Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus

Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus – Paul Joachimsen

Der zum Protestantismus konvertierte Jude Paul Joachimsen studierte an den Universitäten Heidelberg, Leipzig und München. Seine Promotion erhielt er 1889, 1980 folgte die Habilitation. Nach einer Anstellung an einem Augsburger Gymnasium lehrte er fast zwanzig weitere Jahre an einer Münchner Schule. Danach widmete er sich vollumfänglich der akademischen Lehre. In vielen seiner Schriften setzt er sich mit dem Humanismus auseinander.

Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus

Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus.

Format: Paperback, eBook

Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus.

ISBN: 9783849665401 (Paperback)
ISBN: 9783849662813  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

I. Das Alte und die neuen Probleme.

Wenn man die Schriften der Humanisten danach befragt, wer denn diesen Neuerern als der eigentliche Vertreter alles Alten, Abgelebten in Wissenschaft und Bildung erscheint, so findet man auf tausend Blättern die Antwort: der Bettelmönch. Celtes und Hutten, Mutian und Erasmus haben die „stinkenden Kutten“ der einfältigen Franziskaner und der hochmütigen Dominikaner zum Ziel ihrer derbsten Angriffe gemacht. – Aber man bekämpft selten so eifrig, was nur verächtlich ist. Die Humanisten fühlen recht gut, daß hinter diesen als so armselig geschilderten Gesellen ein ganzes System steht, in dem der Geist des Mittelalters seine Vollendung gefunden hat. So ist es in Theologie, Philosophie und Pädagogik, nicht anders auf dem Gebiet der Geschichte. Hier sind es die Dominikaner, die im 13. Jahrhundert in dem Geschichtspiegel des Vinzenz von Beauvais die umfassendste Sammlung geschichtlichen Wissens, in der Papst- und Kaiserchronik des Martin von Troppau das bequemste Geschichtslehrbuch geschaffen haben.[1]

Stellen wir diese Werke in den Zusammenhang der mittelalterlichen Geschichtschreibung, wo sie an Ekkehard, Sigebert von Gembloux, Otto von Freising ihre Vorläufer haben, so finden wir sie – zumal den Martinus – mit Wattenbach jeden Tadels wert. Anders erscheinen sie im Umkreis der Bestrebungen beider Orden überhaupt betrachtet. Wie das Auftreten der Minoriten den letzten völlig gelungenen Versuch bezeichnet, die Welt in die Kirche hineinzuzwingen, so sollen diese Geschichtswerke den ganzen seit den Weltchroniken des 12. Jahrhunderts so ungeheuer angewachsenen Stoff ordnen und zu einem lückenlosen Bau gestalten.

Das ist die Arbeit, die Vinzenz von Beauvais leisten will.[2] Worauf es ihm ankommt, zeigt vielleicht ein kleiner Umstand am besten. Nachdem er in 14 Büchern eine Weltgeschichte bis zur Völkerwanderung gegeben hat, in der z. B. die biblische Geschichte den Rahmen für die Einfügung des geographischen Wissens vom Morgenlande, das ja die Minderbrüder selbst durch ihre Missionsfahrten so bedeutsam vermehrten,[3] die griechische und römische Raum für Literaturgeschichte und Literaturproben bieten muß, folgt in einem 15. Buch ein „geschichtlicher“ Stoff, den er chronologisch nicht einordnen kann, der Roman von Barlaam und Josaphat! Was sonst von Legenden und Sagen in diesem phantastischsten aller Jahrhunderte umlief, das hat – soweit es nicht etwa bloß in der Volkssprache verzeichnet war – in dieser ungeheuren Kompilation seinen Platz und damit seine geschichtliche Beglaubigung für die Zeitgenossen gefunden.[4] Diese chronologische Festlegung des geschichtlichen Stoffes war ja auch der Zweck des einfachen deutschen Franziskaners, der auf allgemeines Bitten die „Blütenlese der Zeiten“ veröffentlichte, die er sich für seine Predigten zusammengezimmert hatte, da es so großes Aufsehen erregte, daß er auf der Kanzel bei jedem Heiligen genau zu sagen wußte, wann er gestorben sei.[5]

Martin von Troppau hat mit seiner Nebeneinanderstellung der Papst- und Kaiserreihen einer ganzen Gattung von Chroniken den Namen gegeben. Die Martinen sind um soviel einflußreicher geworden als der Vinzenz, als sie leichter zugänglich und übersichtlich waren. Durch sie vor allem ist die geschichtliche Auffassung bis zum Humanismus bestimmt worden. Es ist also wichtig zu erkennen, in welchem Sinne der Autor schrieb. Man hat ihn päpstlich genannt. Dann ist es merkwürdig, daß er nicht nur die Sage von der Päpstin Johanna bringt, sondern auch Päpsten wie Johann XII. keine Übeltat erläßt, und daß er für die Kaiserkrönung Karls des Großen, an die sich die so wichtige Frage der translatio imperiiknüpft, nur die Worte hat: ob rogatum Romanorum factus est imperator, während doch schon Ekkehard die Krönung durch den Papst hervorhebt. – Man hat es dem Martin angerechnet, daß er zuerst die Einsetzung des Kurfürstenkollegs unter Gregor V. berichtet und so der Urheber einer verhängnisvollen Theorie geworden ist. Aber die Fabel steht bei ihm nicht in der Papstreihe, sondern unter dem gleichzeitigen Kaiser Otto III. und der Grund der Einreihung ist deutlich ausgesprochen.[6]

Päpstlich ist also Martins Geschichtsauffassung kaum,[7] aber sie ist römisch und scholastisch, wie keine vor ihr. Römisch insofern, als Rom für diesen Dominikaner das wahre Haupt der Welt ist; von Rom aus schaut er über die Länder. Deshalb ist sein Werk nicht wie das des Vinzenz eine gleichmäßige Darstellung der sechs Weltalter oder der vier Weltreiche, sondern vor den – auch durch ein Quellenverzeichnis noch betonten – eigentlichen Anfang mit Christi Geburt tritt bei ihm die römische Geschichte und an deren Anfang eine Stadtbeschreibung nach den damals noch nicht lange bekannten Mirabilia urbis Romae. Weil er von Rom aus die Welt betrachtet, zeigt Martin noch über die Mirabilia hinaus ein Interesse an den Resten des Altertums in Rom, wie an der Wölfin auf dem Kapitol, der Reiterstatue des Marc Aurel, den Dioskuren vom Monte Cavallo.[8] Deshalb übergeht er leichten Herzens die konstantinische und streift nur die karolingische Schenkung, um desto genauer von den Gaben dieser Herrscher an die einzelnen römischen Kirchen zu berichten.[9] So mag ihm auch der Anteil der Römer an der Kaiserkrönung des Jahres 800 wichtiger gewesen sein als der des Papstes. Sicherlich ist auch der Grund, daß er die Geschichte der Päpstin Johanna erzählt, kein anderer, als daß er sie als Lokalsage an einen vicus papissae knüpfen kann oder geknüpft findet.[10]

Scholastisch ist Martin, weil das oberste Gesetz seiner Darstellung die Lückenlosigkeit und chronologische Bestimmtheit aller Angaben ist.

Längst vor ihm hatte man die apostolische Sukzession der Päpste an Christus direkt angeknüpft, vielleicht zuerst bei dem phantastischen Fabulator Gotfried von Viterbo hieß Christus der erste Papst. Hier war das sicher recht harmlos, aber bei Martin gewinnt es Bedeutung, denn es dient ihm, um die Vergleiche von Kaiser und Papst mit Mond und Sonne und die Zweischwertertheorie sogleich an die Anfänge des Papst-Kaiserreichs anzuschließen, wie ja hier auch schon das Kardinalkollegium seine Stelle findet, dessen drei Ordnungen sich leicht den drei Engelschören vergleichen.[11] Von den gelehrten Zweifeln, die Ekkehard bei der Chronologie der nächsten Nachfolger Petri seinen Lesern vorgelegt hatte, ist bei Martin nichts zu finden. Wer erst Vertrauen zu einem System schaffen will, wird keinen Einblick in Streitfragen eröffnen, die es erschüttern könnten.

Auch wo Martin scheinbar nur seinen Quellen folgt, ist oft eine Anfügung oder Zusammenstellung bedeutsam. Er schreibt aus Orosius ab: Augustus ließ sich nicht Gott nennen, und fährt fort: zu gleicher Zeit wurde Christus geboren. Oder er sucht den Übergang von der Reihe der griechischen Kaiser zu den Franken: Ekkehard hat zum Jahre 689 unter dem Kaisertum Justinians II: Pippinus, filius Ansgisi, maior domus efficitur in Gallia, regnumque Francorum amministravit annis 27, cuius etiam anni suorumque successorum deinceps annotantur in catalogo regum; Martin wenig später: Item Constaninus V cum filio suo Leone et cum Pipino rege Francorum et patricio Romanorum eiusque filiis Karolo et Karolomanno imperavit annis 16.[12]

 Man kann Männern, die so Geschichte bauen, den historischen Sinn, der eine Art uninteressierten Wohlgefallens an der Vergangenheit ist, absprechen. Man wird dann eine andre Quelle ihrer Gedankengänge suchen müssen, und ich finde sie in dem juristischen Denken im Sinne der Scholastik. Die großen Rechtskodifikationen des hohen Mittelalters vom Dekret Gratians bis zum Sachsenspiegel haben da verhängnisvoll gewirkt. Sie wollen ebenso oft angeben, wie etwas Recht geworden ist, als was Recht ist. Sie sind ebenso erzählender als gebietender Natur. Damit wird aber eine Menge historischer Tatsachen dem Flusse der Überlieferung entrissen und dogmatisiert. Sie können nur noch tradiert und diskutiert, aber nicht mehr auf ihre Entstehung und Richtigkeit geprüft werden.

Die Geschichtsbücher dienen dieser Tradition. Der Martinus ist ein „Spiegel des Rechts in der Geschichte“, wie die Sächsische Weltchronik und „der Könige Buch“, er steht nach der ausgesprochenen Absicht des Autors selbst[13] neben den Dekretalen wie diese deutschen Chroniken neben dem Sachsenspiegel und dem Schwabenspiegel.

Nach dieser Auffassung darf keine von den großen staatlichen und kirchlichen Einrichtungen ein neues Ding sein, sie muß um so ehrwürdiger an Alter sein, je wichtiger sie dem Autor erscheint. Dachte einer deutscher als Martin, so rückte er die Einsetzung der Kurfürsten zu Karl dem Großen hinauf, so tat der Verfasser der Flores temporum[14], so Jordanus von Osnabrück und stillschweigend die Sächsische Weltchronik, wer päpstlicher gesinnt war, wie der Kölner Stadtschreiber Gotfried Hagene, zog sie zu Papst Silvester, dem legendarisch so viel verherrlichten Zeitgenossen Konstantins des Großen.[15]

Ein kleiner Fortschritt war es dann immerhin, wenn Männer, wie Jordanus von Osnabrück oder Lupold von Bebenburg, den lange gebahnten Wegen französischer und englisch-normännischer Chronistik folgend, dem Stammbaum der Institutionen einen gleich ehrwürdigen und gleich phantastischen deutscher Nation oder deutscher Sprache entgegenzusetzen suchten.[16] Diese der publizistischen Polemik entwachsenen Theorien haben hier und da einen bemerkenswerten Einfluß auf die späteren Geschichtswerke geübt, aber das System der minoritischen Geschichtsauffassung haben sie nicht erschüttert.

Wie sehr dies System dem Zeitgeist entsprach, das zeigen nicht nur die zahllosen Handschriften des Martinus und seine Übersetzung in alle Landessprachen[17], sondern auch der Umstand, daß bis zum Ende des 15. Jahrhunderts keine Versuche universalhistorischer Betrachtung bekannt sind, die sich nicht auf Vinzenz oder Martinus oder auf die ihnen geistesverwandten Bernardus Guidonis und Ptolemäus von Lucca zurückführen ließen. Die deutschen Werke hat Ottokar Lorenz einleuchtend gruppiert[18]: im Süden Deutschlands werden vor allem die Martinen gelesen; an sie schließt Jakob Twinger von Königshofen seine Straßburger Chronik, das wichtigste Werk süddeutscher Stadtgeschichtschreibung; hier wird auch durch Hinzufügung eines eigenen lokalgeschichtlichen Teils die erste deutsche Stadtgeschichte geschaffen; im Norden wirkt die Reichhaltigkeit des Vinzenz auf die niederländischen Reimchronisten, sodann – im Verein mit Martin – auf den Westfalen Heinrich von Herford im 14., auf den Lübecker[19] Hermann Korner im 15. Jahrhundert.

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