Il Novellino – Die hundert alten Geschichten

Il Novellino – Die hundert alten Geschichten

“Il Novellino” ist eine Sammlung von kurzen Anekdoten und beliebten Geschichten, die um 1250-1300 geschrieben wurden. Die meisten gebildeten Menschen dieser Zeit kannten diese Geschichten und viele davon fungierten als Grundlage für die Werke von Boccaccio, Chaucer, Shakespeare, und anderen. “Il Novellino” ist eines der ersten Werke, das in der sich damals entwickelnden italienischen Sprache geschrieben wurde. Das Latein verlor zu dieser Zeit langsam seine Dominanz als Sprache des öffentlichen und akademischen Lebens . Die Geschichten des Buches haben viele mögliche Ursprünge. Einige stammen definitiv aus dem traditionelleren lateinisch-klassischen oder monastischen Teil der Kultur, während andere Geschichten aus dem täglichen städtischen und ländlichen Umfeld stammen. Mehrere Geschichten wurden offensichtlich aus dem Nahen Osten nach Italien überliefert, wahrscheinlich von Kreuzrittern, die nach Hause zurückkehren, andere sind Nacherzählungen bekannter Bibelgeschichten oder italienische Adaptionen französischer oder provenzalischer Geschichten.

Il Novellino - Die hundert alten Geschichten

Il Novellino – Die hundert alten Geschichten.

Format: Taschenbuch/eBook

Il Novellino – Die hundert alten Geschichten.

ISBN: 9783849654276 (eBook)

ISBN: 9783849669348 (Taschenbuch)

 

Auszug aus dem Vorwort:

 

EINES Tages gegen Ende des dreizehnten oder Anfang des vierzehnten Jahrhunderts, als das Mittelalter die Renaissance noch wie ein dunkler Vorhang verhüllte, hatte ein “Mann des Hofes” oder ein Minnesänger eines italienischen Fürsten einen dieser Geistesblitze, die es in die Literaturgeschichte schafften. Dieser “Mann des Hofes”, der vielleicht nur dem Namen nach ein Minnesänger oder Hofnarr war – denn sein Talent war speziell literarischer Natur – , kannte die kleinen archaischen, Geschichten, die die Sammlung der Cento Novelle Antiche oder Novellino ausmachen, auswendig. Oft erzählte er sie selbst oder hörte, wie sie in den fürstlichen Sälen, an herrschaftlichen Orten, in Hütten nach Tagen der Jagd oder in den Lagern auf den Schlachtfeldern erzählt wurden. Vor Publikum aus Feudalherren und Rittern, in Begleitung von stattlichen Prälaten und bei ausgelassenen Treffen schneidiger Junker hatten er oder bescheidenere Vertreter seines Fachs diese einfachen Geschichten erzählt, von denen einige das Wissen vergangener Zeiten widerspiegelten, während andere pikant mit dem Geschmack seiner Zeit spielten. Er kannte ihre Wirkung nur zu gut und konnte sich eine aussuchen, die zu seiner Gesellschaft und seinem Anlass passte. So wählte er zur Unterhaltung von ernsteren und älteren Edelleuten diejenigen mönchischer oder asketischer Herkunft aus, während er in Begleitung von ausgelassenen, jungen Cavalieri nicht zögerte, einige der freizügigeren Geschichten seiner mündlichen Anthologie zu erzählen. Die Anfänge der neuen italienischen Sprache, die sich gerade aus der säkularen Leibeigenschaft des elterlichen Lateins befreite und in ihren toskanischen und sizilianischen Mutterböden Gestalt annahm, suchten ihren frühen literarischen Ausdruck und fanden ihn im Werk unseres vielleicht leicht pedantischen Hofnarrs, der uns mit hoher Wahrscheinlichkeit für immer unbekannt bleiben wird. Dass es eine solche Person gab, ist offensichtlich, auch wenn wir ihren Namen, ihren Geburtsort oder ihren Nachlass nie finden werden. Er mag in der Tat eher ein weltlicher Mönch als ein “Mann des Hofes” gewesen sein, aber die Wahl der Novellen, die in der Sammlung enthalten sind, lässt sicherlich eher darauf schließen, dass der Übersetzer ein weltlicher Mann und kein Asket war. Ebenso wie die Tatsache, dass die Geschichten nicht auf Latein geschrieben wurden, denn das Latein klammerte sich hartnäckig an die Klöster, nachdem es auf den Zungen und in den Schreibwerkzeugen der damaligen Laienwelt fast ausgestorben war. Unser Zusammensteller, der in der Tat viel mehr als ein Zusammensteller war, hatte Mitjuroren und Gegner, Nachfolger und Überarbeiter, wie die verschiedenen Manuskripte des Novellino beweisen; aber der ursprüngliche Zusammensteller der Cento Novelle Antiche, wie das Werk früher genannt wurde, war eher eine einzelne Person und nicht eine Gruppe von Hofnarren oder ehemaliger Hofnarren in Diensten einiger mittelalterlicher Medici. So kam ihm die Idee, in einem Manuskript eine Auswahl der ritterlichen, moralischen, biblischen, klassischen und populären Geschichten, die zu seiner Zeit am beliebtesten waren, zusammenzufassen, und diese vielleicht einem florentinischen Mönch zum Vervielfältigen gab. Es waren Geschichten, die sich im Laufe der Zeit bewährt hatten – einige von ihnen bewährten sich sogar noch in nachfolgenden Zivilisationen – , und die die volle Anerkennung zahlreicher Höfe von der Provence bis Sizilien und von Parma bis Rom gefunden hatten. Bis dahin hatten sie nur auf den Lippen der höfischen Erzähler und wandernden Minnesänger gelebt, die sie schilderten. Die Geschichten, aus denen sich der Novellino zusammensetzt, wurden größtenteils “gelehrt”, wie wir aus unserem Text von einem Hofnarr oder Geschichtenerzähler zum nächsten lernen können. Jeder Mensch hat ihnen nach Lust und Laune Passagen hinzugefügt oder sie verändert. Dass die professionellen Erzähler mit den Geschichten im Geiste ihrer Zeit gespielt und gelegentlich Details und Schattierungen hinzugefügt haben, können wir aus Novella LXXXIX vermuten, wo ein “Mann des Hofes” von seinem gelangweilten Publikum daran erinnert wird, dass er seine Geschichte zu lange ausdehnt. Die hier unter dem Titel “Il Novellino” gedruckte Sammlung, von der die meisten Geschichten in der Originalausgabe des Cento Novelle Antiche von Gualteruzzi erscheinen, war Teil eines umfangreichen Repertoires ähnlicher Geschichten, Legenden und Anekdoten, die von Provinz zu Provinz, von Land zu Land erzählt wurden, und lebhafte, mittelalterliche Tage der Jagd und der Schlacht abschlossen.

Vielleicht kam unserem unbekannten Zusammensteller nach einer besonders erfolgreichen Nacht, in der er für seine Geschichten das Wohlwollen eines großzügigen signores erhalten hatte und eine Börse mit ein paar Goldmünzen in sein einsames Zimmer trug, die Idee, die mündlichen Geschichten in eine literarische Form zu fassen. Er hatte wahrscheinlich keine Ahnung, dass er Literatur schuf oder einen der unverfälschtesten, frühen Klassiker der jungen, italienischen Sprache gründete, den Esprit des Volkes aus dem Mutterlatein geformt hatte. Für ihn war es eine Frage der Bequemlichkeit und Nützlichkeit, obwohl der Drang, dem sich ausbreitenden Idiom eine literarische Form zu geben, bereits in der Luft lag und eine absolute Notwendigkeit war, da sich das gesprochene Wort bereits in der Toskana und anderswo, wenn auch in Dialektformen, kräftig verbreitet hatte. Die ersten literarischen Anstrengungen des italienischen Kulturgewissens waren bereits am Horizont zu sehen, und Schriftsteller, die mit den lateinischen Chroniken aufgewachsen und an die gemischten französisch-italienischen Werke wie das Entré en Espagne von Nicola da Padua gewöhnt waren, strebten danach, sich des wunderbaren, jungfräulichen Materials, das sich direkt vor ihnen ausbreitete, zu bemächtigen. Wir mögen am Rande darüber nachdenken, welch wunderbare Gelegenheit es für Dichter und Geschichtenerzähler war, obwohl sie sie nicht als solche begriffen, sich in der privilegierten Position zu befinden, eine jungfräuliche Sprache zu ihrer Verfügung zu haben, die nicht durch vorgefertigte Sätze oder die banalsten mechanischen Ausdrücke, beeinträchtigt wurde. Wenn eine neue Sprache ins Dasein kommt, wird nichts oder fast nichts stilisiert. Jeder Einfall oder Gedanke ergibt direkt und dynamisch eine natürlichen Phrase. Es gibt keine vorgefertigten Kanäle, welche die Spontaneität unterdrücken, so bequem und unvermeidlich solche Ausdrucksformen hinterher auch werden.

So träumte unser “Mann des Hofes” also von seiner großartigen Idee, entwickelte sie, dachte darüber nach, ließ sich vielleicht von einem Geschichten liebenden signore beraten und machte sich an die Arbeit. Wir können, glaube ich, durchaus argumentieren, dass es ein professioneller Geschichtenerzähler war, ein Hofnarr von überdurchschnittlicher Bildung und nicht ein Mönch oder Asket, der das erste Manuskript der hundert alten Geschichten gefertigt hat – und das wegen dem extrem freizügigen, um nicht zu sagen unzüchtigen Charakter von drei oder vier Geschichten. (Letztere wurden nicht übersetzt.) Außerdem sind die merkwürdigen und oft lächerlichen Fehler in Geographie, Geschichte, Chronologie und Physik, die wir im Novellino finden, sicherlich ein Beweis dafür, dass die Person, die das Werk zusammengestellt hat, kein großer Gelehrter war. Die Fehler, die darin auftauchen, können kaum von einem gelehrten Mönch begangen worden sein, der gut in Geschichte und den Klassikern unterrichtet worden war. Immer noch war Latein die Sprache der Wissenschaften und Wissenschaftler der damaligen Zeit. Die Zeiten waren in gewissem Sinne rau und einfach, wenn auch vielleicht weniger rau, als allgemein angenommen wird, aber einige der Fehler, die in den Geschichten zu finden sind, sind so grob und absurd, dass sie kein Gelehrter zu einem Manuskript zusammengefasst hätte. Das gibt uns Grund zu der Annahme, dass der ursprüngliche Zusammensteller aus der Klasse der Minnesänger stammt, ein Hofnarr von Rang und Bildung, mit literarischen Sehnsüchten, vielleicht sogar angeregt durch die Anstrengungen seiner französischen und provenzalischen Kollegen in der Kunst des Geschichtenerzählens und des Gesangs.

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