Die Psalmen, Band 2

Die Psalmen, Band 2 – Johannes Calvin

Johannes Calvin (10. Juli 1509 – 27. Mai 1564) war ein französischer Theologe, Pfarrer, Reformator und eine der Hauptfiguren bei der Entwicklung des Systems der christlichen Theologie, das später Calvinismus genannt wurde, einschließlich der Lehren von der Prädestination und der absoluten Souveränität Gottes bei der Rettung der menschlichen Seele vor Tod und ewiger Verdammnis. Die calvinistischen Lehren wurden von der augustinischen und anderen christlichen Traditionen beeinflusst und weiterentwickelt. Verschiedene kongregationalistische, reformierte und presbyterianische Kirchen, die sich auf Calvin als Hauptvertreter ihrer Überzeugungen berufen, haben sich über die ganze Welt verbreitet. Calvin war ein unermüdlicher Polemiker und apologetischer Schriftsteller, der viele Kontroversen auslöste. Mit vielen Reformatoren, darunter Philipp Melanchthon und Heinrich Bullinger, tauschte er freundschaftliche und tröstende Briefe aus. Neben seiner bahnbrechenden “Unterweisung in der christlichen Religion” schrieb er Bekenntnisschriften, verschiedene andere theologische Abhandlungen und Kommentare zu den meisten Büchern der Bibel. In diesem vorliegenden Werk befasst er sich mit den Psalmen (Band 2).

Die Psalmen, Band 2

Die Psalmen, Band 2
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Format: Paperback, eBook

Die Psalmen, Band 2.

ISBN: 9783849665326 (Paperback)
ISBN: 9783849662738  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

Psalm 74.

 

Inhaltsangabe: Die Heiligen klagen über die Verwüstung der Gemeinde, wodurch der Name Israel dem Untergang nahe gebracht worden war. Obschon aber aus ihren demütigen Bitten hervorgeht, dass sie alles Übel, das sie erdulden, ihren Sünden zuschreiben, so halten sie dennoch dem Herrn seinen Bund vor, in den er das Geschlecht Abrahams aufgenommen hat. Sodann erinnern sie sich daran, wie mächtig und herrlich er seine Güte offenbarte, da er die Gemeinde erlöste; und in der Hoffnung, die sie daraus schöpfen, bitten sie, Gott möge dem verderbten und kläglichen Zustande endlich abhelfen.

V. 1. Eine Unterweisung Asaphs. Die Bezeichnung des Psalms als eine „Unterweisung“ stimmt aufs Beste mit seinem Inhalt überein. Denn wenn dieser Ausdruck auch zuweilen angewendet wird, wo es sich um freudige Dinge handelt (z. B. Ps. 45), so deutet er doch meistens an, dass von Gerichten Gottes die Rede ist, durch welche die Leute gezwungen werden, in sich zu gehen und ihre Verfehlungen zu prüfen, auf dass sie sich vor Gott demütigen. Der Psalm ist nicht von David verfasst, wie aus der Inhaltsangabe leicht zu ersehen ist. Denn er war zu seinen Lebzeiten nicht in der Lage, eine solche Zerstreuung und Niederlage der Gemeinde beklagen zu müssen. Die, welche anderer Meinung sind, erklären, David habe hier von prophetischem Geiste Dinge ausgesprochen, die noch nicht geschehen waren. Allein da es wahrscheinlich ist, dass die meisten Psalmen von verschiedenen Verfassern erst nach Davids Tode gedichtet worden sind, so zweifle ich nicht, dass auch dieser Psalm dazu gehört. Von welchem Unglück jedoch hier geredet wird, ist weniger gewiss. Es bestehen darüber zwei Ansichten. Einige denken an jene Zerstörung von Stadt und Tempel, als das Volk unter Nebukadnezar nach Babel entführt wurde, andere an die Tempelschändung, die sich unter Antiochus ereignete. Jede Ansicht hat etwas für sich. Für die letztere spricht, dass die Gläubigen klagen, sie seien der Gnadenzeichen und Propheten nunmehr beraubt, während es ja hinlänglich bekannt ist, dass es zur Zeit der Wegführung des Volkes in die Verbannung viele angesehene Propheten gab. Wenn anderseits bald nachher gesagt wird, der Tempel sei verbrannt, die Schmuckstücke zerstört und nichts unversehrt geblieben, so passt das nicht auf die Zeit, da Antiochus seine wütende Tyrannei ausübte. Wenn nämlich auch der Tempel schmachvoll besudelt ward durch heidnische, abergläubische Gebräuche, so blieb doch das Gebäude unversehrt, und Holz und Steine wurden von keinem Feuer verwüstet. Einige behaupten allerdings, unter den Heiligtümern seien die Synagogen zu verstehen, in denen nicht nur zu Jerusalem, sondern auch in den übrigen Städten Judäas religiöse Zusammenkünfte stattfanden. Es ist auch möglich, dass die Gläubigen angesichts der schrecklichen Entweihung des Tempels sich durch dies traurige Schauspiel an jenen Brand erinnern ließen, durch den er von den Chaldäern zerstört worden war, und nun in Gedanken beide Unglückszeiten zusammenfassten. So wird denn die Vermutung die begründetere sein, nach der diese Klagen auf die Zeit des Antiochus gehen, weil damals die Gemeinde Gottes der Propheten ermangelte. Immerhin, wenn man lieber an die babylonische Gefangenschaft denken will, so ist auch dann der Knoten leicht zu lösen. Denn obgleich damals Jeremia, Hesekiel und Daniel lebten, so schwiegen sie doch bekanntlich für einige Zeit, indem sie ihren Beruf vorläufig erfüllt hatten, – bis dann am Vorabend der Befreiung Daniel wieder hervortrat und die Verbannten zur Heimkehr ermunterte. Darauf deutet offenbar Jesaja (40, 1) mit den Worten hin: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. “ Das zeitweise Schweigen der Propheten zeigt eben an, dass ihnen kein Wort in Betreff der Zukunft gegeben war.

Gott, warum verstößest du uns so gar? Falls diese Klage während der babylonischen Gefangenschaft geschrieben worden ist, so dürfen wir, obschon nach Jeremias Weissagung auf das 70. Jahr die Erlösung zu erwarten stand, uns nicht wundern, dass die Gefangenen vor übergroßem Überdruss an der langen Wartezeit täglich seufzten und der so lange Zeitraum ihnen unendlich dünkte. Diejenigen aber, die unter des Antiochus Grausamkeit litten, konnten, da ihnen keine Zeitbestimmung gegeben war, mit Grund über den unaufhörlichen Zorn Gottes klagen, besonders da sie sahen, wie die Feinde täglich widerwärtiger wurden und ihre eigene Sache immer schlimmer stand, so dass ihnen keine Hoffnung auf Trost mehr blieb. Da sie nämlich durch viele unglückliche Kriege, die bald nacheinander von ihren Nachbarn ausgingen, schon ohnehin geschwächt waren, kam es mit ihnen damals beinahe bis zur völligen Erschöpfung. Es ist aber zu bemerken, dass die Gläubigen, von den heidnischen Völkern gequält, ihre Augen dennoch zu Gott erheben, wie wenn nur dessen Hand ihnen diese Schläge erteilte. Sie wussten eben, dass nur durch Gottes Ungnade den Heiden solche Frechheit gegen sie gestattet war. In der Überzeugung also, dass sie nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, sondern von Gottes gerechtem Gericht geschlagen werden, betrachten sie das als Ursache und Quell aller Übel, dass Gott, unter dessen Gnade sie ehemals glücklich gelebt, sie nun verworfen habe und sie fortan der Zugehörigkeit zu seiner Herde nicht mehr für würdig erachte. So oft wir also von Ungemach bedrängt werden, so sind es nicht blindlings auf uns geschossene Pfeile des Schicksals, sondern Gott ist es, der nach seinem verborgenen Willen diese Geißeln und Ruten über uns schwingt zur Züchtigung wegen unserer Sünden. Dass er „so grimmig zornig“ sich gebärde, ist übrigens aus der Empfindung unseres Fleisches geredet. Gott zürnt ja nicht im eigentlichen Sinne über seine Auserwählten, sondern wendet nur gegen ihre Schäden die Trübsale als Heilmittel an. Die Gläubigen aber, die diese Bedeutung der Strafen erkannt haben, werden vom Geiste beim Worte „Zorn“ an ihre Schuld erinnert. Wo also Gott an uns seine Vergeltung übt, da ist es an uns, zu erwägen, was wir verdient haben. Wir sollen uns sagen: Wenn auch Gott über die Empfindung von Jähzorn erhaben ist, so liegt es doch nicht an uns, wenn er nicht wider uns entbrannte, da ihn doch unsere Sünden so schwer gereizt haben. Nun aber nehmen die Gläubigen, um Erbarmung zu erlangen, ihre Zuflucht zum Gedächtnis des Bundes, in den sie als Gottes Kinder aufgenommen worden sind. Indem sie sich bezeichnen als „Schafe deiner Weide“, erinnern sie an die freie Wahl, durch die sie aus den Heiden ausgesondert wurden. Das wird im Folgenden noch deutlicher ausgedrückt.

V. 2. Gedenke an deine Gemeine. Sie rühmen sich, dem Herrn besonders anzugehören, nicht aus Verdienst, sondern weil Gott sie aus Gnaden angenommen hat. Eben darauf soll es deuten, dass Gott sie schon vor alters erworben hat: sie haben also die Stellung unter Gottes Regiment bereits ererbt, nicht etwa erst seit wenigen Monaten erreicht. Und je längere Zeit Gott gegen den Samen Abrahams seine Liebeserweisung fortgesetzt hatte, desto fester war ihr Glaubensstand begründet. Sie sagen also aus, sie seien von Anfang an Gottes Volk gewesen, d. h. seit der Zeit, da Gott einen unverletzlichen Bund mit Abraham aufgerichtet hatte. Dem wird noch die Erlösung beigefügt, durch welche die Annahme feierlich bestätigt wurde. Denn Gott hatte damals nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat seine Herrschaft geltend gemacht. Diese göttlichen Wohltaten halten die Kinder Israel sich selber vor als Grund ihres Vertrauens; und sie erwähnen sie auch vor Gott als deren Urheber, damit er sein Werk nicht im Stiche lasse. Im Vertrauen darauf nennen sie sich nun weiter den „Stab deines Erbteils“, d. h. das Erbteil, das er sich selbst zugemessen hat. Da man nämlich mit Messruten die Felder abzugrenzen pflegte, so spielt der Psalm auf jenen Brauch an. Andere setzen zwar statt „Stab“ lieber „Stamm“ im Sinne von Volksstamm. Aber ich ziehe jenen Vergleich vor, dass Gott durch einen geheimen Ratschluss Israel wie mit einer Messstange aus den übrigen Völkern zu seinem Eigentum aussonderte. – Zuletzt ist noch vom Tempel die Rede, in dem Gott zu wohnen versprochen hatte; nicht dass er seinem Wesen nach darin eingeschlossen wäre, wie schon öfters gesagt worden ist, – sondern weil die Gläubigen dort spürten, wie er nach seiner Güte und Gnade ihnen nahe und gegenwärtig war. Nun ist uns klar, woher das Volk des Herrn das Vertrauen zum Gebet nimmt, nämlich aus Gottes Gnadenwahl und seinen Verheißungen, sowie aus dem ihm anvertrauten Gottesdienst.

V. 3. Erhebe deine Schläge usw. Die Gläubigen bitten um einen tödlichen Gegenschlag wider die Feinde dafür, dass dieselben so grausam im Heiligtum Gottes gewütet haben. Sie wollen sagen, es sei nicht genug an einer bloß mäßigen Bestrafung für ein so gottloses und lästerliches Toben; die so feindselig gegen Gottes Tempel und Volk gehandelt, müssten vielmehr ganz vertilgt werden, dass ihnen keine Aussicht auf Wiederherstellung überbleibe, denn ihre Gottlosigkeit sei eine verzweifelte. Indem nun der Geist den Gläubigen dieses Gebet in den Mund gelegt, so können wir daraus entnehmen, wie überaus groß Gottes Liebe gegen uns ist, da er die uns zugefügten Beleidigungen so streng rächen will; ferner wir große Stücke der Herr auf seine Verehrung hält, dass er deren Verletzung ernstlich mit seinen Strafen verfolgt. – Was die einzelnen Worte anlangt, so übersetzen einige „Erhebe deine Schritte“ und legen den Sinn hinein: Herr, eile mit hochgehobenen Füßen, also schnell, herbei, die Feinde zu schlagen. Ich habe aber kein Bedenken getragen, mich denen anzuschließen, die statt „Schritte“ „Schläge“ setzen. Das letzte Stück des Verses wird von manchen anders erklärt, nämlich, dass der Feind alles im Tempel verwüstet habe. Mit Rücksicht auf die Satzbildung des Grundtextes wollte ich aber nicht von der bewährten, alten Lesart abweichen.

V. 4. Deine Widersacher brüllten. Mit Löwen werden die Widersacher verglichen zur Bezeichnung ihrer Wildheit, mit der sie überall gewütet und nicht einmal den Tempel verschont haben. Mit den Worten: Sie haben ihre Zeichen hingesetzt, wird die von den Feinden angetane Schmach angedeutet, da sie ihre Siegeszeichen aufrichteten zum hochmütigen Triumpf über Gott selbst. Wer irgend ins heilige Land eindrang, wusste, dass dort besonders der Dienst Gottes in Kraft stand; und der Tempel war sozusagen das Abzeichen der Gegenwart Gottes, wie wenn er dort seine Fahnen ausgesteckt hätte, damit jenes Volk ihm untertänig bliebe. Diesen Abzeichen, die das Volk Gottes von den heidnischen Völkerschaften schieden, setzt nun der Prophet die Zeichen entgegen, welche die Feinde zur Entweihung des Tempels hingesetzt hatten. Und um den Ausdruck der Entrüstung über solches lästerliche Tun der Feinde zu verstärken, setzt er dasselbe Wort zweimal.

V. 5 bis 8. Er war bekannt usw. Diesen besonderen Umstand fügt der Prophet bei, um noch schärfer die barbarische Wildheit der Feinde zu kennzeichnen, in der sie einen Bau, der mit so großem Aufwand aufgeführt, mit so viel Schönheit und Pracht ausgestattet, mit so viel Fleiß und Kunst ausgearbeitet war, auf rohe Weise zerstört haben. Die Worte sind etwas dunkel. Ihr Sinn läuft etwa darauf hinaus, dass beim Baum des Tempels rühmlichst bekannte Künstler beschäftigt waren, die das Holz zurichteten. Im Gegensatz zu dieser Bearbeitung ist dann vom dichten Gehölz die Rede. Es soll hervorgekehrt werden, mit welch ausgesuchter Kunstfertigkeit man den rohen und unebenen Stämmen eine edle Gestalt gegeben hatte. Mehr empfiehlt sich vielleicht noch eine andere Übersetzung: „Es wurde erkannt (und ausgewählt), der zur Höhe erhoben war“, – nämlich der Baum, den man für den Tempelbau aus dichtem Gehölz heraushieb[1].

Der nächste Vers schildert nun gegensätzlich, wie die Chaldäer rücksichtslos mit Äxten und Hämmern in ein solch herrliches Bauwerk eindrangen, als ob es ihr Vorsatz gewesen wäre, durch Zerstörung des prächtigen Baues Gottes Ehre mit Füßen zu treten.

Darauf klagt der heilige Sänger (V. 7) über den Brand des Tempels, wodurch derselbe ganz zerstört wurde, nachdem die Maschinen ihn erst halb in Trümmer gelegt hatten. Das Wort „Heiligtümer“ in der Mehrzahl deutet auf die Dreiteilung des Tempels in das Allerheiligste, das Heilige und den Vorhof. Denn dass nichts anderes als der Tempel gemeint ist, zeigen die unmittelbar folgenden Worte: die Wohnung deines Namens. Von Gottes „Namen“ aber ist die Rede, weil deutlich werden soll, dass er nicht seinem Wesen nach von dem Ort umschlossen war, sondern dass er nach seiner Kraft im Tempel wohnte, damit er daselbst vom Volk mit desto größerem Vertrauen angebetet würde.

Und um die Wildheit der Feinde noch anschaulicher darzustellen, führt uns der nächste Vers vor Augen, wie sie sich gegenseitig ermuntern, damit die Verwüstung keine mäßige sei. Wie wenn sie zum Schaden anrichten noch zu wenig Eifer hätten, stachelt einer den anderen noch an, damit sie ohne Ausnahme das ganze Volk Gottes verwüsten und vernichten. Zuletzt hören wir, dass alle Häuser Gottes im Lande, d. h. alle Synagogen, verbrannt wurden. Die Feinde waren so sehr darauf aus, den Namen Gottes auszutilgen, dass kein Winkel von ihnen unversehrt gelassen wurde. Als Gotteshäuser werden nicht unpassend alle die Orte angesehen, wo religiöse Zusammenkünfte stattfanden, nicht nur zum Lesen und Auslegen der prophetischen Schriften, sondern auch zum Anrufen des Namens Gottes. Die Feinde hatten also nichts unterlassen, um den Gottesdienst in Judäa zu vertilgen.

V. 9. Unsere Zeichen sehen wir nicht. Hier führen die Gläubigen aus, wie schwer ihr Ungemach ist, da es durch keinen Trost gemildert wird. Denn das Eine gereicht den Frommen vorzugsweise zur Aufrichtung des Gemüts, wenn Gott die Hoffnung auf eine Wiederherstellung gewährt mit der Verheißung, dass er noch während der Zornesoffenbarung seiner Barmherzigkeit gedenken werde. Unter den Zeichen verstehen einige die Wunder, durch die Gott einst dem heimgesuchten Volke bezeugte, er werde ihm immerdar gnädig sein. Die Klage der Gläubigen bezieht sich aber eher auf die Gnadenzeichen, die ihnen entzogen waren, indem Gott sein Antlitz gewissermaßen verbarg. Infolgedessen lastet auf ihrem Gemüt so tiefes Dunkel, dass ihnen auch nicht ein Funke von Trosteslicht erscheint. Weil aber eins der vorzüglichsten Gnadenzeichen darin bestand, dass von den Propheten eine künftige Befreiung verheißen wurde, so seufzen sie eben darüber, dass kein Prophet mehr da sei, der irgendein Ende des Unglücks voraussehe. Daraus geht hervor, dass den Propheten das Trostamt anvertraut war, damit sie die in Trauer versunkenen Gemüter mit der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit aufrichteten. Sie waren zwar die Herolde und Zeugen des göttlichen Zorns und hatten als solche die Unbeugsamen und Widerspenstigen mit Drohungen und Schreckworten zur Buße zu zwingen; allein, wenn sie die ganze Rache Gottes ohne Abstrich verkündigt hätten, so hätte ihre Unterweisung zum Untergang des Volkes ausschlagen müssen, während sie doch zum Heil desselben bestimmt war. Darum ist ihnen die Weissagung vom künftigen Ausgang aufgetragen, indem unter den zeitlichen Strafen Gottes väterliche Züchtigung vor Augen gestellt wird, welche die Traurigkeit mildert, wogegen ein unaufhörlicher Zorn Gottes die armen Sünder geradezu umbringen müsste. Darum wollen auch wir, wenn wir unter der Züchtigung Gottes Geduld und Trost suchen, unsere Blicke auf Gottes Milde heften lernen, mit der er uns zur Hoffnung einlädt, und so erkennen, dass Gott nicht so weit zürnt, dass er nicht unterdessen noch immer unser Vater wäre. Die Zurechtweisung aber, die uns das Heil bringt, mischt unter den Schmerz auch die Freude. Auf diesen Hauptpunkt ihre Belehrung zu richten, ließen sich alle Propheten angelegen sein. Denn wenn sie auch oft streng und hart verfahren, um des Volkes Trotz durch Furcht zu bezähmen, so fügen sie doch, sobald sie sehen, dass die Leute sich demütigen, einen Trost bei. Und einen solchen gibt es nicht ohne die Hoffnung einer künftigen Erlösung. Man fragt mich aber, ob denn Gott, wenn er bei seinen Heimsuchungen die Traurigkeit lindern will, den Seinen immer Jahr und Tag der Befreiung vorgerechnet habe. Darauf antworte ich: Die Propheten haben, wenn sie auch die Zeiten nicht immer näher bestimmten, doch öfters ein nahes Heil in Aussicht gestellt. Sie alle aber haben von der zukünftigen Wiederherstellung der Gemeinde gesprochen. Will anderseits jemand einwenden, das Volk habe in seiner Heimsuchung verkehrt gehandelt, dass es nicht die allgemeinen Verheißungen auf sich bezog, die ja sicherlich allen Jahrhunderten in gleicher Weise galten, so antworte ich: Gott pflegte jede Trübsalszeit jeweilen einen Boten der Erlösung beizugeben. Wo nun kein eigens abgesandter Prophet erscheint, da klagt das Volk nicht ohne Grund, dass ihm die gewohnten Gnadenzeichen fehlen. Es war denn auch bis zur Ankunft Christi in erster Linie nötig, in jedem Zeitalter das Gedächtnis der verheißenen Erlösung aufzufrischen, damit die Gläubigen auch in jeder Heimsuchung wüssten, dass Gott noch an sie denke.

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