Herzchen (Deutsche Neuübersetzung)

Herzchen – Anton Tschechow

In Tschechows Erzählungen gewinnt die Liebe selten in ihrem besten Sinne, aber “Herzchen”, eine seiner bekanntesten Geschichten, scheint so etwas wie ein Ausnahme in dieser Hinsicht. Denn hier geht es ihm um die Veranschaulichung der Behauptung, dass das Objekt der Liebe einer Frau von vergleichsweise wenig Bedeutung ist, denn es ist das Gesetz ihres Seins, immer etwas oder jemanden zu lieben. Er erzählt uns während der gesamten Geschichte, dass Olenka immer in jemanden verliebt war und nicht existieren konnte, ohne zu lieben. Man könnte schon fast über die schnelle Entwicklung ihrer Zuneigung amüsiert sein, wenn das Schicksal ihr die Objekte ihrer Liebe nimmt – zuerst den Theaterleiter, dann den Kaufmann, und als nächstes den Tierarzt – aber man zweifelt nie an der Wahrhaftigkeit, Selbstverleugnung und Hingabe ihres warmen Charakters; am Ende projiziert sie all diese Eigenschaften auf einen kleinen Jungen – ein höchster Akt der Liebe an das eine Individuum, das ihr am wenigsten dafür bieten kann ….

Herzchen

Herzchen.

Format: eBook.

Herzchen.

ISBN: 9783849653712.

 

Auszug aus dem ersten Kapitel:

 

OLENKA, die Tochter des pensionierten akademischen Gutachters Plemyanikow, saß auf der Treppe zur Hintertür ihres Hauses und faulenzte. Es war heiß, die Fliegen ärgerten und neckten sie, und es war angenehm daran zu denken, dass es bald Abend sein würde. Dunkle Regenwolken sammelten sich von Osten her und sandten hin und wieder einen Hauch Feuchtigkeit voraus.

Kukin, der im Flügel desselben Hauses wohnte, stand im Hof und sah in den Himmel. Er war der Leiter des Tivoli, einem Freilichttheater.

“Schon wieder”, sagte er verzweifelt. “Schon wieder Regen, Regen, Regen, Regen! Jeden Tag Regen! Als ob mich jemand ärgern wollte. Ich kann meinen Kopf genauso gut in eine Schlinge stecken und es beenden. Es ruiniert mich. Jeden Tag große Verluste!” Er rang die Hände und fuhr an Olenka gewandt fort: “Was für ein Leben, Olga Semjonowna! Es reicht, um einen Mann zum Weinen zu bringen. Er arbeitet, er gibt sein Bestes, sein Allerbestes, er quält sich selbst, er durchwacht schlaflose Nächte, er denkt und denkt und denkt darüber nach, wie er alles richtig machen kann. Und was ist das Ergebnis? Er bietet dem Publikum die beste Operette, die beste Pantomime, exzellente Künstler. Aber wollen sie das auch? Haben sie die geringste Wertschätzung dafür? Die Öffentlichkeit ist unhöflich. Das Publikum ist ein großer Rüpel. Das Publikum will einen Zirkus, viel Unsinn, viel Zeug. Und dann dieses Wetter. Sieh! Es regnet fast jeden Abend. Am 10. Mai begann es zu regnen, und das hat es den ganzen Juni über getan. Es ist einfach schrecklich. Ich habe kein Publikum, und muss dennoch für die Miete aufkommen! Und ich muss doch die Schauspieler bezahlen, nicht wahr?”

Am nächsten Tag zogen sich die Wolken gegen Abend erneut zusammen, und Kukin sagte mit hysterischem Lachen:

“Oh, das ist mir egal. Soll es noch schlimmer kommen. Soll das ganze Theater im Wasser ertrinken, und ich auch. Alles klar, kein Glück für mich in dieser oder der nächsten Welt. Lasst die Schauspieler mich verklagen und vor Gericht ziehen. Was ist schon ein Gericht? Warum nicht Sibirien und Zwangsarbeit, oder sogar das Schafott? Ha, ha, ha!”

Am dritten Tag war es genauso.

Olenka hörte Kukin ernsthaft und schweigend zu. Manchmal stiegen ihr Tränen in die Augen. Schließlich berührte sie Kukins Pech. Sie verliebte sich in ihn. Er war klein, hager, mit gelbem Gesicht, und lockigem Haar, das er aus der Stirn zurückgekämmt hatte, und mit dünner Tenorstimme. Seine Gesichtszüge runzelten sich, als er sprach. Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und doch weckte er in Olenka ein aufrichtiges, tiefes Gefühl.

Sie liebte immer irgendjemanden. Sie konnte nicht leben, ohne jemanden zu lieben. Sie hatte ihren kranken Vater geliebt, der die ganze Zeit in seinem Sessel in einem abgedunkelten Raum saß und schwer atmete. Sie hatte ihre Tante geliebt, die ein- bis zweimal im Jahr aus Brjansk kam, um sie zu besuchen. Und davor, als Schülerin einer Sekundarschule, hatte sie ihren Französischlehrer geliebt. Sie war ein ruhiges, gutherziges, mitfühlendes Mädchen, mit sanften, zarten Manieren. Und sie machte einen sehr gesunden, wohlbehaltenen Eindruck. Beim Anblick ihrer vollen, rosigen Wangen, ihres weichen, weißen Halses mit dem schwarzen Muttermal und dem gutmütigen, naiven Lächeln, das immer auf ihrem Gesicht spielte, wenn etwas Erfreuliches gesagt wurde, dachten die Männer: “Nicht schlecht” und lächelten auch; und die Besucherinnen packten plötzlich mitten im Gespräch ihre Hand und riefen in einem Freudenausbruch, “Du Herzchen.”

Das Haus, das sie von Geburt an bewohnt und schließlich geerbt hatte, befand sich am Rande der Stadt im Zigeunerweg, unweit des Tivoli. Vom frühen Abend bis spät in die Nacht konnte sie die Musik des Theaters und das Platzen der Raketen hören; und es schien ihr, dass Kukin brüllte, mit seinem Schicksal haderte und seinen Hauptfeind, das gleichgültige Publikum, im Sturm eroberte. Ihr Herz schmolz sanft dahin, sie verspürte keinen Wunsch zu schlafen, und wenn Kukin gegen Morgen nach Hause kam, klopfte sie an ihre Fensterscheibe, und durch die Vorhänge sah er ihr Gesicht, eine Schulter und das freundliche Lächeln, das sie ihm schenkte.

Er machte ihr einen Antrag, und sie heirateten. Und als er einen guten Blick auf ihren Hals und ihre kräftigen Schultern hatte, klatschte er in die Hände und sagte:

“Du Herzchen!”

Er war glücklich. Aber es regnete an ihrem Hochzeitstag, und der Ausdruck der Verzweiflung wich nie aus seinem Gesicht.

Sie kamen gut miteinander zurecht. Sie saß an der Kasse, hielt das Theater sauber, buchte die Ausgaben und zahlte die Gehälter aus. Ihre rosigen Wangen, ihr freundliches, naives Lächeln, das wie ein Heiligenschein um ihr Gesicht lag, waren am Kassenfenster, hinter den Kulissen und im Café zu sehen. Sie begann ihren Freunden zu vermitteln, dass das Theater das Größte, das Wichtigste, das Wesentlichste auf der Welt sei –der einzige Ort, an dem man wahren Genuss erlangen, sich menschlich fühlen und bilden könne.

…..

 

 

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