Der goldene Zweig

Der goldene Zweig – Karl Gjellerup

Ein historischer Novellenkranz aus der Zeit des römischen Kaisers Tiberius. Der dänische Schriftsteller Karl Adolph Gjellerup wurde 1917 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Der goldene Zweig

Der goldene Zweig.

Format: eBook

Der goldene Zweig.

ISBN eBook: 9783849655518.

 

 

Auszug aus dem Text:

Der Tempelgiebel, von starken dorischen Säulen getragen, leuchtet hell und warm zwischen den Zypressen hervor, die zu beiden Seiten Wache halten.

Hoch oben über ihm, aus gelblodernden Ginstersträuchern und niedrigem Bergwald emporstrebend, spannt eine Pinie mittels geschnörkelten Geästes ihren dunkeln Nadelschirm aus gegen die seligtiefe Bläue des sommerlichen Mittagshimmels.

Ein Olivenhain steigt seewärts hinunter.

Ein unentwirrbares Durcheinander von Bäumen. Viele drehen sich gleich schlanken Dryadengestalten in schwebender Tanzstellung und reichen mit ausgestreckten Armen einander die blätterfingerigen Hände; unten gespalten, treten andere mit gespreizten Beinen den feierlichen Reigen. Knorrig, verwachsen, mit verrenkten Gliedern purzeln gnomenartige Gebilde vorwärts. Einige winden sich schlangenhaft in die Höhe; und es sind welche da, die mit geschwollenen, warzigen Drachenleibern sich bäuchlings hinwälzen oder wie in jähem Schrecken sich rückwärts emporbäumen.

Überall aber in diesem Wirrsal von Stämmen und Ästen eines verzauberten Circe-Haines glitzert und funkelt das Wasser. Es ist wie launenhafte Konstellationen heiterer und flüchtiger Tagesgestirne, die sich unaufhörlich entzünden und erlöschen.

Das federleichte Laubgewebe der Wipfel aber zeichnet seinen Rand silberig auf die Fläche des Sees, der in seinen Waldkrater eingebettet dunkelglänzend daliegt, gleich einem grünen Edelstein.

Einen solchen fassen wohl kunstfertige Menschenhände in Gold. Hier aber scheint die Natur es umgekehrt zu halten. Denn mitten in diese smaragdene Platte ist ein goldenes Kleinod eingelagert – ein Märcheneiland des verzauberten Sees.

Vor Dianas Tempel betrachten zwei Männer den Spiegel Dianas, oder vielmehr jenes leuchtende Goldwunder, ein Schmuckstück aus den Meisterhänden des Hephästos, welches die Waldgöttin auf ihren Spiegel von sich gelegt hat.

Der eine ist ein bärtiger Greis von herkulischem Körperbau. Er trägt eine priesterliche Kopfbinde und ist mit dem leinenen Gewand der Dianadiener angetan.

Dieser steht hart am Abhang.

Auf dem unbedeckten Kopfe des anderen kräuselt sich jugendlich schwarzes Haar. Er trägt einen blauen, etwas verschossenen und zerlumpten Arbeitskittel.

Der Jüngling sitzt im Schatten eines mächtigen Ölbaumes, der mitten zwischen dem Felsrande und den Stufen des Tempelperistyles wächst.

Zweites Kapitel – Der heilige Baum

Uralt der Tempel, uralt der Ölbaum.

Wer würde durch den Anblick dieses Baumes nicht an jenen erinnert, in dessen Höhlung der göttliche Dulder, an der Phäakeninsel gestrandet, Schutz suchte und fand: –

›Könnten doch dort zwei Männer, ja drei, im Gewitter sich bergen,
Mitten im Winter sogar, wenn am ungestümsten die Stürme.‹

Dieser wahrlich gibt jenem an Größe nichts nach.

An Alter aber auch nicht, falls der Odysseusbaum noch am Ufer der Phäakeninsel grünt.

Denn siehe: dort im Giebel ist mit archaischer Kunst eine Gruppe gebildet.

Ein Jüngling in griechischem Gewand trägt eine Bildsäule; vor ihm ist eine Priesterin stehen geblieben und zeigt auf den Grund. Unter ihnen steht mit schiefen, unregelmäßigen griechischen Buchstaben:

ORESTES IPHIGENEIA

Zwischen den Beiden aber, das ganze Giebelbild in zwei Hälften trennend, ist der Stamm eines Ölbaumes dargestellt, an dessen Formen man leicht das getreue Ebenbild unseres Baumes erkennt. Knorrig, geborsten, unten gänzlich gespalten, mit beiden Beinen vielfüßig auseinandertretend: so drachenhaft ungetümlich, wie er hier in Holz, das so hart wie Stein anmutet, von der Natur gebildet ist, steht er dort oben im Giebel von Künstlerhand in Stein gemeißelt.

Wuchs er also schon hier, als einst das hohe Geschwisterpaar, wie es scheint, dies Heiligtum dem geretteten Artemisbild stiftete, dann mußte er gleichzeitig mit Odysseus’ Phäakenbaum das goldige Licht Helios’ getrunken haben, und die Stürme, die Poseidon aus allen Himmelsgegenden erweckte, um das Schiff des Vielverschlagenen zu zerschmettern, hatten durch seine altehrwürdige Krone gebraust.

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