Das Vaterunser

Das Vaterunser – Johann Friedrich Arndt

Johann Friedrich Arndt war ein deutscher evangelischer Prediger. In diesem Werk betrachtet er Zeile für Zeile das Gebet aller Gebete, das Gebet des Herrn, das Vaterunser. Kein Teil der Heiligen Schrift ist so bekannt wie dieses Gebet; wo es nur Christen gibt, wird es gebetet; die nie eine Bibel sahen oder lasen, kennen und sprechen das “Vater Unser”. Wie jedes Wort aus unseres Herrn Munde, ist auch dieses Gebet unermesslich reich, und mit Recht nennt es ein alter Kirchenvater das abgekürzte Evangelium und sagt Luther von demselben: “Weil dies Gebet von unserem Herrn den Ursprung hat, wird es ohne Zweifel das höchste, edelste und beste Gebet sein.” Er nennt es eine starke Mauer und Wall der Kirche, eine starke Waffe aller gottseligen Christen, und gibt ihm auch sonst noch allerlei liebliche Namen. Und wer je in seinem Leben dies Gebet recht verstanden, recht gebetet und seine Gotteskraft an seinem Herzen lebendig erfahren hat, wird mit Freuden und mit ewigem Dank gegen Gott alle jene Namen und Lobpreisungen unterschreiben.

Das Vaterunser

Das Vaterunser.

Format: Paperback, eBook

Das Vaterunser.

ISBN: 9783849666286 (Paperback)
ISBN: 9783849661854  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

Unser Vater in dem Himmel.

Das Innerste des christlichen Lebens und die eigentliche Seele desselben ist das Gebet. Unter allen Gebeten ragt aber eins hervor, das Gebet aller Gebete, das Muster- und Normal-Gebet der Kirche, das tägliche Gebet aller Christen, das Gebet des Herrn! Kein Teil der Heiligen Schrift ist so bekannt wie dieses Gebet; wo es nur Christen gibt, wird es gebetet; die nie eine Bibel sahen oder lasen, kennen und sprechen das “Vater Unser”. Wie jedes Wort aus unseres Herrn Munde, ist auch dieses Gebet unermesslich reich, und mit Recht nennt es ein alter Kirchenvater das abgekürzte Evangelium und sagt Luther von demselben: „Weil dies Gebet von unserem Herrn den Ursprung hat, wird es ohne Zweifel das höchste, edelste und beste Gebet sein.“ Er nennt es eine starke Mauer und Wall der Kirche, eine starke Waffe aller gottseligen Christen, und gibt ihm auch sonst noch allerlei liebliche Namen. Und wer je in seinem Leben dies Gebet recht verstanden, recht gebetet und seine Gotteskraft an seinem Herzen lebendig erfahren hat, wird mit Freuden und mit ewigem Dank gegen Gott alle jene Namen und Lobpreisungen unterschreiben. Aber wer vermöchte den unermesslichen Inhalt dieses Gebets jemals zu erschöpfen und in seine weiten und unergründlichen Tiefen auch nur von fern einzudringen? Dennoch wollen wir es wagen nach der Kraft, die uns gegeben wird, im Vertrauen auf den allmächtigen und allgenügsamen Beistand des Herrn. Er, der uns beten lehrte, lehre uns auch das Gebet verstehen! Er öffne uns seine Schätze und bereite uns in ihnen zeitlichen und himmlischen Segen! Wir lesen das Gebet:

Matthäus 6, 9-13.

Darum sollt Ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel. Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, auf Erden, wie im Himmel, Unser täglich Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigen! vergeben; und führe und nicht in Versuchung; sondern erlöse uns von dem Übel. Denn Dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen.

Die Jünger hatten Jesus angefleht: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. (Luc. 1, 1.) Da tat der Herr seinen Mund auf und sprach: „Wenn ihr betet, sollt ihr also sprechen,“ d. h. ihr könnet und dürfet nicht nur so sprechen, und habt dazu die gnädige Erlaubnis, ihr müsst es dann auch auf diese Weise tun, welche die Gott wohlgefälligste und erhörlichste ist. So wollen wir uns denn zu Jesu Füßen setzen, und hören und lauschen, beides, was wir beten dürfen und wie wir beten sollen. Über Alles wird Er uns Aufschluss geben, und in der ganzen, großen und weiten Welt kann es Keinen geben, der uns besser und vollständiger darüber belehrte, als Er. Und ist das Gebet im Namen Jesu schon erhörlich: wie viel erhörlicher wird erst das Gebet in seinen Worten sein! – Es besteht aber das Gebet des Herrn aus drei Teilen, aus einer Anrede, aus sieben Bitten und aus dem lobpreisenden Schluss. Nicht nur jeder Teil, sondern auch jede Bitte erfordert eine besondere Erwägung, und wir beschränken uns daher diesmal auf die Anrede: Unser Vater in dem Himmel. Diese Anrede aber bezeichnet Gott auf dreifache Weise: 1) als Vater überhaupt, 2) als unsern Vater, 3) als unsern Vater in dem Himmel. Damit sprechen wir die drei christlichen Tugenden gleich von vornherein aus und geben dem Gebet das entschieden christliche Gepräge, unsern Glauben im Worte Vater, unsere Liebe im Wörtlein unser, und unsere Hoffnung im Zusatz im Himmel.

1.

Die Anrede an Jemanden ist der deutlichste Ausdruck des Verhältnisses, in welchem ich zu ihm stehe. Schon im gewöhnlichen Leben, in den Beziehungen der Menschen zueinander, pflegt sie verschieden auszufallen, je nachdem mein Verhältnis zu der Person, welche ich anrede, ein näheres oder ferneres ist. Jeder von uns redet in seinen Briefen anders den Vorgesetzten, anders den Untergebenen, anders den Freund an. Und aus der Beschaffenheit der Anrede können wir dann allemal auch sogleich schließen auf die Beschaffenheit des Briefinhalts selber. Auf ähnliche Weise verhält es sich nun auch mit unsern Anreden an Gott im Gebete: die Anrede ist gleichsam die Überschrift, der Hauptgedanke, der Geist, der Inhalt des Gebets selbst. Wie ganz anders wird das Gebet ausfallen, wenn ich zu Gott bete als dem allmächtigen Schöpfer des ganzen Weltalls, oder wenn ich zu Ihm bete als dem gewaltigen Herrn und Gebieter des Geschaffenen, oder wenn ich zu Ihm bete als dem Richter der Lebendigen und der Toten, wenn ich Ihn nenne den allmächtigen und allweisen, oder den gnädigen und barmherzigen Gott! Jesus lehrt uns Gott anreden in unserm Gebet als Vater, und wir fühlen gleich von vornherein aus dieser Anrede, dass ein ganz anderer, herzlicherer Geist herrschen müsse in seinem Gebet, als wenn wir Ihn mit jenen allgemeinen, oder mit ernsten und drückenden Bezeichnungen benennen.

Schon auf Erden ist der Vater der köstlichste Name. Das Größte, was in menschlichen Verhältnissen ein Mensch nach Gottes Ordnung sein kann, ist Vater. Darum auch nennen sich Fürsten und Gewaltige, wenn sie sich hoch ehren wollen, Väter des Volks. Darum heißen wir die ehrwürdigen Gestalten, die uns Gottes Wort im grauen Altertume zeigt, Erzväter, und sehen, dass jener Freund Gottes, dem Gott nicht verbergen konnte, was Er vorhatte, von Ihm Abraham genannt wurde, d. h. der Vater vieler Völker. Ja, gehen wir in unser eignes Leben zurück, so bemerken wir, dass unser ganzes Sprechen und Reden mit diesem Worte anfängt, dass das Wort „Vater“ oder, was ja im Wesen dasselbe sagen will, bei Andern „Mutter“ das erste Wort ist, welches ein Kind aussprechen lernt. Spricht es den Namen auch noch nicht deutlich aus: der ihn bezeichnende Laut meint wenigstens nichts anders als ihn. Und, ist dieser Name nicht die zutraulichste Bezeichnung, die wir uns denken können? Wenn zu uns, die wir selbst Kinder haben, der Sohn, die Tochter hintritt und uns anredet: Vater, Mutter: bebt da nicht ein Gefühl durch unser Herz, für das wir nicht Worte haben? und wie war es uns. als unser Kind zum ersten Male uns anlächelte und stammelte: Vater? Bei aller Zutraulichkeit verrät das Wort von der andern Seite aber auch zugleich die ehrerbietigste Stellung, und wir pflegen aus diesem Grunde auch Diejenigen, gegen die wir die höchste Achtung, Verehrung und Hochschätzung im Herzen tragen, gegen die wir uns in jeder Beziehung zu Gehorsam, Unterwerfung und Demut verpflichtet fühlen, gern unsere Väter zu nennen; und haben wir ihnen das Höchste zu verdanken, was ein Mensch dem andern verdanken kann, sind sie die Werkzeuge gewesen, die uns zum Herrn geführt haben, so nennen wir sie unsere Väter in dem Herrn. Kurz, das ist gewiss, es gibt keinen Namen auf Erden, der so früh, so vertraulich, so ehrerbietig ausgesprochen wird als der Name: „Vater.“

Dies ist nun auch der Name, den Jesus Christus Gott beilegt. Er selbst drückt sein menschliches Verhältnis zu Gott auf Erden nie anders aus als mit diesem Namen. Schon als zwölfjähriger Knabe im Tempel sprach Er zu seiner irdischen Mutter: „Muss ich nicht sein in dem, das meines Vaters ist?“ (Luc. 2. 49.) Während seines Lehramts, wenn Er von Dem redete, der Ihn gesandt hatte, äußerte Er sich nie anders als: „Der Vater hat den Sohn lieb, und hat ihm alles in seine Hand gegeben. Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, denn was er stehet den Vater tun. Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubet mir nicht; tue ich sie aber, so glaubet doch den Werken, wollet ihr mir nicht glauben.“ (Joh. 3, 35. 6, 32. 5, 17. 10, 37.) In den schwersten Stunden seines Lebens, unter Kämpfen Leibes und der Seele, in Gethsemane seufzte Er: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir, doch nicht, wie ich will, sondern wie Du willst. (Matth. 26, 39.) Endlich am Kreuze war Sein erstes Wort unter den sieben heiligen Sterbeworten: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun,“ (Luc. 23, 34.) und Sein letztes: „Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.“ (Luc. 23, 41.) In dasselbe Verhältnis aber, in welchem Er zu Gott stand, so oft Er seine heiligen Lippen öffnete zum Gebet, sollen auch wir eintreten; auch unsere Anrede an den großen, all-genügsamen Gott, dem der Himmel Stuhl und die Erde seiner Füße Schemel ist, soll sein: „Vater.“

Die Stellung, welche dieses Wort uns anweist, ist so erhaben und selig, dass es keine erhabenere und seligere geben kann im Himmel und auf Erden! Wir treten mit dem Worte gleichsam an den Anfang unseres Lebens zurück, überspringen Alles, was seit jenen Morgenstunden unseres Daseins sich zugetragen hat, als etwas Unbedeutendes, fangen gleichsam unser Leben von neuem an, werden wieder Kinder, und legen unsere ganze, ganze Seele in das erste Wort, das wir sprechen gelernt, hinein: „Vater.“ Aber ist nicht auch wirklich im Christentum das erste Wort, welches wir aussprechen lernen, wieder das Wort: „Vater?“ Wenn wir neu geboren sind im Glauben an Christus, wenn Gott uns alle unsere Sünde vergeben, uns in Gnaden an Kindesstatt um Jesu Christi willen angenommen hat, wenn wir Ihm angenehm geworden sind in dem Geliebten, wenn die Sünde gar keine Trennung mehr bildet zwischen uns und Ihm, wenn das durch die Sünde verlorene Kindesverhältnis wieder hergestellt ist, kurz, wenn wir Christen geworden sind in der Tat und in der Wahrheit: wie lautet unser Gefühl vor Gott? wie lautet das Wort, mit welchem wir Ihn anrufen? wie sprechen wir am liebsten, am natürlichsten, am zutraulichsten, am ehrerbietigsten unser Herz vor Gott aus? Ist es nicht: Vater; Abba, lieber Vater; Vater in Christus? Das ganze Christentum liegt in diesem Namen, und wir haben Alles gesagt, was wir sagen können, wenn wir „Vater“ sagen!

Aber auch nur als Christen dürfen und können wir Gott „Vater“ nennen! Ohne Christus ist Gott uns wohl Schöpfer, Herr, Richter; aber nicht Vater! Sehr oft hört man die Erklärung, Gott heiße darum Vater, weil Er uns erschaffen hat; und allerdings konnte Gott in der Urzeit sogenannt werden, als der Mensch vollkommen und rein aus Gottes Hand hervorgegangen war; Adam im Paradiese konnte Ihn so nennen, und die Heilige Schrift nennt Ihn selbst so an zwei Stellen: Jes. 64, 8. „Herr, Du bist unser Vater, wir sind Thon, Du bist unserer Hände Töpfer, und wir alle sind Deiner Hände Werk.“ Mal. 2, 10: „Haben wir nicht Alle einen Vater? hat uns nicht Ein Gott geschaffen?“ Allein auch nur in diesen Stellen nennt sie Ihn so, sonst unterscheidet sie immer Vater und Schöpfer. Wären wir also heute noch, was wir damals waren, vollkommen und rein: ja, dann könnten auch wir noch Gott unsern Vater nennen, sofern Er unser Schöpfer ist. Aber die Sünde hat das Band der Herzen zerrissen, die Sünde hat uns Gott entfremdet, und so wenig man Gott den Vater eines Tieres oder einer Pflanze nennen kann, darum, weil Er sie geschaffen hat, so wenig können wir Gott den Vater der Menschen nennen, weil Er Schöpfer der Welt ist. – Der Name Vater, Kind deutet auf ein tieferes Verhältnis, auf die nächste, innigste Verwandtschaft des Wesens hin. Verwandt aber, in das göttliche Ebenbild wiederhergestellt, in das Kindesrecht eingesetzt, wird der Mensch erst wieder durch Christus. Denn also schreibt die Heilige Schrift, die doch allein in diesem Punkt entscheiden kann: „Da aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf dass Er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste. dass wir die Kindschaft empfingen.“ (Gal. 4, 5. 6.) „Gott hat uns verordnet zur Kindschaft gegen Ihn selbst durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens.“ (Eph. 1, 5.) „Jesus kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen Ihn nicht auf; wie viel Ihn aber aufnahmen, denen gab Er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben.“ (Joh. 1, 11. 12.) Welche der Geist Gottes treibet, die sind Gottes Kinder.“ (Röm. 8, 14.) Mithin, wer getrennt von dem Sohne Gottes, der Sünde dienend, den Weg des Verderbens wandelnd, Gott seinen Vater nennen wollte, würde Gott lästern. Er ist nicht Vater der Sünder, die in ihren Sünden ohne Reue und Sehnsucht nach Gnade beharren; Er ist nur Vater seiner Kinder, die an Ihn glauben, Ihn suchen, Ihn lieben, an Ihm hangen, Ihm vertrauen. Ihm gehorchen und in Ihm selig sind. Nur wiedergeborene Christen können sprechen, wenn sie gen Himmel schauen und mit all ihrer Not, Zweifellast, Trauer, Bekümmernis sich an das große Herz dort oben werfen: Vater. Im ganzen alten Testamente finden wir unter den vielen Gebeten gläubiger Israeliten keines; selbst unter den Psalmen des Mannes nach dem Herzen Gottes, Davids, keinen, der mit der Anrede begönne: Vater.

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