Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes

Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes – Paul Joachimsen

Der zum Protestantismus konvertierte Jude Paul Joachimsen studierte an den Universitäten Heidelberg, Leipzig und München. Seine Promotion erhielt er 1889, 1980 folgte die Habilitation. Nach einer Anstellung an einem Augsburger Gymnasium lehrte er fast zwanzig weitere Jahre an einer Münchner Schule. Danach widmete er sich vollumfänglich der akademischen Lehre. In vielen seiner Schriften setzt er sich mit dem Humanismus auseinander.

Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes

Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes.

Format: Paperback, eBook

Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes.

ISBN: 9783849665395 (Paperback)
ISBN: 9783849662806  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

I

Wer von dem Verhältnis des Humanismus zum deutschen Geiste in ihrer historischen Beziehung spricht, ist sich bewußt, daß er es mit zwei ungenügend umschriebenen, nach ihrem Sinn und Umfang umstrittenen Größen zu tun hat. Ich kürze den schwierigen und doch kaum zu einer Übereinstimmung der Meinungen führenden Weg der Begriffsanalyse ab, indem ich zunächst einmal sage, was in den folgenden Ausführungen unter Humanismus verstanden werden soll. Humanismus soll eine geistige Bewegung sein, die in einem Drang nach Wiederbelebung des klassischen Altertums wurzelt. Dabei ist Wiederbelebung im strengen Wortsinn genommen. Es wird vorausgesetzt, daß das Altertum einmal tot war, aber einer Wiederbelebung fähig und für die Menschen, die davon reden, bedürftig ist. Dazu ist nötig, daß diese Menschen zwischen sich und dem Altertum einen Abstand, besser gesagt, eine Kluft empfinden. Ferner, daß das Altertum für sie eine geschlossene Einheit ist. Es muß als solche einmalig und nicht wiederholbar sein, aber es muß die Prinzipien der Formung und der Normierung für die eigene Kultur der zu „einem“ Humanismus strebenden oder ihn bekennenden Menschen enthalten[2]. Endlich wird vorausgesetzt, daß diese geistige Einstellung nicht die Einzelner, sondern die einer ganzen Zeit ist. Es ist weiter damit gegeben, daß Humanismus als geschichtliche Bewegung nur da möglich ist, wo in dem eigenen Leben ein Mangel gesehen wird, für den eben die wiederbelebte Antike Erfüllung bieten soll.

Ich füge hier gleich hinzu, daß es von dieser Bewußtseinshaltung aus zwei Einstellungen zu dem Problem des Humanismus gibt, die ich als die romantische und als die klassische bezeichnen will. Für die eine, die romantische, ist die Wiederbelebung der Antike eine Sehnsucht, die schon weil sie ja eine echte Palingenese sein müßte, niemals völlig erfüllt werden kann, ja deren Wert eben in ihrer Unerfüllbarkeit liegt; für die andere, die klassische, ist die Antike die Rechtfertigung des eigenen, bejahten Daseins unter einem überzeitlichen Aspekt; Wiederbelebung ist hier Erinnerung als Erweiterung des Selbstbewußtseins, Anamnese im platonischen Sinne. Das Problem des Humanismus ist aber beidemal das gleiche. Es ist ein Problem der Formung und der Normierung. Als Problem der Formung ist der Humanismus primär ästhetisch, aber so, daß in den ästhetischen Werten die ethischen als beschlossen gedacht werden. Wo dies beides auseinanderfällt, haben wir eine erste Umsetzung des Begriffs, die historisch, wie wir sehen werden, außerordentlich bedeutsam und für die Problematik des deutschen Humanismus entscheidend wichtig ist, aber bereits, das wollen wir hier betonen, eine Trübung des ursprünglichen Sinnes des Begriffs Humanismus darstellt.

Ist dies richtig, so gibt es im Mittelalter keinen Humanismus, keinen karolingischen, ottonischen, normannischen, und was man sonst noch etwa mit diesem Namen beehrt hat[3]. Es gibt eine größere oder geringere Hervorhebung der antiken Elemente, die sich mit dem Christentum schon durch seine Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und durch seinen Eintritt in das römische Weltreich verbunden haben, es gibt Handschriftensucher und Inschriftensammler, Briefschreiber, die sich um ein reineres Latein bemühen, Schulen, in denen man die antiken Autoren liest, es gibt einen Aristotelismus und einen Platonismus im Mittelalter. Aber es gibt keinen Humanismus als kulturgestaltende und wertgebende geschichtliche Bewegung. Diese beginnt vielmehr erst mit Petrarca, und ich kann den Gegenstand dieser Abhandlung nicht so erleuchten wie ich möchte, ohne von ihm etwas ausführlicher zu reden.

In Petrarca[4] erscheinen sogleich alle Wesenszüge des Humanismus, allerdings nur als individual-psychologisches Problem, Petrarca ist der erste Mensch in der abendländischen Geistesgeschichte, der sein Leben auf ästhetischer Empfindsamkeit aufbaut. Er hat schon als Kind, bevor er noch den Sinn lateinischer Worte versteht, ein Ohr für die Schönheit der Perioden Ciceros und der Verse Virgils. Die antiken Sentenzen, in die der Lehrbetrieb der Grammatik- und Rhetorikschulen das antike Bildungsgut aufgelöst hatte, notiert er wie seine Altersgenossen in sein rapiarium, wie man so etwas später nannte. Aber er tut das nicht wie die andern um eine Phraseologie des Briefes oder der Rede zu gewinnen, sondern er hört aus diesen Lehrsätzen die Stimmen einer Vergangenheit zu sich selbst sprechen[5]. Sie sind ihm eine erste Bestätigung eines ursprünglichen, seelischen Zwiespalts, der ihn vereinsamt, von seinen Genossen trennt. Er fühlt sich früh alt, hat jugendliche Todesgedanken. Sie entstehen aus der Empfindung, daß er nicht imstande ist, das zu sein, was er möchte[6]. Die Anfänge seines Weltschmerzgefühls, der ἀκήδεια. Das steigert sich mit den Jahren. Der Student der Rechte in Montpellier und Bologna, der Stutzer und Pfründenbettler in Avignon lebt in derselben Stimmung. Seine Liebe zu Laura entbindet in ihm den dichterischen Genius, aber sein canzoniere ist eine einzige Variation desselben Themas; wenn er heute und vor allem auf den Nicht-Italiener eintönig wirkt, so ist der Grund diese durchgehende Melancholie. Aber das ist nicht alles. Petrarcas Liebe ist ihrem Wesen nach eine Troubadourliebe, die mit dem Besitz der Geliebten aufhören würde. Was Petrarca von den Troubadours scheidet, ist zweierlei: das erste ist die Fähigkeit das Leben in seiner Buntheit, die Natur in ihrer Farbigkeit, die Menschen in ihrer Verschiedenheit zu sehen. Dadurch bleibt auch Laura selbst davor bewahrt, ein philosophisches Symbol zu werden, wie es Dantes Beatrice geworden ist. Das zweite sind die Losreißungen Petrarcas. Diese äußern sich doppelt, scheinbar entgegengesetzt: in seinen Reisen, die ihn ohne andern Zweck als den zu sehen[7], durch Frankreich, an den Rhein, nach Rom und nach Neapel führen, und in seinem Hang zur Einsamkeit, der ihn nach Vaucluse führt. Beidemale verstärken antike Reminiszenzen den natürlichen Hang eines unbefriedigten, noch immer nach Wirklichkeit verlangenden und sie nicht findenden Menschen. Petrarcas Reisen werden Entdeckungsfahrten nach Handschriften von Klassikern, und seine Einsamkeit wird ein ästhetisches, überall mit den Farben der Antike ausgeschmücktes Idyll. Petrarca schafft sich als erster eine ästhetische Umwelt, in der er lebt, procul ab hominibus, non ab humanitate alienus.

Was fehlt, ist die Zusammenfassung der disiecta membra antiquitatis, mit denen er sich herumschlägt, zu einem Weltbild, in dem sein Geist ruhen kann. Dies erfolgt auf einem Umweg, durch den Versuch einer Bekehrung[8]. Petrarca braucht dazu ein Vorbild und einen Beichtiger: Augustin. Dieser soll dem besseren Teil seines Selbst gegen den schlechteren, den von Liebe und Ruhm geleiteten, zum Siege verhelfen. Das gelingt ihm nicht. Aber indem Petrarca sich ein Bild Augustins entwickelt, wie er es braucht, glaubt er zu erkennen, daß dieser Augustin nicht anders von der Weisheit des Altertums lebt, wie er selbst von ihr leben möchte[9]. Und daraus folgt ein Doppeltes, gleich Wichtiges. Indem sich Petrarca neben Augustin stellt, gewinnt er als erster dieselbe Aussicht in die Welt des Altertums, die Augustin als Letzter gehabt hat. Augustin bietet ihm die Vereinigung von Christus und Cicero, die er seit langem sucht[10]. Und er gewinnt die Fähigkeit, wiederum als Erster, nicht wie der wirkliche Augustin die Welt der Antike zu überwinden, sondern, wie er es von seinem Augustin voraussetzt, in ihr zu leben. Die Flucht in das Altertum wird für ihn ein anderer Weg der Flucht aus der Welt.

Den letzten Schritt tut Petrarca in Rom. In dem Rom der Barone und der gotischen Türme hat er schon bei seinem ersten Besuch das Rom der Scipionen, des Paulus und Petrus wiedergefunden. Das phantastische Abenteuer Cola di Rienzos belehrt ihn, daß eine reale Wiederbelebung dieses Rom unmöglich ist[11]. Aber nun gewinnt er in dem Rom seiner Vorstellung den idealen Hintergrund, auf dem sich die avara Babilone, das päpstliche Avignon abhebt[12]. Er gewinnt den räumlichen Zusammenschluß einer Welt, in der es Dichter, Helden, Heilige gibt, die er in der Gegenwart vermißt.

Damit ist er am Ziel. Die Stimmen der Vorzeit, die ihm in der Jugend wie die des bösen Gewissens waren, klingen ihm jetzt als wären sie Ausdruck seines eigenen Wesens[13]. Er schreibt Briefe an Cicero, Seneca, Livius wie an Freunde und schließt mit ihnen die Sammlung seiner Briefe an die Zeitgenossen. Er sammelt um sich die viri illustres der Vergangenheit, das große Pantheon von Heldentum, Größe und Sittlichkeit. Er hat die andere Welt gefunden, in der er leben kann, und damit die Einheit seines Wesens, die er suchte. Dafür ist die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart unüberbrückbar aufgerissen. Nur der Flügel der Sehnsucht trägt hinüber.

Bemerken wir noch einiges bei diesem Vorgang. Petrarcas Streben nach dem Altertum als einer andern bessern Welt ist nach seinem Wesen und nach Petrarcas eigener Anschauung nicht verschieden von dem Streben nach der Ruhe der Seele in Gott. Wäre Petrarca ein anderer Mensch gewesen, so hätte dieses ihn, wie Unzählige vor ihm und nach ihm, ins Kloster geführt. Er selbst empfindet seine ganze Arbeit an sich selbst nicht anders als ein Mönch des Mittelalters sein Streben nach Vervollkommnung im Dienste Gottes. Das ist Petrarcas Religion, über die man so viel geschrieben hat. Sie ist keine Lüge und nicht einmal Selbsttäuschung. Diese Flucht in die Antike als Flucht aus der Welt ist soweit Religion, als sie bei einem nur ästhetischen Menschen möglich war. Aber eben diese Umsetzung des religiösen Triebs in den ästhetischen, des Sündengefühls in den Weltschmerz, der Hingabe an Gott in die Kultur der Seele als Selbstzweck – dies alles bezogen auf die Antike als eine bessere Welt, schafft den Humanismus als historische Bewegung in seiner ersten, individual-psychologischen Form, macht ihn, so dürfen wir hinzusetzen, als Kulturmacht in einer christlichen Welt überhaupt erst möglich.

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