Jugenderinnerungen

Jugenderinnerungen – Heinrich Federer

Dies ist die Autobiografie des Schweizer Schriftstellers und Priesters. Heinrich Federer ist Ehrendoktor der Universität Zürich. Sein Durchbruch waren die Lachweiler Geschichten aus dem Jahr 1911.

Jugenderinnerungen

Jugenderinnerungen.

Format: eBook

Jugenderinnerungen.

ISBN eBook: 9783849655310

 

 

Auszug aus dem Text:

Schon oft habe ich mich geschämt, beim Zurückdringen ins Dunkel der Kindheit an einem roten Kleidchen mit schwarzen Tupfen steckenzubleiben. Hinge eine Geissel oder ein Schaukelpferd oder eine Musikdose am ersten Nagel meiner Erinnerungen, so liesse dich immer etwas Ermutigendes daraus erraten. Jedoch ein Mädchenrock, wie ihn damals dreijährige Buben noch trugen, dieses bequeme, aber den künftigen Hosenmann so entwürdigende Gewand! »Halt das Maul, du, ich hab’ dich ja noch im Meitlirock gesehen«, war der schlimmste Trumpf, den ein Bub gegen den andern ausspielen und ihn damit völlig abtun konnte.

Aber da hilft nichts. Am Anfang meiner bewussten Geschichte flattert unabwendbar dieser kleine rote Rock.

Ich stand am Fenster des mächtigen Doktor-Omlin-Hauses, gegen den Dorfbach zu, ohne bei weitem das Gesimse zu erreichen, und blickte über die unzählbaren Tupfe im roten Grunde meines Gewändleins hinunter, während eine alte, hagere, steckige Jungfer neben mir voll Neugier auf den Dorfplatz sah, wo sich anscheinend etwas recht Bewegliches zutrug. Indem ich aus Langeweile an meinem Tuche schüttelte, schienen die Punkte wie schwarze Käfer aufzuleben, herumzuwimmeln und sich unendlich zu vermehren. Sie krochen millionenhaft mir zum Halse herauf und rutschten wieder zu den Füssen hinunter. Ich fühlte ihr Kribbeln und lachte wie gekitzelt darüber. Seht gut weiss ich, dass ich die Arme spannte, um das ganze Gedränge irgendwie zusammenzufassen. Doch es war etwas so Unendliches für mich in dieser kleinen Tüpfchengeschichte wie später im unzählbaren Geglitzer des Nachthimmels enthalten.

Aber nun dünkte mich, das schwarze Getüpfel mitsamt dem rosenblütigen Grund fahre sogar über mich hinaus und überschwemme die ganze Stube. Ich musste noch nichts von Zahl und Mass. Aber ein Instinkt sagte mir, dieses Schwarz und Rot gehöre doch mir, ich sei also der Mächtigere von uns zweien. Und dennoch entlief es mir ins Grenzenlose und spottete meiner, war also wohl noch stärker. Zum ersten Mal empfand ich da trübe, was später das Leben so schneidend klar merken liess: das ewige Ränkespiel zwischen Mögen und Vermögen, den Wechselbalg von Endlich-Unendlich, an dem man sich fast zu Tode kratzt.

Noch eben vor wenigen Minuten hatte die Jungfer mit mir wegen des Lachens gescholten. Nun ich über mein vermeintliches Beraubt- und Überwältigtwerden laut aufweinte, glaubte die weichmütige Person, ihr Schimpfen hätte mich so arg gekränkt, und hob mich halbwegs aufs Gesimse.

Sogleich vergass ich den Kummer. Denn da unten lief ein Bach zwischen zwei schmalen Wiesenstreifen die Dorfzeile hinunter. Nebenher zog rechts und links ein Weg von der Kirche und dem Gasthof »Zum Kreuz« herab gegen das Unterdorf und seine breite Poststrasse. Noch weiter unten glänzte von den Obstmatten herauf der See und ringsum näher oder ferner grünten die Berge, vor allem das doppelköpfige freche Stanserhorn. Ich musste nicht, was da draussen geschah. Kinder, Heuwagen, Kühe, die gelbe Post und Mägdeklatsch am Brunnen beim Gasthof Engel mit der Trauerweide, solches mochte durcheinander wechseln. Ich fühlte nur den Strom von Licht und Leben auf mich hereinstürzen und schwelgte darin. Mit den Fingern zeigte ich wohl nach irgendeinem aufdringlichen Gegenstand und schrie: gib, gib! Aber ich weinte nicht mehr, weil er, statt wie ich hoffte zum Fenster hereinzufliegen, zwischen den schwärzlichen Häusern des Unterdorfs verschwand. Er gehörte ja nicht zu den Tupfen meines Kleides. Ich lernte nach und nach mich genugsam freuen, dass solches nahe war und sich geniessen liess, ohne durchaus in meinen Sack zu gelangen. Und wie man auch über Anlernung und Gewohnheit des Eigentums reden mag, mir sind jene ersten kindlichen Erfahrungen, so verworren sie auch noch waren, doch unwidersprechliche Zeugnisse, dass uns das Mein und Dein angeboren ist und nur ihre Grenze oder Grenzenlosigkeit uns unablässig zu schaffen macht.

Meine Mutter – den Vater erkenne ich erst viel später, denn damals wanderte er, das junge Ehejoch abwerfend, wie ein gesetzloser Geist in der Welt herum – meine kleine, schmale, stille Mutter mit dem rabenschwarzen Haar, den mitternächtigen Augen und mit Wangen, die sich beim Küssen so weich wie Pflaumen berührten, indes die Stirne durch ihre Steinhärte erschreckte, meine Mutter war mit dem Vater von Brienz über den Brünig nach Sachseln gekommen und hatte, bis die Wohnung im neugebauten, aber noch nicht ausgetrockneten Schulhaus bezogen werden konnte, im obern Stock des Omlin-Hauses Unterkunft mit meiner Schwester, mir und einer alten Hilfsperson gefunden. Es ist noch heute weitaus das schönste und charaktervollste Wohngebäude des Dorfes, in einem grosszügigen ländlichen Aristokratensinn errichtet, mit einer gewaltigen Hausflur, mit breiten, schön geländerten Stiegen und einer Rundflucht von weiten, hohen Zimmern, dazu mit alten Bildern, die beim Krachen der Dielen mitzitterten, mit geschnitzten und geschweiften Türen, von denen eine beim Wind schaurig ächzte, endlich mit tiefen Kellergewölben, wo es von Obst und Most oft gar herbsüss roch.

Ein schicksalsreicher Pfarrer hatte diesen sitz gebaut, der sich so behäbig zwischen das laute Dorf und die Gärten und Wiesen im Rücken hinklafterte. Der Geistliche geisterte noch nachts in den Räumen herum. Das Seltene, was man dem Apostel Petrus nachsagt, geschah auch an ihm: er hatte alle sieben Sakramente empfangen, war Ehemann, Landammann von Obwalden, Witwer, Priester geworden, aber beflissener Bauherr, Politiker und Geschäftsmann bis zum Tode geblieben. In der Sakristei der Sachslerkirche juckte es mich später als Altardiener oft sonderbar, einen Augenblick des Alleinseins auszuspionieren, und mich mit ihm, dessen geistliches Porträt über den geschnitzelten Wandkästen hing, furchtsam zu unterhalten. Aus der kalten offiziellen Miene des Bildnisses hätte freilich niemand den in seiner Art Grossen herausgeschmeckt. Aber wenn ich fragte: »Bist du der Patron des Omlin-Hauses und gestern um Mitternacht mit deinem schwarzen Radmantel durch den grossen Saal gerauscht und hast etwas Lateinisches gesummt und ein Wölklein von Tabak und Weihrauch in mein Zimmer geblasen?« – dann sah ich das steife Bild nicken und alles Ungewöhnliche, so hoch auch die Sage sich über den Verstorbenen ergehen mochte, ganz kräftig zugeben.

Freilich in jenen Tagen und noch lange später kannte ich diesen innern Zauber des Hauses nicht. Denn wir zügelten bald ins fertige schöne Schulhaus am Ende des Dorfes, wo die satten, mit Obst gesegneten Wiesen anfangen.

Erst später, durch Kameradschaft mit einem Sohne des Hauses, dem lieben Adolf, ward ich in die Mysterien des Hauses gründlich eingeweiht. Jetzt, in den aufdämmernden Sinnen des vierten Lebensjahres, spürte ich nichts davon, ja hatte sogar den Genuss seiner hohen und weitschauenden Fenster nur selten. Niemand hob mich herauf, und auch wenn ich auf den Stuhl kletterte, verwehrten mir die Geranien- und Fuchsienstöcke, die ich seitdem an den Stubenfenstern so sehr hasse, den Guck ins liebe Dorf hinaus.

Ich musste mich mit der Stube in Armhöhe begnügen. Und wie ich im Freien nicht viel Einzelnes sah, sondern zumeist eine unmässige, unerfassliche, berauschende Gesamtheit, so konnte ich auch im engern Winkel des Hauses mich nicht leicht an bestimmte scharfe Besonderheiten festhaken. Mein von Schwärmerei trunkenes Auge stellte sich lieber aufs Vielerlei ein, und dessen überlegte Sonderung hätte ihm weh getan.

Aus dem Tapetenmuster machte ich mir ein Urwaldsgewirr von erstickender Not. Aus den braunen und weissen Holzplättchen des Bodens formte sich eine nie durchzumarschierende Weltbahn. Vorhang, Lampe und unsere die Stunden aborgelnde Uhr, alles wurde von mir vernebelt und phantastisch verzerrt, so dass die Vorhänge wie Gewölke, die Lampe wie Feuersbrunst und das Musizieren der Uhr wie ein Geläute von Sturmglocken wirkte. Eine Fliege ward zum grossen Vogel. Dazu fing mit dem vierten Jahr mein Asthma an und zwang mich die halbe Zeit zum Alleinsein, Stillesitzen, Nichtreden, In-mich-Versinken und daher auch in ungemessenes, der Wirklichkeit fernes Phantasieren. Das ging nach und nach so weit, dass ich mir durch fieberhaftes Sinnen das Asthma oft viel ärger machte, ja, es sogar durch schwelgerisches Brüten geradezu hervorlockte. Asthma und Phantasterei wurden innige Geschwister, eins rief dem andern; aber ich muss zugeben, dass die schönsten, eigensten Einfälle mir immer in diesen kranken Stunden zuflossen.

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