Der König der Bernina

Der König der Bernina – Jakob Christoph Heer

Die Bernina hat nicht nur eine imposante Fauna, sondern auch eine vielschichtige Tierwelt. Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Bernina Naturschutzgebiet – gegen den Widerstand der Vertreter des “Rechtes auf freie Jagd”. Der packende Roman “Der König der Bernina” erzählt vor dem Hintergrund dieser dramatischen historischen Ereignisse die Geschichte des Schmieds und Büchsenmachers Markus Paltram. (aus zdf.de)

Der König der Bernina

Der König der Bernina.

Format: eBook

Der König der Bernina.

ISBN eBook: 9783849655839.

 

 

Auszug aus dem Text:

 

Ein Adler kreist am blassen Frühhimmel, er schwimmt über dem dreizackigen sammetgrünen Thalstern des Engadins.

“Pülüf – pülüf,” dringt sein hungriges Pfeifen aus der Bläue; die Gabel fächerartig ausgebreitet, steigt er etwas in die Tiefe und späht, dann hebt er sich ungeduldig in die oberen Lüfte, der Sonne entgegen, ja höher als die Bernina, die sanft und doch kühn in das Thal herniederschaut und den ersten Strahl des Taggestirns mit ihrem Silberschild auffängt.

Der Reif funkelt auf den Auen, die den jungen Inn säumen.

Ueberall Licht, reines Licht der Höhe, und die Berge wachsen in seiner schwellenden Flut.

Voll andächtiger Ruhe zieht der Adler seine Runde und rührt die gespannten Flügel nur dann und wann in zwei oder drei leichten Schlägen. Er überfliegt die weißen Spitzen, er schwebt über den Dörfern Pontresina, St. Moritz, Samaden und über lichtglänzenden Seen. Wenn er in die Tiefe steigt, so spielen seine Schwung- und Ruderfedern in der Sonne, meistens aber hängt er, ein Punkt nur, den das Licht vergoldet, an der Himmelsglocke.

Es muß wonnig sein, als Adler, als Herr und König, vor dem die Kreatur erbebt, über dem Gebirgsland zu schweben.

Durch die schweigende Frühe geht von Samaden her, den Krümmungen des Inns entlang, ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann gegen die paar Häuser von Celerina empor, das in der Mitte des Thaldreiecks liegt. Er hat das Gewehr quer über den Rücken gehängt, seine Blicke folgen mit Spannung den Ringen und Flugfiguren des Vogels in leuchtender Höhe.

Ob sich der Jüngling vermißt, den König des Gebirges aus seinem lichten Reich zu stürzen? – – Doch wohl nicht.

Lange, lange liegt das Thal im Morgenfrieden, der Ruf des Adlers und das Rauschen des Inns sind die einzigen Laute in der tiefen Stille.

Da erheben die Glocken von Samaden ihre Stimme, andere helle Klänge schweben aus den drei Thälern heran und rinnen über der Ebene in einen einzigen Ton zusammen.

Die Straßen, die sich in Samaden treffen, beleben sich, das Völklein des Oberengadins zieht zur Landsgemeinde.

In losen Gruppen wallen die Bergleute dem gemeinsamen Ziele zu. Die Wohlhabenderen, Vornehmeren reiten oder sie fahren auf leichten Gebirgswägelchen und Scharabanken, die ausgedörrten Schuldenbäuerlein, die Weger, die Säumerknechte, die Gemsjäger und Fischer, die weder Pferd noch Wagen haben, gehen zu Fuß; zwischen allen aber, die reiten, fahren oder wandern, ertönt der weiche, romanische Gruß Dieus allegra und eine gemessene, ruhige Freundlichkeit waltet, wie sie einem kernhaften Volk am Ehrentag der Heimat wohl ansteht.

Von Pontresina herab wandert ein Schärchen schlichter Leute, ein Dutzend Männer, Frauen, Mädchen und Buben.

“Die Hütte wird verkauft – der Bub’ schlägt sich schon durch. Er geht über Basel in die Welt,” sagt der wetterbraune Säumer Tuons, der immer sein Birkenzweiglein im Munde hält.

“Solange man weiß, ist Auswanderung im Engadin gewesen,” versetzt der Mesner, ein bedächtiges, eisgraues Männchen, dessen Rede man es wohl anspürt, daß er auch eine Art Schulmeister des Dörfchens ist. “Aber jetzt ist ein Rausch im jungen Volk, daß wir bald nur noch alte Kracher und überzähliges Weibervolk in unseren Dörfern haben. Wo man hinkommt, in Pontresina, Samaden, St. Moritz, hört man den gleichen Trumpf ›Fort in die Fremde – fort!‹, und unsere kleinen Dörfer werden viel zu groß.”

“Ha, die Felsen können wir halt nicht fressen,” erwidert Tuons mit derber Grobheit und verzwicktem Lachen. “Das ist die Weltgeschichte: ein Großer macht einen Federstrich, und tausend Kleine verderben dran!”

Den verhängnisvollen Federstrich, von dem der Säumer spricht, hat für das Bündnerland, für das Engadin General Napoleon Bonaparte durch den “Veltliner Raub” gethan.

Vor bald dreihundert Jahren hatte der Herzog Maximilian Sforza den Bündnern das Veltlin mit den Städten Chiavenna und Bormio geschenkt und man hatte das jenseits der Bernina gelegene Land durch Vögte als Unterthanenschaft verwaltet. Namentlich die Engadiner hatten in dem gesegneten Thal ihre Landhäuser, ihre großen Güter, Obstgärten und Weinberge besessen und sie durch Pächter bewirtschaften lassen, um je und je im Herbst voll Fröhlichkeit zur Ernte hinüber zu ziehen und den Herrenanteil des Ertrags einzuheimsen. Da waren aber vor einiger Zeit im Veltlin Unruhen entstanden und die Bewohner des Thales hatten Bonaparte, der just als siegreicher Feldherr in der Lombardei stand, zum Helfer angerufen. Mit seinem Machtspruch riß er den Garten Rhätiens vom Bergland los, verschenkte die bisherigen Privatgüter der Bündner an seine Günstlinge, und alle Proteste und alle Mühen um ihre Wiedererwerbung sind umsonst.

Das ist der “Veltliner Raub”.

Wie sich nun abfinden mit dem Verlust eines Gartens, wenn um das eigene Haus hin nur etwas Wald und Gras wachsen? Denn das Engadin ist wohl ein wunderschönes Thal, die silbernen Firnen leuchten wie ein Gruß Gottes darüber hin, seine Seen sind krystallene Märchen, in seinen Felsen blühen die herrlichsten Blumen, aber fragt man in St. Moritz: “Was gedeiht bei euch?” so antworten die Leute: “Weiße Rüben”, in Pontresina: “Weiße Rüben”, in Samaden: “Weiße Rüben”, und erst weit unten in Zuoz sagen die Dörfler: “Wir wohnen in einer köstlichen Gegend, denn bei uns wächst, so Gott will, auch ein Mundvoll Gerstenbrot.”

Davon und von dem Kriegselend, das nach dem Veltliner Raub ins Thal hinaufgestiegen ist, sprechen die Männer.

“Beim Eid, es kommt noch dazu, daß die Alten wie die Jungen in die Fremde gehen müssen. Die Rosse stehen vor der leeren Krippe im Stall und wir können uns auf die Hände stellen und zwischen ihnen hindurch nach einem Taglohn auslugen. Es ist kein Glück mehr auf unseren Pässen.” So redet Tuons, die Arme reckend.

Da überholt ein Reiterpaar die wandernde Gruppe, die Fußgänger weichen aus und ziehen die flachen, dunklen Filzhüte.

…..

 

 

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