Lazarus

Lazarus – Leonid Andrejew

Andrejew widmete seine besten Geschichten, darunter auch “Lazarus”, ganz dem Thema des Todes. “Lazarus” ist in Andrejews gewohnt impressionistischen Stil geschrieben und voller Symbolik. Als Lazarus aus dem Grab aufersteht, in dem er drei Tage lang tot gelegen hatte, wird er zur Verkörperung des Todes selbst. Wer seinem Blick begegnet, spürt seine “zerstörerische Kraft”. Aber für Andrejew liegt der Schrecken des Todes nicht nur darin, dass er das Ende des Lebens darstellt; noch schrecklicher ist seine Unverständlichkeit, seine Rätselhaftigkeit, und die undurchdringliche Dunkelheit, die sich jenseits seiner Endgültigkeit erstreckt.

Lazarus

Lazarus.

Format: Print/eBook

Lazarus.

ISBN Print: 9783849669951.
ISBN eBook: 9783849657253.

 

Auszug aus dem Text:

I.

Als Lazarus nach drei Tagen und Nächten in der geheimnisvollen Knechtschaft des Todes aus dem Grab aufstieg und lebendig in sein Haus zurückkehrte, dauerte es lange, bis jemand die bösen Eigenarten in ihm bemerkte, die später seinem Namen einen so schrecklichen Klang geben sollten. Seine Freunde und Verwandten freuten sich, dass er wieder zum Leben erwacht war. Sie umhüllten ihn mit Zärtlichkeit, ihre Aufmerksamkeit war eifrig und überschwänglich und sie legten allergrößte Sorgfalt auf sein Essen und Trinken und die neuen Kleider, die sie für ihn herstellten. Sie kleideten ihn wunderschön in die leuchtenden Farben der Hoffnung und des Lachens, und als er, wie ein Bräutigam gekleidet, wieder mit ihnen am Tisch saß, mit ihnen aß und trank, weinten sie vor Rührung und riefen die Nachbarn herbei, um den Mann zu sehen, der wie durch ein Wunder von den Toten auferstanden war.

Die Nachbarn kamen und waren tief bewegt vor Freude. Fremde kamen aus fernen Städten und Dörfern, um das Wunder anzubeten. Sie brachen in stürmische Ausrufe aus und schwirrten um das Haus von Maria und Martha herum wie ein ganzer Bienenschwarm.

Das, was in Lazarus’ Gesicht und Gesten neu war, erklärten sie natürlich als die Spuren seiner schweren Krankheit und des Schocks, den er durchlebt hatte. Es war offensichtlich, dass der Zerfall des Körpers durch eine wundersame Kraft gestoppt worden, aber die Wiederherstellung noch nicht vollständig erfolgt war; dass der Tod auf seinem Gesicht und Körper die unvollendete Skizze eines Künstlers hinterlassen hatte, die man durch ein dünnes Glas sah. Auf seinen Schläfen, unter seinen Augen und unter den hohlen Wangen lag ein dickes, erdiges Blau. Seine Finger waren ebenfalls blau und unter seinen Nägeln, die im Grab lang geworden waren, war das Blau fahl geworden. Hier und da auf seinen Lippen und seinem Körper war die im Grab blasig gewordene Haut aufgebrochen und hinterließ rötlich glänzende Risse, die wie von einem dünnen, glasigen Schleim bedeckt waren. Und er war überaus korpulent geworden. Sein Körper war schrecklich aufgebläht und ließ den stinkenden, feuchten Geruch von Fäulnis erahnen. Aber der leichenhafte, schwere Geruch, der an seinen Grabgewändern und scheinbar auch an seinem ganzen Körper klebte, ließ bald nach, und nach einiger Zeit wurde das Blau seiner Hände und seines Gesichts weicher, und die rötlichen Risse in seiner Haut glätteten sich, obwohl sie nie ganz verschwanden. So war also Lazarus’ Aussehen in seinem zweiten Leben. Für diejenigen, die ihn begraben gesehen hatten, war dies überaus natürlich.

Aber nicht nur Lazarus’ Gesicht, sondern auch sein Charakter hatte sich scheinbar verändert; obwohl dies niemanden erstaunte und nicht die Aufmerksamkeit erregte, die es eigentlich verdient hätte. Vor seinem Tod war Lazarus fröhlich und sorglos gewesen, hatte immer einen Scherz und harmlose Witze geliebt. Wegen seiner guten Laune, seiner angenehmen und ausgeglichenen Art, seiner Freiheit von Bosheit und Düsternis war er vom Meister so geliebt worden. Jetzt war er ernst und still; weder scherzte er selbst, noch lachte er über die Scherze anderer; und die Worte, die er gelegentlich sprach, waren einfache, gewöhnliche und notwendige Worte – Worte, die ebenso wenig Sinn und Tiefe hatten wie die Geräusche, mit denen ein Tier Schmerz, Freude, Durst und Hunger ausdrückt. Solche Worte kann ein Mensch sein ganzes Leben lang sprechen, ohne dass jemals ein anderer die Sorgen und Freuden, die in ihm wohnten, erfahren würde.

So saß Lazarus am festlich gedeckten Tisch unter seinen Freunden und Verwandten – sein Gesicht das einer Leiche, über die der Tod drei Tage lang in der Dunkelheit geherrscht hatte; seine Gewänder wunderschön und festlich, glitzernd vor Gold, Rot und Lila; sein Gesichtsausdruck schwermütig und still. Er war schrecklich verändert und merkwürdig, aber immer noch unentdeckt. Die Feierlichkeiten schlugen um ihn herum hohe Wellen, mal etwas sanfter, dann wieder stürmischer. Warmherzige, liebevolle Blicke streichelten sein Gesicht, immer noch kalt von der Berührung des Grabes; und die warme Hand eines Freundes tätschelte seine bläuliche, schwere Hand. Die Musik spielte fröhliche Melodien, vermischt mit den Klängen der Handtrommel, der Flöte, der Zither und des Hackbrettes. Es war, als ob über dem glücklichen Haus von Maria und Martha Bienen summten, Heuschrecken schwirrten und Vögel sangen.

II

Aber dann hob jemand rücksichtslos den Schleier. Die Äußerung eines einzigen Wortes zerstörte die ruhige Anmut und enthüllte die Wahrheit in ihrer ganzen, hässlichen Nacktheit. Im Kopf des Fragenden war keine klar definierte Absicht vorhanden, als seine Lippen lächelnd fragten: “Warum sagst du uns nicht, Lazarus, wie es  ‘dort’ war?” Alle schwiegen, von der Frage überrascht. Erst da schien es ihnen in den Sinn zu kommen, dass Lazarus drei Tage lang tot gewesen war; sie sahen ihn neugierig an und warteten auf eine Antwort. Aber Lazarus schwieg.

“Du möchtest es uns nicht sagen?”, wunderte sich der Fragesteller. “Ist es so schrecklich dort?”

Wieder blieben seine Überlegungen hinter seinen Worten zurück. Hätte er vorher überlegt, wäre die Frage kaum gestellt worden, denn im selben Moment, als er sie aussprach, sank sein Herz vor Angst. Alle wurden unruhig; sie warteten gespannt auf die Worte des Lazarus. Aber er blieb still, kühl und ernst, und seine Augen waren nach unten gerichtet. Erst jetzt erkannten alle, als ob sie es zum ersten Mal gesehen hätten, die schreckliche Bläue seines Gesichts und die abscheuliche Aufblähung seines Körpers. Als ob er sie dort vergessen hätte, lag Lazarus’ weiche, blaue Hand auf dem Tisch, und alle Augen waren auf sie fixiert, als ob von ihr die gewünschte Antwort zu erwarten wäre. Die Musiker spielten noch; dann befiel auch sie die Stille, und die fröhlichen Klänge verstummten, als ob glühende Kohlen durch Wasser gelöscht worden wären. Die Flöte wurde stumm, dann die lärmende Handtrommel und das Hackbrett; und als ob eine Saite gesprungen wäre, als ob das Lied selbst versterben würde, verhallte die Zither in einem zitternden, abgeschnittenen Geräusch. Dann war alles ruhig.

“Du möchtest nicht?”, wiederholte der Fragesteller, unfähig, seine plappernde Zunge im Zaum zu halten. Es herrschte vollständige Stille, und die weiche, blaue Hand lag bewegungslos da. Dann bewegte sie sich leicht, und die Gesellschaft seufzte erleichtert auf und hob die Augen. Lazarus, der von den Toten auferstanden war, sah sie geradewegs an und bezog alle in seinen schweren und schrecklichen Blick ein.

….

 

 

Dieser Beitrag wurde unter A, Andrejew-Leonid, Meisterwerke der Literatur veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.