Die Eroberung des Brotes

Die Eroberung des Brotes – Pjotr A. Kropotkin

Pjotr Kropotkin war ein russischer Anarchist, Sozialist, Revolutionär, Historiker, Wissenschaftler, Philosoph und Aktivist, der den Anarcho-Kommunismus vertrat. Erwar ein Befürworter einer dezentralisierten kommunistischen Gesellschaft, die frei von einer Zentralregierung war und auf freiwilligen Zusammenschlüssen von selbstverwalteten Gemeinschaften und von Arbeitern geführten Unternehmen basierte. Er verfasste zahlreiche Bücher, Pamphlete und Artikel, von denen zu den bekanntesten “Die Eroberung des Brotes” gehört. In diesem Werk zeigt Kropotkin auf, was seiner Meinung nach die Mängel der Wirtschaftssysteme des Feudalismus und des Kapitalismus sind und warum er glaubt, dass sie Armut und Knappheit fördern. Er schlägt ein stärker dezentralisiertes Wirtschaftssystem vor, das auf gegenseitiger Hilfe und freiwilliger Zusammenarbeit beruht, und behauptet, dass die Tendenzen für diese Art der Organisation sowohl in der Evolution als auch in der menschlichen Gesellschaft bereits vorhanden sind. Das Buch ist zu einem Klassiker der politisch anarchistischen Literatur geworden und hatte großen Einfluss sowohl auf den Spanischen Bürgerkrieg als auch auf die Occupy-Bewegung.

Die Eroberung des Brotes

Die Eroberung des Brotes.

Format: Paperback, eBook

Die Eroberung des Brotes.

ISBN: 9783849665388 (Paperback)
ISBN: 9783849662790  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

UNSERE REICHTÜMER.

I.

Die Menschheit hat einen weiten Weg seit jenen verflossenen Zeitaltern zurückgelegt, in welchen der Mensch noch aus Kieselsteinen seine kümmerlichen Werkzeuge formte, wo er noch von den Zufälligkeiten der Jagd lebte und als gesamte Erbschaft seinen Kindern einen Schlupfwinkel unter Felsen, ein paar armselige Steinwerkzeuge hinterließ, und im übrigen sie der Natur preisgab, der gewaltigen, furchtbaren Natur, mit der sie den Kampf aufnehmen mußten, um ihre elende Existenz zu fristen.

Indeß, während dieser wirren Epoche, welche tausend und aber tausend Jahre gewährt hat, hat das Menschengeschlecht unerhörte Schätze gesammelt. Es hat den Boden urbar gemacht, die Sümpfe getrocknet, die Wälder ausgerodet, Straßen angelegt, gebaut, erfunden, beobachtet, gedacht; es hat einen komplizierten Werkzeugsapparat geschaffen, der Natur ihre Geheimnisse entrissen, den Dampf gebändigt; kurz, man hat es dahin gebracht, daß das Kind des zivilisierten Menschen heute bei seiner Geburt ein unermeßliches, von seinen Vorfahren aufgehäuftes Kapital vorfindet. Und dieses Kapital erlaubt heute jedem, falls er nur seine Arbeit mit der anderer kombiniert, Reichtümer zu gewinnen, welche die Träume der Orientalen in ihren Erzählungen von „Tausend und eine Nacht“ weit übertreffen.

*

Der Boden, soweit er kultiviert ist, und wenn man ihn nur zweckmäßig bestellt und für die Saat ausgewählte Körner verwendet, ist bereit, sich mit üppigen Ernten zu schmücken, reicheren Ernten, als es die Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse erforderte. Und die Mittel, deren sich die Landwirtschaft dazu bedient, sind bekannt.

Auf dem jungfräulichen Boden der Prairien Amerikas produzieren hundert Menschen mit Hilfe gewaltiger Maschinen in einigen Monaten soviel Getreide, als zur Erhaltung von 10 000 Menschen während eines ganzen Jahres notwendig ist. Da, wo der Mensch seinen Ertrag verdoppeln, verdreifachen, verhundertfachen will, fabriziert er sich den geeigneten Boden, wendet er jeder Pflanze die Sorge zu, deren sie bedarf, und er erzielt geradezu fabelhafte Ernten. Und während der Jäger sich ehemals hundert Quadratkilometer bemächtigen mußte, um die Nahrung für seine Familie zu finden, läßt der zivilisierte Mensch heute mit unendlich geringerer Mühe und weit größerer Sicherheit auf einem Zehntausendstel dieses Raumes alles hervorsprießen, was die Erhaltung der Seinigen erheischt.

Das Klima ist kein Hindernis mehr. Wenn die Sonne nicht scheint, so ersetzt sie der Mensch durch künstliche Wärme, und es steht zu erwarten, daß er zur Beschleunigung des Wachstums auch das Licht bald künstlich herstellen wird. Mit Hilfe von Glasdächern und Wasserheizung erntet er auf einem gegebenen Raum das Zehnfache von dem, was man früher auf ihm erzielte.

*

Die in der Industrie vollbrachten Wunder sind noch viel erstaunlicher. Mit Hilfe jener mit Intelligenz begabten Wesen, – der modernen Maschinen (die Frucht dreier oder vier Generationen meist unbekannter Erfinder) fabrizieren heute hundert Menschen das, wovon 10 000 Menschen während zweier Jahre sich kleiden können. In den gut organisierten Kohlenbergwerken fördern in jedem Jahre hundert Menschen soviel Heizmaterial, als zur Erwärmung der Wohnungen von 10 000 Familien im kältesten Klima ausreicht. Man kann eine ganze Stadt voller wunderbarer Schönheit in wenigen Monaten entstehen sehen, ohne daß dabei auch nur die geringste Unterbrechung in den gewöhnlichen Arbeiten eingetreten ist.

Und wenn auch heute in der Industrie und im Ackerbau, wie in der Gesamtheit unserer sozialen Organisation die Arbeit unserer Vorfahren nur einer kleinen Minderzahl zugute kommt – so ist es doch nicht weniger sicher, daß sich heute schon die Menschheit eine Existenz in Reichtum und Luxus würde schaffen können, – unter einziger Hilfe jener Diener aus Eisen und Stahl, welche sie besitzt.

*

Ja, wir sind reich, unendlich viel reicher, als wir gemeiniglich denken: reich durch das, was wir schon besitzen, reicher noch durch das, was wir mit Hilfe des gegenwärtigen Werkzeugmechanismus produzieren können und unermeßlich viel reicher durch das, was wir aus unserem Boden, aus unseren Manufakturen, mit Hilfe der Wissenschaft und unserem technischen Wissen werden erzielen können, wenn diese erst dazu dienen würden, um allen den Wohlstand zu schaffen.

II.

Wir sind reich in unseren zivilisierten Gesellschaften.

Woher also das Elend, das um uns herum herrscht? Warum da die harte, die Massen abstumpfende Arbeit? Warum diese Unsicherheit, wie es einem morgen ergehen wird, die selbst den bestbezahlten Arbeiter nicht verschont? Warum alles dies inmitten der von der Vergangenheit ererbten Reichtümer und trotz der gewaltigen Produktionsmittel, welche bei einer täglichen Arbeit von nur wenigen Stunden allen den Wohlstand schaffen könnten?

Die Sozialisten haben es ausgesprochen und es bis zum Ueberdruß wiederholt; sie wiederholen es jeden Tag und belegen es durch Beweise, die den gesamten Wissenschaften entlehnt sind: Weil alles, was zur Produktion nötig ist, der Boden, die Bergwerke, die Maschinen, die Verkehrswege, die Nahrungsmittel, die Wohnungen, die Erziehung, das Wissen, weil alles dieses der ausschließliche Besitz einiger Weniger geworden ist – im Verlauf einer langen Geschichtsperiode voller Raub, Auswanderungen, Kriege, Unwissenheit und Unterdrückung, welche die Menschheit durchlebte, ehe sie die Naturkräfte zu bändigen gelernt hatte.

Weil diese Wenigen sogenannte Rechte, welche sie in der Vergangenheit erworben haben wollen, vorschützen und auf Grund dessen sich heute zwei Drittel des Ertrages der menschlichen Arbeit, mit der sie die unsinnigste und empörendste Verschwendung treiben, aneignen; weil sie die Massen dahin gebracht haben, daß diese nie mehr für einen Monat, kaum einmal für acht Tage genug zu leben haben, weil sie infolgedessen die Macht haben (welche sie auch ausnutzen), Niemanden arbeiten zu lassen, der ihnen nicht stillschweigend den Löwenanteil am Gewinn überläßt; weil sie die Produktion dessen erzwingen, was dem Ausbeuter den größten Gewinn verheißt.

Das ist das Wesen des Kapitalismus!

*

Wie sieht ein zivilisiertes Land heute aus? Die Wälder, welche es ehemals bedeckten, sind gelichtet, die Sümpfe sind getrocknet, das Klima ist ein gesundes, kurz, das Land ist bewohnbar geworden. Der Boden, welcher ehemals nur Gras und Kräuter trug, liefert heute reichliche Getreide-Ernten. Die Felsen, welche seiner Zeit die Täler des Südens überhingen, sind in Terrassen umgewandelt, an denen der Weinstock mit seiner goldigen Frucht emporklettert. Die wilden Kräuter und Sträucher, welche früher nur herbe Früchte und ungenießbare Wurzeln lieferten, sind auf dem Wege schrittweiser Veredlung in nahrhafte Gemüse, in Bäume, die ausgesuchte Früchte tragen, verwandelt worden.

Tausende von Straßen, mit Steinen und Eisen gepflastert, durchschneiden das Land, durchbohren die Berge; die Lokomotive pfeift in den wilden Schluchten der Alpen, des Kaukasus, des Himalaya. Die Flüsse sind schiffbar gemacht worden. Die Küsten, ausgelotet und sorglich vermessen, gestatten ein leichtes Landen; künstliche Häfen, unter unsäglichen Mühen ausgegraben und gegen das Wüten des Ozeans geschützt, gewähren Schiffern sichere Zuflucht. Tiefe Schachte durchstechen die Felsen; ganze Labyrinthe unterirdischer Gänge breiten sich überall dort aus, wo es Kohle zu fördern oder Erze zu graben gibt. An allen Punkten, wo Straßen sich kreuzen, sind Städte emporgewachsen, zu Großstädten geworden, und in ihren Mauern finden sich alle Schätze der Industrie, der Kunst und der Wissenschaft.

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