Der Wetterwart

Der Wetterwart – Jakob Christoph Heer

Ein Bergroman vom Fuße des Säntis. Obwohl Heers Werke weitgehend als Heimatromane bezeichnet werden dürfen, übt er darin auch immer wieder Kritik am damals schon grassierenden Tourismus in seiner Schweizer Heimat.

Der Wetterwart

Der Wetterwart.

Format: eBook

Der Wetterwart.

ISBN eBook: 9783849655884.

 

 

Auszug aus dem Text:

 

Die feierliche Abendhelle steht über den Bergen. Als feuriges Rad sinkt die Sonne hinter fernen westlichen Spitzen. Eine mattsilberne Platte glänzt in der Ebene der See, langsam deckt ihn die Dämmerung mit blauen Schleiern zu. An seinen Ufern hat heute die beginnende Weinlese gejauchzt. Lange habe ich durch mein Glas dem krabbelnden Ameisenvölklein, den fröhlichen Scharen der Winzer und Winzerinnen zugesehen. Nun sind sie in ihre Hütten und Häuser gegangen. Da ein Tupfen, dort ein Tupfen glimmen die Lichter wie Johanniswürmchen auf, wo sie gesellig leuchten, ruhen die Dörfer, weit draußen, wo der Lichtfleck breit ausgegossen wallt, liegt am Ende des Sees St. Jakob, die große Stadt.

Jetzt läutet es über der einschlafenden Welt wohl Betzeit von den Türmen. In meine Einsamkeit herauf dringt kein Ton, kein Ton. Die Stille auf meinem Felsen ist groß und grenzenlos.

Ich bin der Wetterwart vom Feuerstein und bedarf des Lebens der Tiefe nicht. Gehörte ich zu den Armseligen, die sich ohne Menschen langweilten, so wäre ich nicht zu Berg gestiegen. Von Menschenart und Menschenwesen aber habe ich mehr gesehen als andere, und in ihr Treiben verlangt mich nicht zurück. Die, denen ich diene, dürfen sicher sein, daß ihnen der Wetterwart nicht vom Feuerstein entläuft. An den Berg fesseln mich die übernommene Pflicht, die mir lieb ist, und der hinkende Fuß, den ich hasse.

Es sind nun sieben Jahre, daß ich mich mit dem noch nicht völlig geheilten Bein auf das Observatorium in die Verbannung schaffen ließ. Der Tag war nicht leicht und der Anfang meines Sonderlinglebens schwer. Aufbrüllen hätte ich manchmal mögen vor Weltheimweh, aufbrüllen wie ein Stier. Der Teufel versuchte mich. “Wirf dich hinab von deiner Spitze,” flüsterte er, “und ich trage dich in die Weltstädte, in denen Licht, Leben und Liebe wundersam erwallen, ein Wort, und du wandelst an der Via Toledo im Zauber neapolitanischer Nächte, ein Wort, und um dich flirtet Paris, und du wirst dich in Kairo wieder in den Kreisen der Paschas und Beis ergehen und von Frauen umgeben sein, die dir huldigen. ›Adler!‹ werden sie dir zulächeln, und für dein Lächeln werden sie schwach werden und einen Augenblick lang die Tugend vergessen.”

“Teufel, du lügst!” schrie ich zitternd in Erinnerungen. “Kannst du mir meine Abigail wiedergeben, mein Weib, das schönste und süßeste Geschöpf, das über die Erde gegangen ist?” “Der schlechtesten eins!” höhnte der Teufel mit einer freudigen Grimasse. Ich sah ihm scharf in die schadenfrohen Augen. “Laß sie ruhen unter den Zypressen am blauen Meer!” grinste er, “ruhen bei ihrer Sünde!” Da ihm mein Auge standhielt, schüttelte er sich und wurde still. Ich warf den Blick auf den hinkenden Fuß. Nein, die mich gesehen haben in der Frische, im Glück, im Stolz meiner gewaltigen Manneskraft, sollen mich jetzt nicht bemitleiden, daß ich ein Krüppel bin. Becher, die ich, ein Übersatter, von mir geschleudert habe, will ich nicht wieder aufheben. Das wilde Herz hat sich gebändigt, es ist mit der Weltlust vorbei. –

Nur jetzt, da der goldene Herbstsonnenstrahl aus den Gipfeln der Berge ruht, wird mir die Seele wieder unruhvoll und quälerisch. Sie wittert und spürt, wie hinter all dem Scheinen und Glänzen, hinter dem Ruhen und seligen Frieden, hinter dem wonnig verklärten, großen Jahresfeierabend der Natur der Winter, der weiße Alpenwinter, die eherne Erbarmungslosigkeit, das unbegreiflich tiefe Schweigen lauert, das wie Gift am Mark des Lebens zehrt. Vor der großen, langen Stille, die nun kommen wird, fürchtet sich das feige Herz.

Wie siege ich über die seelenmörderische Einsamkeit, die sich vom Herbst zum Frühling dehnt? Wie schlage ich mich durch das Schneeschweigen, daß es mich nicht erwürgt? Das ist die Frage.

In den Wintern, die ich bereits auf dem Berg verlebte, habe ich mancherlei Meteorologisches geklügelt, mancherlei Beiträge zur Witterungskunde verfaßt. Ich reichte sie jedesmal der Meteorologischen Landesanstalt in St. Jakob ein, jedesmal wurden sie gedruckt, von ein paar Fachgelehrten belobt, darauf in die abgründigen Schränke der Bibliotheken begraben. Das hält nicht mehr vor, Mäusezähmen wäre dankbarer. Ich habe aber für den Winter, der jetzt im Anrücken ist, einen Plan, der sich mir je länger desto stärker, ja mit einem dämonischen Reiz in die Sinne schmeichelt. Um nicht tollwütig zu werden oder umzukommen in der großen Winterkirchhofruhe meines Gipfels, will ich die Geschichte meines Lebens, eine Selbstrückschau schreiben, wie ich von Vater und Mutter her, durch Kraft und Unkraft, Drang und Zwang, aus einem stillen Heimatsohn ein abenteuernder Ruheloser wie Ahasver und der menschenfremde Einsiedler auf hoher Warte geworden bin.

Ob ich mir aber die Kunst zutrauen darf, ein Buch zu schreiben? – Warum nicht! Ich habe etwas zu sagen, das ist das Wesentliche. Wem? Mir selbst! Rechenschaft will ich mir geben, aber euch keine Rechenschaft, ihr Menschen der Tiefe. Glaubt von mir, was ihr wollt! Die Bauern und Älpler, die um den Feuerstein wohnen, nennen mich schlechtweg den “Mexikaner”. Und doch merken sie unter der leichten Oberfläche, die sich in den Jahren des Weltlebens über mein Wesen und Gehaben gelegt hat, den ehemaligen Einheimischen, das Blut von ihrem Blut. Darauf erfinden und bauen sie ihre Legenden. Jedem, der es hören will, erzählen sie, daß ich auf meinem einsamen Posten über Welt und Wolken als ein Reuevoller für eine Tat des Jähzorns büße, die zu strafen der Arm der menschlichen Gerechtigkeit zu kurz gewesen sei. Ich sei, sagen sie, ein Unglücklicher aus dem Gebirge, der in jungen Jahren eines Mädchens wegen auf dem Dorftanz einen hoffnungsvollen Nachbarssohn erstochen habe, vor dem Gericht über das Meer entflohen und nach vielen Jahren unter einem fremden Namen wieder in die Heimat zurückgekehrt sei.

Ich weiß nichts von dieser Geschichte, nichts von Mord und Goldgräberei, richtig ist nur, daß ich ein Einheimischer bin, mein Name Leo Quifort ein jenseit des Meeres angenommener ist; ich mag aber den Blutschein, mit dem mich die Gerüchte des Volkes umgeben, nicht zerstören, er hütet das Geheimnis meines eigenen Lebens, das ich bei einem heiligen Eide vielleicht mit mir begraben muß, damit ich am Auferstehungstag nicht vor einer reinen Toten wie ein Lügner und Lump erscheine.

Klebt kein Blut an meinen Händen, so brennen mich doch Wunden und Narben in den Träumen der Nacht. Aus überschäumenden Schalen der Jugend und des Lebens habe ich getrunken, und unter den hohen und tiefen Rätseln des Daseins hat mich keins so lang, so stark gefesselt wie der Wunder wunderbarstes: Weibesliebe! Ich bin mit Männern immer rasch fertig geworden, mit Frauen nie. Ich habe geirrt und gelitten, sonst wäre ich nicht der Sturmvogel, der Abenteurer geworden, der selbst den ehrlichen Namen seines Vaters verloren hat. Am meisten haben die gelitten, die mich liebten – Duglore und Abigail! Ich fürchte, daß die Hand, die unzähligemal den Wettern des Himmels getrotzt hat, zittern und sich scheuen wird, die dunkelsten Blätter meines Lebens zu schreiben. Und doch ist das Kapitel Liebe noch nicht zu Ende. –

Für meine reinste, meine letzte Liebe bin ich in die Selbstverbannung gegangen, zu Berg gestiegen und Wetterwart geworden aus eigener Wahl. Wenn ich an dich, Gottlobe, denke, dann spüre ich wohl, daß ich, trotz dem ergrauenden Schnurrbart noch kein Greis bin, sondern ein feuriges Herz, das noch vor Liebe überwallen kann wie in Jugendtagen, und es sind nicht die Jahre, es ist der Eindruck des vielen Erlebens, was mich manchmal mit dem Gefühl überschleicht, als sei ich ein alter Mann.

Mit röchelnder Brust, mit zersplittertem Fuß haben mich die Älpler im Sommer vor sieben Jahren im Gebirge aufgelesen. Auf meinem langen Schmerzenslager im Haus des Bauern Melchi Hangsteiner in Selmatt wütete ich vor Leibesqualen und vor dem Gedanken, daß ich nun ein Krüppel sei und bleibe, still verbissen in mich hinein. Da wurde Gottlobe, die scheue, liebliche Dreizehnjährige meine Gespielin. Mit herzergreifendem Augenaufschlag und einem verwirrten Lächeln legte das Bergkind die Heckenrosen wie ansprießende Liebe auf mein Bett. Ich hielt die zage, braune Kinderhand, die sie mir zögernd gereicht hatte, und las mit durstiger Seele in ihren dunkeln Augen und seinen Zügen. “Ja! – ja! – sie ist’s!” rief es heilig in meiner Seele, und die Augen gingen mir über. Sie erschrak vor der Heftigkeit meines Gefühls, und dann wich die Scheu doch vor dem fremden, schwerkranken Mann, wie im sanften Spiel und stummen Suchen erwachte in den warmen Augen Gottlobes das Vertrauen zu mir und ging wie eine Blume im Sommermorgenstrahle auf. Unter den Blicken und dem ernstlieblichen Plaudern der Gespielin erloschen die grimmigen Schmerzen, meine zerrissene Seele wurde still wie ein Kinderlächeln und der aus Elend und Abgrund Genesende selber ein gütiges, harmloses, gegen Gott dankbares Kind.

Vom Leben will ich nun nichts mehr als das Glück meiner Gottlobe!

Es war wohl auch Weltmüdigkeit, vornehmlich aber quellendes Dankgefühl gegen den Himmel, der mir diese letzte Liebe beschied, daß ich mich an die Stelle des ersten Wetterwarts aus dem Feuerstein zu treten entschloß, der in einem furchtbaren Gewitter vom Blitz erschlagen worden war. Dann und wann kommt Gottlobe einmal zu Berg und besucht ihren väterlichen Freund. Nur zwei Sommer kam sie nicht. Da hatte sie Hangsteiner auf mein Drängen aus der Selmatter Tannen-Heimat nach Ct. Jakob in die Stadt gegeben, damit das herbe Kind etwas sehe und lerne von der Menschenwelt. Lieblicher, doch bergfrisch kehrte sie wieder, eine Blume wie Enzian. Jetzt ist sie zwanzig. Aus den dunkeln Augen unter den langen Wimpern bricht das Strahlenfeuer einer leichtbeweglichen und vornehmen Seele. Vom groben Bauernklotz Hangsteiner ist nichts an ihr, aber unendlich viel von ihrer feinen Mutter Duglore.

Gottlobe, Kind, ich möchte dich sehen! Gewiß bereitest du mir die Freude, daß du in den letzten Tagen des Herbstes mit deinem leichten, schwebenden Gang heraus in das Observatorium gestiegen kommst. Dein Lachen und das helle Lied deiner Jugend werden durch meine Klause dahinläuten. Wir werden plaudern wie einst. Und wenn du wieder gegangen bist, will ich den Winter nicht fürchten; wie ein Mann will ich gegen die Geister der Einsamkeit streiten, still warten, bis der Lenz mit Blumen und Vogelschlag wieder auf meine Zinne klimmt, und das Buch meines Lebens schreiben.

Der junge Lehrer von Selmatt wird Gottlobe zu mir heraufführen. Hans Stünzi! Ja, das ist auch ein prächtiger Bursche.

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