aufenthalt in Pineland unvergesslich machten und dafür sorgten, dass ich nach meinem Aufenthalt dort von einer Geschichte besessen war, die in der ersten Nacht nach meiner Ankunft ihren Anfang nahm und ihr Ende in den langen, von Fieber erfüllten Nächten danach fand. Ich weiß selbst kaum, wie viel an dieser Geschichte wahr und wie viel Fiktion ist, wofür die Briefe verantwortlich sind und wofür das Morphium.

Das Haus bei Pineland hieß Carbies, und es wurde von Anfang an von Margaret Capel und Gabriel Stanton heimgesucht. Schon ziemlich früh während meines Aufenthalts muss ich darüber nachgedacht haben, über sie zu schreiben, da ich wusste, dass es keinen besseren Weg gab, mich von ihren Phantomen zu befreien, als zu versuchen, sie mit Feder und Tinte stofflich zu machen. Ihre Briefe und einige Fetzen eines unvollendeten Tagebuchs halfen mir dabei, ebenso ein Notizbuch mit vielen leeren Seiten, die Geschwätzigkeit des Dorfapothekers und der von der Sonne ausgeblichene Gottesacker bei der alten Kirche.

Aber beginnen wir am Anfang.

Es war eine lange Fahrt vom Bahnhof Pineland nach Carbies. Ich hatte mein Dienstmädchen vorausgeschickt, fand aber keine Spur von ihr, als mein klappriger Einspänner am Gartentor einer Vorstadtvilla hielt – einem Haus, das “hoch oben” stand und mit “wildem Wein, der über seine weiß getünchten Wände emporkletterte” bewachsen war. Soweit die mir versprochenen Fakten. Ansonsten hatte es nicht mehr Ähnlichkeit mit dem exquisiten und abgelegenen Schmuckkästchen, das ich im Kopf und der Makler in seinen Briefen beschrieben hatte, als eine von Matisses Landschaften mit einem Gemälde von Ruysdael.

Ich war damals zu müde, um wirklich enttäuscht zu sein. Auf meine Anweisung waren zwei weitere weibliche Bedienstete eingestellt worden, und diejenige, die mir die Tür öffnete, erwies sich als ein fröhlich aussehendes, junges Ding vom Typ “Grinsebacke.” Sie nahm mir das Handgepäck ab und ging  voraus in den Salon, wo riesige Fenster und ein helles Feuer mich für einen Augenblick die schäbige Einrichtung, den abgenutzten Teppich und die schimmlige Tapete vergessen ließen. Auf einem aus Furnierholz gearbeiteten Tablett wurde mir eine demolierte Kanne mit Tee gebracht. Die Literaturbeilage der Times und eine amerikanische Zeitschrift waren alles, womit ich mich beschäftigen konnte. Und beide erwiesen sich als unzureichend. Als ich mich umzusehen begann, wurde mir merkwürdigerweise fast sofort bewusst, dass mein neuer Wohnsitz von einer Schwester oder einem Bruder der schreibenden Zunft bewohnt gewesen sein musste. Und das war keine übersinnliche Wahrnehmung. Der riesige Schreibtisch stand seitlich im Bogenfenster, da nur “wir” wissen, wie man ihn richtig platziert. Der dazu gehörende Stuhl sah luxuriös genug aus, um ihn sofort ausprobieren zu wollen, und in einer der Ecken stand ein Fußschemel und ein großer Papierkorb – alles unvereinbar mit den billigen und schäbigen Wohnzimmermöbeln. Hätte ich nur mein Manuskriptpapier, Tinte in dem großen Glasgefäß vor mir, und einer meine beiden Griffel zur Hand gehabt, hätte ich dann und dort all meine Ruhegelübde widerrufen und um die Eingebung für einen Neuanfang gebetet.

“Arbeite, solange du Licht hast” war monatelang mein Credo gewesen, das mich ständig vorwärts getrieben hatte. In diesem Augenblick dämmerte es mir, dass die vor mir liegende Zeit relativ kurz sein könnte. Ich ließ das Feuer und meinen unvollendeten Tee stehen, und instinktiv formten meine Lippen die Worte: “Hier könnte ich schreiben”. So oder so ähnlich beurteilte ich jeden Ort – ob ich dort schreiben konnte oder nicht. Als ich in diesem bequemen Sessel saß, fühlte ich sofort, dass mir meine schäbige neue Umgebung gefiel, dass ich dorthin passte und irgendwie zu Hause war.

Ich kam direkt aus einem schmalen Londoner Haus, in dem ich aus meinem Schlafzimmer eine Stallung und vom Wohnzimmer aus andere schmale Häuser auf der gegenüberliegenden Seite einer Straße erblickte. Hier sah ich Anfang März aus dem breiten, niedrigen Fenster auf einen gelben Ginster, der einen ungepflegten Garten zuwucherte. Jenseits des Gartens erkannte ich mehr flammenden Ginster auf hügeligem Land, dahinter Hügel, und dazwischen, unverkennbar, die düstere Finsternis des Meeres. Hier oben war die Luft sehr still, aber eine Brise vom fernen Meer trieb den Geruch des Ginster in meine Nase. Zuerst wünschte ich mir nur Griffel und Papier, dann trieb es mich über diese Wünsche hinaus und ich begann zu träumen, ich wusste nicht, wovon – aber ich fühlte mich glücklicher und zufriedener, als ich es seit langer Zeit gewesen war. Die Luft war heilsam, ebenso die Einsamkeit und die Stille. Aber dann wurde beides unterbrochen, und meine Zufriedenheit fand ein jähes Ende.

“Dr. Kennedy!”

Ich erhob mich nicht, denn in diesen Tagen, als die Neuritis besonders schlimm war, geriet das Aufstehen zu einer wahren Kraftprobe. Ich starrte den Eindringling an, und er starrte zurück. Aber ich erriet binnen einer Minute, worauf seine unwillkommene Anwesenheit zurückzuführen war. Meine ängstliche, geliebte und zappelige Schwester hatte den Namen des bekanntesten Äskulap in der Gegend herausgefunden und ihn von meiner Ankunft unterrichtet, ihm wahrscheinlich sogar einen irreführenden und völlig falschen Bericht über meinen Gesundheitszustand gegeben und ihn sicherlich gebeten, baldigst vorbeizukommen. Wie ich später herausfand, hatte ich mit einer Ausnahme in allen meinen Vermutungen recht: der vor mir stehende Mann war nicht der bekannteste Äskulap der Nachbarschaft, sondern dessen jugendlicher Partner. Dr. Lansdowne war im Urlaub, und Dr. Kennedy hatte den Brief meiner Schwester gelesen und war fest entschlossen, ihre Anweisungen auszuführen. Wie ich schon sagte, starrten wir uns in der zunehmenden Dämmerung an.

“Sie sind gerade erst gekommen?”, wollte er wissen.

“Ich bin schon eine Stunde hier”, erwiderte ich, ” –– eine ruhige Stunde.”

“Ich habe den Brief Ihrer Schwester bekommen”, sagte er entschuldigend, wenn auch ein wenig unbeholfen, als er den Raum betrat.

“Sie hat Ihnen also geschrieben?”

“Oh ja! Ich muss den Brief hier irgendwo haben.” Er suchte in seiner Tasche, fand ihn aber nicht.

“Wollen Sie sich nicht setzen? “

In der Nähe des Schreibtisches gab es keinen weiteren Stuhl außer dem, auf dem ich saß. Ein weiterer Grund, warum ich begriff, dass mein Vormieter ein Schriftsteller gewesen sein musste! Während Dr. Kennedy sich einen Stuhl holte, machte ich eine oberflächliche Bestandsaufnahme von seiner Person. Ein großer, gar nicht schlecht aussehender Mann in den späten dreißiger oder frühen vierziger Jahren; er trug den schäbigsten Tweedanzug, den ich je gesehen hatte, und dazu unpassende, aber gut verarbeitete Stiefel. Dann fläzte er sich schweigend auf den mitgebrachten Stuhl, während ich auf seine Eröffnung wartete. Ich hatte es einfach satt, die ganzen Ärzte und ihre Methoden. In der Stadt hatte ich bereits jeden x-beliebigen Anbieter von Geheimmittelchen kennengelernt, aber keiner konnte meine Leiden verringern, dafür aber mein sauer verdientes Geld. Eines Tages werde ich vielleicht eine Studie über sie schreiben, um zumindest so etwas von dem, was ich ausgegeben habe, zurückzubekommen. Aber Dr. Kennedy war anders als die Londoner Pfuscherkolonne mit ihren schwarzen Mänteln, was seine Eröffnung sofort unter Beweis stellte.

“Wie lange fühlen Sie sich schon unwohl?” Das war, was ich erwartet hatte, der übliche Schachzug. Dr. Kennedy saß ein paar Minuten da, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Dann fragte er mich schlagartig:

“Kannten Sie Mrs. Capel?”

“Wen?”

“Margaret Capel. Sie wissen doch, dass sie hier wohnte, nicht wahr? Dass es hier war, wo alles passiert ist?”

“Was passiert ist?”

“Dann wissen Sie es doch nicht?” Er wurde zappelig, stand von seinem Stuhl auf und ging zum anderen Fenster hinüber. “Ich hoffte, dass Sie sie kannten, dass sie eine Freundin von Ihnen war. Das hoffte ich, seit ich den Brief Ihrer Schwester bekam. Carbies! Es fühlte sich so seltsam an, wieder hierher zu kommen. Ich kann gar nicht glauben, dass es schon zehn Jahre her ist – es ist alles noch so lebendig!” Er ging zurück zu seinem Stuhl und setzte sich wieder hin. “Eigentlich sollte ich gar nicht über sie sprechen, aber das Zimmer, ja, das ganze Haus sind voller Erinnerungen. Früher saß sie stundenlang dort, wo Sie jetzt sitzen, und träumte vor sich hin. Manchmal wollte sie überhaupt nicht mit mir sprechen. Dann ging ich, da ich merkte, dass ich für sie ein Eindringling war.”

Die zynischen Worte auf meinen Lippen blieben unausgesprochen. Er war groß, und wenn ihm seine Kleider gepasst hätten, hätte er vielleicht ein besseres Bild abgegeben. Ich hasse Mäntel aus Tweed! Das Adjektiv “ordinär” schoss mir durch den Kopf. Aber ich hatte bemerkt, dass ein kluger Kopf unter der dichten Mähne aus schwarzem Haar steckte, und wunderte mich ein bisschen über seine Taktlosigkeit und kleinstädtische Geschwätzigkeit. Dennoch fand ich ihn nicht ganz uninteressant.

“Stört es Sie, wenn ich über sie spreche? Glühend! Ich glaube, dieses Wort beschreibt sie am besten. Sie brannte von innen heraus, war aufgezogen wie an Drähten, die allesamt brannten. Sie saß immer genau da, wo Sie jetzt sitzen, oder oben am Klavier. Sie war eine wunderbare Pianistin. Sind Sie schon oben gewesen, in dem Raum, den sie zu ihrem Musikzimmer gemacht hat?”

“Wie ich bereits erwähnte, bin ich erst seit einer Stunde hier. Dies ist der einzige Raum, den ich bisher gesehen habe.”

In meinem Tonfall muss etwas gelegen haben, das er als Mangel an Herzlichkeit oder Interesse interpretierte.

“Sie wollten nicht, dass ich heute Abend komme, nicht wahr? “Er suchte in seiner Brieftasche nach Ellas Brief, fand ihn und begann, leise zu lesen. Wie gut ich wusste, was Ella geschrieben hatte.

“Sie hat ‘Carbies’ ausgewählt, Sie müssen unbedingt gleich dort hingehen . . . lassen Sie mich wissen, was Sie denken . . . lassen Sie sich nicht von ihrer guten Laune täuschen . . .” Er las es leise und eigentlich nur für sich. Irgendwie schien er mein Mitgefühl zu erwarten. “Ich kam früher sehr oft hierher, manchmal zwei oder drei Mal am Tag.”

“War sie krank?” Die Frage kam unwillkürlich. Margaret Capel ging mich nichts an.

“Teilweise. Eigentlich meistens.”

“Konnten Sie ihr helfen?”

Anscheinend hatte er kein großes Gespür oder Feingefühl für berufliche Würde. In seinen Augen brannte plötzlich ein seltsames Licht, hell und gleichzeitig unbeständig, offenbar hervorgerufen durch meine Frage. Es war das erste Mal, dass er mich als existierendes lebendes Wesen wahrzunehmen schien. Er blickte mich direkt an, statt nur verträumt umherzuschauen.

“Ich weiß nicht. Ich habe mein Bestes gegeben. Wenn sie Schmerzen hatte, konnte ich sie lindern –manchmal. Die Medikamente, die ich ihr verschrieb, waren nicht immer nach ihrem Geschmack. Und Sie? Sie leiden an einer Nervenentzündung, sagt Ihre Schwester. Das kann alles Mögliche bedeuten. Wo tut es am meisten weh?”

“In meinen Beinen.”

Ich wollte nicht, dass er sich um mich kümmert; eigentlich war ich hergekommen, um endlich Ruhe zu haben vor den Ärzten. Außerdem waren mir ältere Männer in seinem Beruf lieber. Aber sein exzentrisches Benehmen, sein mangelndes Interesse an mir und seine Hingabe an seine frühere Patientin, seine schlecht geschnittene Kleidung und der große Unterschied zu seinen Berufskollegen, waren eine willkommene Abwechslung, und plötzlich erwischte ich mich dabei, seine Fragen zu beantworten.

“Haben Sie Kasemol ausprobiert? Dies ist ein japanisches Heilmittel, das sehr wirksam ist – oder irgendeine andere Farbe? “

“Ich bin kein Künstler.”

Er lächelte. Er hatte gute Zähne, und sein Lächeln war angenehm.

“Haben Sie eine Krankenschwester oder ein Dienstmädchen?”

“Ein Dienstmädchen. Ich bin nicht krank genug für Krankenschwestern.”

…..

 

 

Dieser Beitrag wurde unter F, Frankau, Julia, Meisterwerke der Literatur veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.