Sie will

Sie will – Georges Ohnet

Nach dem Tod ihres Vaters findet sich die vom Luxus verwöhnte Helene mittellos wieder. Sie geht nach Paris und schlägt sich tapfer durch durch das neue Leben. Als sich der reiche Fabrikant Louis in sie verliebt und sogar heirat scheint alles wieder gut. Aber dann kümmert sich Louis mehr und mehr um eine verheiratete Engländerin …

Sie will

Sie will.

Format: eBook

Sie will.

ISBN eBook: 9783849656744.

 

Auszug aus dem Text:

Es war halb acht Uhr. Das feurige Rot des westlichen Himmels verblaßte allmählich und die Nacht brach herein. Auf den Boulevards wogten geschäftige Menschenmassen auf und nieder, wie ein Fluß sich anstauend, wenn der Verkehr durch den Verkauf der Abendblätter vor einem Kiosk einen Augenblick gehemmt war. Die Plätze vor den Cafés waren überfüllt. Zwischen den Tischreihen drängten sich die Stockverkäufer mit ihrem über die Schulter geworfenen grünen Sack, aus welchem neugierig die glänzenden Stahl- oder Schildpattknöpfe der Meer- und Bambusrohre hervorlugten. In der Mitte der Straße bewegten sich die mit drei Pferden bespannten, mit Fahrgästen überladenen mächtigen Omnibusse schwerfällig durch die Wagenreihen, die von Polizisten von Zeit zu Zeit an den Straßenecken angehalten wurden, um den Fußgängern den Übergang zu ermöglichen. Das Rollen der Räder, der taktmäßige Hufschlag der trabenden Pferde, der Ruf der ambulanten Händler, das Murmeln der Menge vereinigte sich zu einem summenden Getöse – die Stimme der Großstadt, welche nach der Last, der Aufregung, dem Lärm des Tages die Erholung, die Ruhe, die Stille der Nacht sucht.

Durch die Menschenwelle, die nach der Chaussee d’Antin flutete, bahnten sich zwei sehr elegant gekleidete junge Leute einen Weg, indem sie sich mit jener Geschmeidigkeit um die einzelnen Gruppen wanden oder, wo dies nicht möglich war, mit jener liebenswürdigen Unverfrorenheit durch die Menge drängten, die eine Eigentümlichkeit des Parisers ist. Sie schienen jemand zu suchen. Vor der Passage Jouffroy angelangt, blieben sie zaudernd einen Augenblick stehen.

“Ich sehe sie nicht mehr,” sagte der Ältere.

“Halten wir uns nicht auf,” erwiderte sein Begleiter.

Sie eilten weiter.

“Ich kenne überhaupt,” fuhr er dann fort, “nichts Einfältigeres und Zweckloseres, als einem Mädchen auf der Straße zu folgen. Entweder gehört sie zu denen, die verfolgt werden wollen, dann hat das Abenteuer keinen Reiz, oder sie ist eine Dame, dann hat es keine Folgen, als Zeitverlust und müde Beine.”

“Das Opfer, das wir in dieser Hinsicht bringen, ist jedenfalls kein sehr bedeutendes, da das reizende Geschöpf die Liebenswürdigkeit hat, uns gerade den Weg zu führen, den wir ohnehin gegangen wären, und eine Pariserin vor sich hergehen zu sehen, ist an und für sich ein Vergnügen, besonders wenn sie so stramm und elastisch ausschreitet wie diese, die unbedingt Rasse hat.”

“Du sprichst wahrhaftig wie von einem deiner Rennpferde.”

“Nun, das ist keine Beleidigung, weder für das Mädchen, noch . . . Halt! Da ist sie!”

Einen Augenblick an dem schwierigen Uebergang am Faubourg Montmartre aufgehalten, schritt die, welche, ohne es zu ahnen, die Aufmerksamkeit der beiden Spaziergänger auf sich gelenkt, nachdem sie den abschüssigen Teil vor Barbedienne hinter sich hatte, dem Faubourg Poissonnière zu. Hier, wo die Straße leerer, konnte man rascher vom Fleck kommen.

Die beiden Freunde suchten sich der Unbekannten zu nähern, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Ihr Anzug war mehr als einfach. Ein kleiner Tuchpaletot, der sich um ihre schlanke Taille schmiegte, fiel über einen braunen Rock ohne jeden Besatz, der aber mit Geschmack aufgenommen war. Ihr kastanienbraunes Haar bedeckte ein schwarzer Strohhut ohne Bänder und ohne Federn oder Blumen. Ein dichter Schleier verhüllte ihr Gesicht. Es war daher unmöglich zu sehen, ob sie hübsch war. Ihrem Anzuge nach zu urteilen, konnte sie nur sehr niedrigen Standes sein, vielleicht eine kleine Putzmacherin oder ein Hausmädchen in einer kleinbürgerlichen Familie, höchstens eine arme Klavierlehrerin, die von ihrer mühseligen Arbeit zurückkehrte. Dennoch hatte sie in ihrem Gange eine Grazie, eine Eleganz, die Zweifel darüber aufkommen liehen, ob sie wirklich war, was sie schien, ja man war fast zu der Annahme verleitet, daß man eine Dame der großen Welt vor sich hatte, die sich einer Verkleidung bediente. Sie ging schnell, ohne zu trödeln, warf nirgends einen Blick auf die erleuchteten Läden, und ihr fester, energischer Tritt hallte auf dem Asphalt wider.

Die beiden Freunde waren scheinbar zufällig an ihre Seite gelangt. Sie warfen verstohlene Blicke auf sie, wagten jedoch nicht sie merken zu lassen, daß sie sich mit ihr beschäftigten, Eine gewisse Befangenheit, als ob sie sich einem jungen Mädchen ihrer Kreise gegenüber befänden, hatte sich plötzlich ihrer bemächtigt. Sie vermochten ihre Züge nicht zu erkennen, aber es war ihnen, als ob zwei Augen tief und mild durch den dichten Tüllschleier leuchteten. Der Schleier schnitt über einem Mund von mittlerer Größe ab, um welchen ein Zug tiefen Ernstes, ja der Traurigkeit lag. Das einzige, was vollständig und bestimmt zu erkennen blieb, war ein feines weißes Kinn, das auf eine ruhige, stolze, etwas herbe Natur schließen ließ. Kurz, die Unbekannte konnte häßlich sein, aber nimmermehr war sie ohne Liebreiz.

“Sage ‘mal,” unterbrach der jüngere der beiden Herren das Schweigen, “wenn sie in der Richtung der Porte St. Denis weitergehn sollte, dann wirst du mich wohl entschuldigen. Ich habe keine Lust, ihr bis nach der Bastille nachzulaufen.”

Sie waren an der Ecke des Faubourg Poissonnière angekommen. An dem Trottoirrand vor dem Rinnstein, der ziemlich breit war, hatte die Unbekannte fast unmerklich einen Augenblick gezaudert, dann nahm sie ihr Kleid ein wenig auf und übersprang denselben leicht und graziös. Die beiden Freunde hatten hierbei Gelegenheit, einen Knöchel von vollendeter Feinheit zu entdecken. Auf der andern Seite der Straße angekommen, bog sie in das Faubourg Poissonnière ein.

“Wahrhaftig, ich glaube, sie geht zu deiner Großmutter,” sagte lächelnd der Ältere.

“Ich vermute viel eher nach dem Konservatorium.”

“Nein, dann wäre sie nicht über die Straße gegangen.”

Sie schritten ein wenig schneller aus und befanden sich bald an der Seite des jungen Mädchens. Wie infolge einer sich plötzlich zwischen ihnen herstellenden magnetischen Verbindung richtete dasselbe ihren ruhigen Blick auf die jungen Leute, bemerkte ihre Erregtheit, erriet ihre Neugierde, und um ihre Mundwinkel legte sich ein Zug großer Härte. Sie fuhr zusammen und schien einen Augenblick nach Fassung zu ringen, nicht aus Angst, sondern aus Empörung. Mit Windeseile stürmte sie gleich darauf weiter und ließ ihre Verfolger weit hinter sich.

Vor einem großen Hause mit einem mächtigen Thorwege angekommen, wandte sie sich kurz und trat ein. Die beiden Freunde, die fast zur selben Zeit dort eintrafen, standen wie angenagelt, sahen einander an und fingen an zu lachen.

“Siehst du, habe ich es dir nicht gesagt, daß sie zu deiner Großmutter geht?”

“Sie ist bei dem Portier eingetreten und wird gleich wieder herauskommen. Warten wir ein wenig!”

In der That erschien sie sofort wieder mit einem Schlüssel in der Hand, vermutlich dem ihrer Wohnung, und einem in graues Tuch eingewickelten Paket. Als sie die beiden unter dem Thorwege stehenden Männer erblickte, die ihr aufzulauern schienen, konnte sie eine Bewegung des Zornes nicht unterdrücken, sie wandte, um ihre Entrüstung zu zeigen, den Kopf von ihnen ab und betrat eine kleine Treppe rechts von der Portierloge, auf der sie verschwand.

“Ah! Sie wohnt also hier im Hause,” sagte der jüngere der beiden Freunde, “das ist merkwürdig. Ich begegne ihr zum erstenmal. Unter dem Dache sind allerdings verschiedene kleine Wohnungen. Es wird irgend eine Nähterin sein. … Auf alle Falle ist die Jagd zu Ende. Du hast doch wahrscheinlich keine Lust, ihr die fünf Treppen nachzusteigen, damit sie dir nachher tugendhaft die Thür vor der Nase zuschlägt. Komm, laß uns dinieren!”

“Frage doch ‘mal den Portier, wie sie heißt.”

“Den Gefallen kann ich dir ja thun.”

Dabei öffnete der Jüngere die Thür zur Portierloge, in deren Hintergrund ein alter Mann mit grauem Haar, in einem großen ledernen Lehnstuhl sitzend, seine Abendzeitung las. Als er den Eintretenden erkannte, leuchtete sein Gesicht freudig auf; er nahm sein Käppchen ab und erhob sich dienstfertig.

“Wer ist denn das junge Mädchen, Vater Anselm, das hier soeben aus Ihrer Loge kam?”

“Fräulein Helene, eine Mieterin im fünften Stock, Herr Louis … ein sehr braves, sehr ruhiges und sehr energisches Mädchen. Das arbeitet den lieben langen Tag in der Konfektion, und um sich noch am Abend zu beschäftigen, macht sie Perlspitzen bis nach Mitternacht. Meine Frau besorgt das bißchen Wirtschaft bei ihr. … Wir nennen sie Fräulein Helene, aber ihr Familienname ist eigentlich Graville. Sie wohnt nun schon achtzehn Monate hier, man sollte es jedoch nicht meinen, man merkt sie kaum. Zweimal des Tages sehen wir sie, des Morgens, wenn sie in ihr Geschäft geht, und des Abends, wenn sie aus demselben zurückkommt.”

“Danke, Vater Anselm,” sagte der junge Mann, als er merkte, daß der Portier sehr geneigt war, ihm eine vollständige Lebensbeschreibung seiner Mieterin zu geben. Er nickte dem alten Diener freundlich zu und kehrte zu seinem draußen wartenden Freunde zurück.

….

 

 

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