Predigten und Andachten

Predigten und Andachten – Hermann von Bezzel

Der 1917 in München verstorbene Hermann von Bezzel war lutherischer Theologe, Rektor der Diakonissenanstalt Neuendettelsau und Oberkonsistorialpräsident der bayerischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche. In diesem Werk finden sich viele Predigten und Andachten des beliebten und bekannten Geistlichen.

Predigten und Andachten

Predigten und Andachten.

Format: Paperback, eBook

Predigten und Andachten.

ISBN: 9783849665746 (Paperback)
ISBN: 9783849662257  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

Das erste Wort Jesu am Kreuz.

Luk. 23, 34. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!

Gemeinde des Herrn!

 Heute vor 369 Jahren, es ist auch ein Donnerstag gewesen, ist unser Vater in Christo, Martin Luther, aus dieser Zeitlichkeit abgefordert worden. Wir begehen das Andenken dieses apostolischen Mannes, indem wir uns die beiden letzten Worte kurz ins Gedächtnis zurückrufen, die er vor seinem Abschied geschrieben und gesprochen hat. Das eine Wort lautet: „Den Virgil in seinem Lehrgedicht „Bukolika“ kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte gewesen. Den Virgil in seinem Lehrgedicht „Georgika“ kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Ackersmann gewesen. Den Cicero in seinen „Episteln“ kann niemand ganz verstehen, er habe denn 25 Jahre in einem großen Gemeinwesen sich bewegt. Die heilige Schrift meine niemand genugsam verschmeckt zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit Propheten wie Elia und Elisa, Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinden regiert. Du lege nicht die Hand an die göttliche Aeneis, sondern geh’ tief anbetend ihren Fußtapfen nach! Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Das war das letzte Wort, das aus seiner Feder geflossen ist: ein Bekenntnis seiner Armut und des Reichtums Jesu Christi. Und das Wort, das seine Freunde nach seinem Tode sich wiederholt ins Gedächtnis riefen, weil er es zuerst erklärt und in seiner Todesstunde drei Mal vernehmlich gerufen hatte, ist das euch von Jugend auf bekannte: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab“ (Joh. 3, 16). Bei der Erklärung dieses Wortes sagt Luther: „Welcher Lakonismus, d. h. welche Kürze, mag dieser Kürze gleichkommen, die mit so wenigen Worten das Größte besagt“. „Die mit so wenigen Worten das Größte besagt“ – das wollen wir auch von jeder einzelnen Rede, die der scheidende Heiland vom Kreuze uns hinterlassen hat, uns vorhalten. Und je geringer unsere Größe ist gegenüber seiner unerfindbaren Liebe und seiner unübertrefflichen, reichen Art, desto andächtiger werden wir in diesen Wochen versuchen, in das Geheimnis seiner Passion und ihrer letzten Worte uns zu versenken.

 Wir stehen heute am Anfang einer Passionszeit, wie sie so ernst und trübe, so schwer und bedenksam für eins unter uns kaum schon gekommen ist. Und weil auf Erden der Trost so leicht versagt und weil der Ernst der Zeit so viel des Trostes bedarf, wollen wir mit besonderer Andacht unter sein Kreuz uns flüchten und vernehmen, was von demselben uns gesagt ist. Wir sprechen heute von drei ganz einfachen Dingen:

von dem Heimweh des Herrn,

von dem Erdenweh des Herrn,

von der Himmelsgabe an diese arme Erde.

 Von dem Heimweh des Herrn laßt mich zuerst reden. Denn das ist die Bewegung im Herzen Jesu, die ihn uns am nächsten und uns ihm am nächsten bringt. Er hat auch das Weh der Fremde erduldet. Er ist umhergegangen und niemand verstand ihn, er hat seine Sprache gesprochen und niemand wollte sie teilen, seine Klagen gehabt und niemand wollte sie kennen, seine Lasten getragen und niemand konnte sie ihm, ja niemand wollte sie ihm abnehmen und so ward ihm das Leben ernstlich schwer bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze. Über das Leben anderer Helden fällt manchmal der lichte Schein des Erfolges, über sein Leben ist das Weh des Mißerfolges hereingebrochen. Das Leben anderer Großer wird schließlich verklärt, daß man der Ängste nicht mehr gedenkt, sein Leben endet in Angst und unter Gottlosen und Übeltätern ist sein Sterben gewesen. Unverstanden, den Nächsten ein Rätsel, seiner Aufgabe stets eingedenk und ihrer Lösung scheinbar so ferne, erhebt unser Herr jetzt, da sie ihn ans Kreuz erhöhen, seine Stimme und das einzige Wort, das erste Wort, das er vom Kreuz über die Erde hinsendet, die ihm das Kreuz gebracht und in den Himmel emporschickt, der sein Kreuzesleid verursacht hat, heißt „Vater!“ Kein Vorwurf, warum ihn Gott so geführt hat, nicht einmal der Ausdruck des Schmerzes! Den hat er in Gethsemane gebeichtet und erlitten und überwunden. Nun ist sein Wille ganz mit dem des himmlischen Vaters zusammengeschlossen, nicht weil er mußte, sondern weil er wollte. Nun hat er sich ganz in die Wege seines Vaters ergeben, von Herzensgrund all die Sorge und die Not auf sich genommen, die ihn der Vater tragen hieß. Nun hat er das Elend der Welt alles auf sich gezogen und in sich hereingetragen und in sich überlegt. Und aus solch völliger Ergebenheit in des Vaters Wege und Führung spricht er, daß die Welt es hört und die Übeltäter darüber staunen und das Volk unter dem Kreuze sich verwundert: „Vater“.

Wie wären sie jetzt ausgebrochen, wenn er mit Murren und Klagen, mit Streit und Not, mit Widerrede und Widerspruch ans Kreuz sich hätte erhöhen lassen! Wie wäre es ein Triumph des Feindes und Versuchers geworden, wenn er, eingedenk seines Angebotes auf Tempelzinnen und Bergeshöhen, jetzt bereut hätte, diesen einsamen Weg erwählt zu haben! Aber das ist eben die göttliche Größe des Herrn und seines heiligen Gehorsams, daß er in allem Leid, auch in dem schwerst zu erduldenden und härtest zu tragenden Leid, sagen darf: „Vater“. Nicht mehr sieht er die Härte des Weges, nicht mehr gedenkt er der Einsamkeit des Leidens: nun hebt die Sonne an über sein Kreuz zu scheinen. Es wird der Spott unter seinem Kreuz lebendig, zur Rechten der Feind, zur Linken der Gegner und ringsum all die Torheit der Welt; er aber bleibt gelassen und getrost: „Vater!“ Liegt nicht in diesem Worte die erquickliche Rechenschaft, die der Sohn dem Vater ablegt: „Nun habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf, was fehlt mir noch?“ Liegt nicht in diesem schlichten Worte die Gewißheit, daß niemand und nichts ihn von der Liebe Gottes scheiden kann, weil er des Vaters lieber und getreuer Knecht ist? Und wer mag es ihm wehren, daß über der Wirklichkeit der Dinge und über den Schrecken des Leidens und über dem Ernst des Abschieds seine Seele sich emporhebt und dem Heimweh das eine Wort verleiht als Ausdruck alles dessen, was ihn jetzt bewegt: „Vater“. Nun tut sich ihm die Herrlichkeit auf, die er um deinet- und meinetwillen verlassen hatte. Es begrüßen ihn all die Getreuen, die ihn bis zur Erde begleitet und dann Abschied von ihm hatten nehmen müssen. Es geht durch seine Seele das Einst des Friedens und das Jetzt des Streites, das Einst der Seligkeit und das Jetzt der Hölle, das Einst der völligen Sättigung und Einheit im Vater und das Jetzt der einsam verschmachtenden Seele. „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser – meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe“ (Ps. 22, 15. 16). „Vater!“ Kein Protest: warum hast du mir das getan? Kein Gegenspruch: hast du nicht einen Segen für mich? Sondern indem er dem tiefsten Leide und dem größten Schmerze stille hält, weiß er: Heimweh ist Kraft, Heimweh ist Gabe, Heimweh ist nicht des Kindes Schwachheit, sondern des Mannes Zierde, Heimweh macht nicht zum Kampfe untüchtig, sondern stählt und stärkt zu dem großen Streit, der ihm verordnet ist. Heimweh ist nicht Illusion, die eine Heimat sich ausmalt, die man weder hat noch haben kann, ist nicht die verschönende Kraft der Unwahrheit, die ein Mensch in seiner irrenden Phantasie hat, sondern Heimweh ist die Gewißheit: „Denn wo du bist, da komm ich hin, daß ich stets bei dir leb und bin; drum fahr ich hin mit Freuden.“

 Preist den Herrn für dieses starke, im Leiden bewährte, durchs Leiden verklärte Heimatverlangen! Dankt ihm dafür, daß er uns gezeigt hat, wie man in den Widrigkeiten des Lebens, in den schwersten Stunden des Tages, in der Angst und Not des Scheidens nicht sich etwas vorstellen muß, sondern nur an eine gegebene Größe glauben darf! Es ist nicht an dem, mein Christ, daß du einen Trost dir erst ersinnen müßtest, sondern an dem ist es – Lob sei dem Herrn dafür, daß dieser Trost bereitet ist –: „Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“ (Joh. 14, 2). So sei auch das Heimweh nicht ein kindisches Spielen mit Möglichkeiten, nicht ein eilfertiges Denken an Wahrscheinlichkeiten, sondern die Ruhe deiner Seele ist die Wirklichkeit dessen, was Christus dir erwarb, die Befriedigung deines Herzens mit dem, was zu erwerben und dir zuzusichern er gekommen ist.

 Heimweh! Und – Erdenweh! Das ist das Zweite, wovon ich reden will. Unser Heiland hat eben erst über seine Stadt geweint. Er, der für sich und um sich nie die Träne kannte, hat sie geweint, wenn es um andere galt. Er, der nie für sich die Wehmut und den Schmerz zu Gehilfen, daß sie sein Leben erleichtern möchten, herbeirief, hat den Schmerz und die Träne gefordert, wenn er an dich und an mich dachte. So steht er weinend vor den Toren Jerusalems und jede Träne ist die Tat des Mannes, der um diese Stadt gerungen, um ihr Herz gekämpft, um ihre Liebe geworben hat und schließlich seine Hände müde senkend spricht: „Ihr habt nicht gewollt“ (Matth. 23, 37). Jede Träne Jesu Christi, die er in Verborgenheit – nur sein Vater ist des Zeuge im heiligen Geiste – um dein und mein Leben, ehe es in Erscheinung getreten war, schon vergossen hat, ist nicht das schmerzliche Weh der Enttäuschung, sondern das Leid um dich und mich. Wie weit könntest du jetzt sein und wie ferne bist du noch! Wie viel könnte er an dir erreicht haben und wie wenig ist auf deinem Herzensacker gewachsen! Wie viel hat er an dich gewendet und der Ertrag seiner Treue ist deren Leugnung! Darum weint er.

 Dann hat er, als die Töchter Jerusalems über ihn weinten, ihnen gewehrt. Jesu Tränen und der Menschen Tränen gehören nicht zusammen. Menschen weinen, daß sie nicht das geworden sind, was sie werden wollten. Jesus weint darüber, daß er nicht erreichte, was er erreichen sollte. Menschen weinen, indem sie im tiefsten Grund sich selbst betrauern, die Schwere ihrer Führung, die Härte ihrer Fügung, die Unbill ihres Lebens. Jesus weint, weil er umsonst – nicht an sich hat arbeiten lassen, sondern an uns gearbeitet hat. „Ihr Töchter von Jerusalem“, hat er gerufen, „weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst“ (Luk. 23, 28). Es werden Tage heraufsteigen, an denen man Bergeslasten lieber trüge, als den Anblick des trauernden Heilandes. Es werden Jahre in das Leben manches Menschen kommen, die sich dann zu Ewigkeiten ausweiten, ja wohl die Ewigkeit selbst sind, in denen ein Wort Jesu, ein Blick aus seinem heiligen Auge, eine Träne in diesem Auge furchtbarer zu ertragen ist als Bergeslast und Felsenschwere und Steingruft – dann wenn er einmal sprechen wird: Ich habe dich gesucht und du hast dich nicht finden lassen, ich habe dich gerufen und du hast nicht gehört, den ganzen Tag habe ich meine Hände nach dir ausgestreckt und du hast den ganzen Tag darüber gesonnen, wie du ihnen entrännest.

 Und obwohl der Herr eben über Jerusalem geweint und über die Bergeslast, die einmal den Vorzug erhalten soll, geklagt hat, hat er sein Erdenweh so barmherzig in die Worte gefaßt: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Zwar, daß Pilatus nicht wußte, was er tat, das glauben wir alle. „Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet“ (Joh. 18, 35). Was weiß er von der Hoffnung Israels und von seinem Heilande! Und daß des Pilatus Weib es nicht gewußt hat, das glauben wir auch. Sie hat im Traum sich geängstet und hat aus der Angst heraus ihren Mann beschworen, aber Jesum kannte sie nicht. Und daß die Kriegsknechte, die unter dem Kreuze die Würfel um sein Gewand warfen und seine Kleider unter sich teilten, stumpf wie sie waren, nicht wußten, daß zu ihren Häupten der Welt Heiland erhöht wurde, daß diese armen römischen Legionäre keine Ahnung und nicht den geringsten Begriff hatten, unter wessen Kreuz sie stünden und an wessen Tod sie die Schuld trügen, das glauben wir alle. Und daß das Volk, das nichts vom Gesetz wußte, eben sein „Hosianna“ hat verstummen lassen und sein „Kreuzige“ gerufen hat, weil es eben beweglich ist, wie die Wellen des Meeres, unbeständig in all seinem Wollen, daß dieses Volk es auch nicht gewußt hat, was es tat, will uns auch zu Sinne gehen. Aber daß Kaiphas, der das Gesetz kannte, daß die Jünger, die Jesum so lange bei sich gehabt und dann verlassen hatten, daß Petrus, der vom Herrn zum Felsengrund ernannt worden war und ihn verleugnet hat, daß vollends Judas, der vom Herrn erworben war und ihn verraten hat, nicht wissen sollen, was sie tun, das leuchtet uns nicht ein. Aber er sagt es. Und das ist das große Erdenweh des Herrn, daß er keine andere Entschuldigung hat als die trauervolle: „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Es ist die Entschuldigung mit der Stumpfheit des natürlichen Menschen, eine Entschuldigung, die im Munde des hochgelobten Heilandes wie ein Gruß bitteren Erbarmens mit der Macht der Sünde und mit der Gewalt der Finsternis sich ausnimmt.

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