Halbe Unschuld

Halbe Unschuld – Marcel Prévost

Dieses Sittengemälde eines jungen Mädchens erregte beim Erstdruck 1901 viel Aufsehen. Der in Paris geborene und verstorbene französische Schriftsteller schrieb nicht nur einige erfolgreiche Romane, sondern war auch Dramatiker.

Halbe Unschuld

Halbe Unschuld.

Format: eBook

Halbe Unschuld.

ISBN eBook: 9783849656867.

 

Auszug aus dem Text:

Während Maud sich an den Schreibtisch des kleinen Salons setzte und mit lebhafter Miene ein blaues  Telegramm niederschrieb, nahm ihre Mutter, M mme. de Rouvre, die dicht neben ihr auf einer Chaiselongue, in der steifen Stellung einer am Rheumatismus Leidenden ausgestreckt lag, ihren englischen Roman wieder auf um weiter zu lesen.

Der Schreibtisch – viel zu niedrig für die schlanke Gestalt Mauds – gehörte zu den bizarren und bequemen Möbeln aus dunkelm Mahagoniholz, welche in London angefertigt, neuerdings auch in Paris in Aufnahme kommen. Ebenso trug die ganze Einrichtung des kleinen Salons und des zweiten, viel geräumigeren, den man durch die breite Thüröffnung ohne Vorhänge sah, das Gepräge dieses amüsanten, etwas verirrten Geschmacks von jenseits des Kanals, in dem sich unsere moderne Eleganz, die sich an den reinen und entzückenden Stilarten des vorigen Jahrhunderts satt gesehen, gefällt. Hier waren zierliche Stühle von gebogenem Holz, weiß oder mattgrün lakiert, übertrieben breite Fauteuils aus Mahagoni, eingelegt mit westindischen Holzarten, und mit flachen Polstern aus Saffianleder statt der weichen, seidenen Daunenkissen. Vom Fries des Plafonds fielen in langen, geraden Falten die Vorhänge und Draperien aus einfarbigem Corahstoff oder leichtem Krepp, gemustert mit großen orangegelben, malvenfarbigen und meergrünen Blumen. Ein kurzgeschorener Filzteppich von gelblichgrüner Moosfarbe bedeckte den Fußboden wie eine gleichmäßige Grasfläche – der frischgemähte Rasen eines englischen Parks.

Die ganze Wohnung, wie ihre Ausschmückung, zeugte von einem sehr bestimmten Geschmack des Modernen, der die neuesten Bequemlichkeiten kennt und entschlossen ist sie auszunutzen. Es war der zweite Stock in einem jener kolossalen Häuser, mit denen ein Pariser Architekt vor kurzem mehrere Avenuen in der Umgebung von L’Arc de Triomphe beglückt hat. Dieses Haus lag nach der Avenue Kléber hinaus, nur wenige Schritte von der Place de l'Étoile entfernt. Die Wohnung hatte fünfzehn Fenster Front, in einer Flucht, und nahm die ganze Vorderseite des ungeheuren Hotels ein. Jede der drei Bewohnerinnen (M me. de Rouvre, die jetzt Witwe geworden, nachdem sie kurze Zeit von ihrem Manne geschieden gelebt, wohnte dort mit ihren zwei Töchtern, Maud und Jacqueline) hatte ihre eigenen Zimmer mit eigenem Eingang vom langen Korridor, der parallel mit der Façade lief. An Ballabenden konnte eine ungeheure, bewegliche Halle, die den ganzen Hofraum des Hauses einnahm, mit Hilfe von Elevatoren zur Höhe der einzelnen Stockwerke herausgehoben werden, deren Raum dadurch verdoppelt wurde.

Maud de Rouvre paßte nicht schlecht in diesen reichen Rahmen, dessen moderne Eleganz von ihr ausgewählt und zusammengestellt war. Trotz der runden Hüften und der üppigen Büste ließ die biegsame Schlankheit ihres Wuchses sie zart erscheinen; ebenfalls die Anmut der schrägen Schultern; die Kleinheit des blassen Köpfchens, von braunen Haaren umgeben, von jenem seltenen Braun, das kaum zu beschreiben ist, etwa wie ein goldenes Gewebe, das man gebräunt hat, und wo durch die Patina der Farbe das leuchtende Rot des Metalls hervorschimmert.

Dieses schwere, braune Haar war à la Japonaise in die Höhe gestrichen von einer schmalen Stirn, mit Augenbrauen so scharf und fein, als wären sie mit dem Pinsel gezogen: darunter blickten mäßig große Augen hervor, die aber von einer unvergleichlich strahlenden Bläue waren. Auch die Nase war reizend; zierlich oben am Ansatz, mit weiten Nasenflügeln, war sie eine jener entzückenden Stumpfnäschen, die dem Gesicht einen Ausdruck von stolzem Eigensinn verleihen, und die bei Konservatorieschülerinnen über ihre Berufung zur “großen Kokette” entscheiden. Nur der Mund störte etwas die Harmonie der Züge; er war klein, mit wundervollen Zähnen, aber eher rund als länglich, und mit Lippen, an denen ein Arzt, der sich für die Brandmäler der Entartung interessiert, sich die senkrechten, feinen Falten gemerkt hätte. Und sicher würde er dieses Anzeichen in Verbindung gebracht haben mit der Form der niedlichen Ohren, die fast ohne Ohrläppchen an den Kopf angewachsen waren.

Aber wer weiß? Vielleicht liegt in diesen kleinen unharmonischen Mängeln, welche die Eintönigkeit der anerkannten weiblichen Schönheit unterbrechen, gerade der phantasieerregende Reiz, vielleicht sind sie gerade die geheimnisvolle Lockspeise, wodurch derartige Frauen am allergefährlichsten zur Liebe reizen. Wie Maud da saß, über ihren ” blotter” gebeugt, das Viereck der Karte mit ihrer länglichen, schnellen Handschrift bedeckend, bannte sie unwiderstehlich den Blick, welcher vielleicht mit Gleichgültigkeit über klassischere Formen und Züge hinweggleiten würde. Ihr einfaches Kleid von grauem Krepp mit einem seidenen Gürtel, ohne jeglichen Besatz, ohne Juwelenschmuck; ihre langen Hände ohne Ringe; die Kamelienfrische ihrer Haut und irgend etwas Unbestimmtes in der Zeichnung der Arme und des Halses zeigte, daß sie noch junges Mädchen war, – kein ganz junges Mädchen mehr, aber kaum über zwanzig … Und auf der anderen Seite – die breiten Hüften, der reife Busen, die sicheren Augen mit den unbeweglichen Pupillen, die sie in diesem Augenblick vom Papier hob, während sie, nach einem rebellischen Worte suchend, am Bart ihrer Feder kaute und die Stirn in Falten zog – wieder war es etwas ganz Bestimmtes, etwas Fertiges, ja sogar ein wenig Verbrauchtes, in der Haltung, im Blick, das einen zögern und fragen ließ: “Ist sie vielleicht eine verheiratete Dame?” In Wirklichkeit wurde sie auch, je nachdem sie ihre Toiletten wählte, je nachdem sie ihren Tag hatte “Mademoiselle” oder “Madame” genannt in den Läden, wohin sie in ihrem Coupé fast immer allein fuhr, da M me. de Rouvre, als Kreolin von Natur träge, durch ihr rheumatisches Leiden noch schwerfälliger wurde.

Nichts konnte der schönen Maud weniger ähnlich sein, als diese arme, kränkliche Mutter, welche in diesem Augenblick auf ihrer Chaiselongue ausgestreckt lag, das Gesicht ängstlich verzogen von den stets erneuten Schmerzanfällen, außer stande ihren Tauchnitz zu lesen, der, ihren Händen entfallen, auf dem Teppich vor ihr lag. Und doch war Elvira Hernandez schön gewesen, das zeigten die Miniaturbilder aus ihrer Jugend, zur Zeit als François de Rouvre, Edelmann und Girondist, auf der Suche nach einem Vermögen im Jahre 1868 in Cuba landete, ihre Liebe gewann, sie heiratete und so mit einem Schlage das glänzende Abenteuer fand, nach dem er ausgegangen. Von dieser Schönheit waren keine Spuren geblieben, weder in dem von Gicht eingeschrumpften Körper noch in dem unglaublich faltenreichen, aufgedunsenen, durchwühlten, fast wie gekochten Gesicht, das sie unmäßig puderte, was noch dazu beitrug ihr das Aussehen einer Duenna zu geben, dem wenige Spanierinnen entgehen, wenn sie das vierzigste Jahr erreicht haben. Ihrer Anmut beraubt, waren ihr doch inmitten all ihrer Leiden die Frivolität, der sorglose Optimismus ihrer Jugend geblieben, und eine ausgesprochene Lust an Putz, an grellfarbigem Flitterstaat, auffallendem Goldschmuck und farbigen Steinen, ja, es bedurfte der ganzen despotischen Autorität Mauds, um sie zu verhindern sich jetzt noch an Promenadentagen in die Papageientoiletten zu kleiden, die sie sich im geheimen bestellte. Umgekehrt vernachlässigte sie sich, wenn der Rheumatismus sie faßte, über alle Maßen, und behielt bis zum Abend das Kleidungsstück an, das sie beim Aufstehen angezogen hatte. Heute zum Beispiel lag sie, obschon es Dienstag, ihr Empfangstag war, noch um zwei Uhr nachmittags in einem alten, braunen Schlafrock mit havannafarbenen Bändern da, unfrisiert, ungewaschen unter dem Mehlstaube, der ihre Wangen bedeckte.

Maud hatte das Telegramm beendet, schrieb ihren Namen darunter und datierte es, – 4. Februar 1893; – darauf ließ sie ihren Finger, nachdem sie ihn leicht befeuchtet, über den mit Gummi bestrichenen Rand der Karte gleiten und schrieb die Adresse darauf.

“An wen schreibst Du?” fragte die Mutter.

“An Aaron. Er geht jeden Nachmittag in seinem Comptoir vor. Ich schicke den “blauen” an’s Katholische Bureau.” M me. de Rouvre drehte sich stöhnend um auf ihrer Chaiselongue:

“Und was willst Du denn von diesem widerlichen Alten?”

“Ich will eine Loge in der Oper, morgen, für die Première … Ich habe ihm geschrieben, daß er mir die Billette heute abend bringt. Ich habe ihn vorigen Dienstag so schlecht empfangen, daß er sich nicht wieder herwagt. Mein kleiner Brief wird alles wieder gut machen, und um fünf Uhr wird er hier erscheinen, um sich liebenswürdig zu machen.”

Maud behielt während einiger Minuten das Telgramm zwischen ihren Händen und spielte damit. Dann fuhr sie fort:

“Direktor des Katholischen Bureaus, das wird in den Ohren der Chantels einen guten Klang haben.”

me. de Rouvre schrie auf:

“Der Chantels! Ich meine, das hatten wir nicht nötig, ihnen diesen Menschen vorzuführen, diesen falschen Elsässer, falschen Katholiken, der die Pfarrer, die frommen Schwestern und die religiösen Gemeinden ausbeutet, und der sich erlaubt es überall laut auszusprechen, daß er in Dich verliebt ist. Als ob eine Demoiselle de Rouvre etwas für einen Frankfurter Wucherer wäre, und noch dazu einen verheirateten! M me. de Chantel soll, wenn sie zum erstenmal ihren Fuß in mein Haus setzt, etwas Besseres vorfinden! Unsere Dienstage sind sehr gesucht!”

Maud ließ die Mutter sprechen, mit einem Lächeln, das halb traurig, halb ironisch war.

“Oh ja, sehr gesucht,” murmelte sie. “Nur ein wenig zuviel von Leuten, die überall erscheinen, wo sie offene Thüren finden. Ein Regierungsattaché wie Lestrange, der Sekretär eines Deputierten wie Julien; dann der übriggebliebene Rest von Papas Klubverkehr und unsere Badebekanntschaften. Das soll wohl Eindruck machen auf Leute von altem Adel wie Maxime und seine Mutter.”

….

 

 

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