Papst und Kaiser im Dorf

Papst und Kaiser im Dorf – Heinrich Federer

Eine Erzählung aus den Schweizer Bergen. Der 1928 verstorbene Heinrich Federer gehört zu den bekanntesten Schweizer Schriftstellern und ist Ehrendoktor der Universität Zürich.

Papst und Kaiser im Dorf

Papst und Kaiser im Dorf.

Format: eBook

Papst und Kaiser im Dorf.

ISBN eBook: 97838496553037

 

 

Auszug aus dem Text:

Es war ein gewöhnlicher Mittwoch im Juni. Aber Lustigern, das so einsam in den gemähten Toggenburgerwiesen zusammengenistet sitzt, trug den Sonntag im Gesicht. Niemand arbeitete, alles steckte im dunkeln Rock. Mit Ausnahme des Tälerhauses, wo der Witwer Marx schon tagelang am Sterben liegt und zwischen Werktag und Feiertag nicht mehr unterscheiden kann, haben alle hölzernen Wohnungen ihre Scheiben geputzt, den Türsöller gescheuert und etwa ein Eibenkränzlein am mittlern Fenster ausgehängt. Kirche, Pfarrhof, der Gasthof zur Ilge und das Schulhaus lassen überdies eine grünweisse Fahne vom Dachgiebel flattern und beim uralten Egidihaus, wo das Dorf an der Landstrasse sich allmählich auflöst, ward ein Triumphbogen aus Tannenreis über die Strasse gewölbt. Zwei bemalte Tafeln hangen daran, die eine nach dem Dorf zurück, die andere vorwärts in die Felder gekehrt.

Denn der neue Pfarrer Carolus Bischof zieht heute in seinen Sprengel ein. Darum gucken die hundert und hundert kleinen Fenster und Augen von Lustigern so neugierig auf die Strasse.

Da aber der Täler seit dem Gehirnschlag vor vier Tagen stumm und lichtlos im Bett liegt und nach nichts mehr fragt, mochte auch das alte Rumpelhaus nicht glänzen. Seine Fenster schauen wie blind in den Tag, die Haustüre ist geschlossen wie ein Mund, der nichts mehr reden kann, und nur der dünne, graue Rauch, der dann und wann langsam aus dem Kamin kriecht, sagt, dass dich noch ein Odem in diesen Wänden lebe.

Mehr, man hört aus der Tiefe des Hauses noch ein Keuchen und Rasseln, dumpf, mühsam, mit Zwischenpausen, wie das Atemziehen eines Kämpfenden. Das ist der Heli, der eine der Tälerbuben, der im Keller an der gewaltigen Stickmaschine sitzt und bedächtig die Arbeit dort fortführt, wo der Vater mitten im schönsten Muster sie aufgeben musste. Eine Wespe schwirrt gerade von der Blütendolde. Der Alte hatte noch den silbernen Flügel mit zwei Stichen erhascht und war dann wortlos vom Sitzbrett gesunken. Heli flog nun schon mit dem schlanken Insekt durch die blaue Luft. Ganz glücklich war er über dem Gelingen.

Das eine Geschwister, Johannes, sass indessen am Schiefertisch in der Stube, weitab vom Bett des Sterbenden. Er war achtzehnjährig, mager, bleich von Natur, aber gesund, mit einer schönen, weissen, langen Nase und langen, zarten, unbäuerlichen Händen. Schmale Augen, von einem kalten Kieselgrau, mit Wimpern schwer und schwarz wie sein Kopfhaar, gaben diesem Jüngling ein vornehmes, erlesenes Aussehen.

Am ersten Tage hatte er geweint, am zweiten vor sich hingestiert, am dritten fing der Sterbende schon an, ihn zu langweilen, und heute nahm er immer wieder die Kreide neben den Jasskarten vom Fensterbrett und probierte das spitzige Profil mit den gespannten Backenknochen und dem verzogenen Mund zu zeichnen, so wie es dort, in der gegenüberliegenden Stubenecke, aus den Kissen emporragte. Plötzlich stand das Mili vor ihm, das so unhörbar alle Türen öffnen konnte. Schnell wischte er das Bild von der Platte. »Aber Johannes!« tadelte das grosse, schmucke Mädchen, »so was, statt zu beten! Komm lieber in die Küche, der Kaffee ist parat.«

Johannes schnitt ihr eine gleichgültige Grimasse, aber folgte sogleich in die weite dunkle Küche und setzte sich voll Appetit zum Vespern hin.

»Essen muss man halt doch,« lehrte Mili leise. »Nimm da!«

»Was, Küechli hast Du gebacken? und ich soll nicht zeichnen?« Johann fuhr mit dem weissen kleinen Finger über die schöne Nase hinunter.

»Die Ilgenwirtin, die Bas, hat uns gestern einen Hafen Butter geschickt. Wir haben ja die letzte Zeit nie recht gegessen. Weil der Vater nicht mehr isst, sollen wir dann auch nicht mehr essen?« Sie warf den blonden Kopf zurück und ihr helles, seidendünnes Stirnhaar floh wie Silberwölklein empor.

»Küechli backen statt beten,« schalt Johann lachend und verarbeitete schon das dritte Gebäck mit seinen geraden, weissen, streng geschlossenen Zähnen. »Könnten wir lieber auch dem Vater einige mitgeben auf die ewige Reise! hast nicht mehr probiert, mit ihm zu reden? dich hat er noch am längsten verstanden.«

Johannes schüttelte leicht den Kopf. »Der Kaplan hat ja gesagt, der Vater merk’ und versteh’ nichts mehr, wir sollen ihn ganz in Ruhe lassen. Er steh’ mit Gott in guter Ordnung und wolle nichts mehr von der Welt hören. Komm du jetzt zu mir in die Stube. Hie und da hat er eine schrecklich lange Weile nicht mehr geschnauft …«

Das Mili brachte dem Heli, der schon die zweite Wespe packte, das Kaffeekrüglein mit vier Küechlein in den Stickkeller. Sorglich besah sie die Arbeit und warnte: »Wenn du’s verdirbst! Lieber Gott, denk, was dann?«

Heli lachte sie nur gutmütig an, verzehrte rasch seine Portion und stickte weiter. Das Jüngferchen fühlte sich hier überflüssig, wusch das Geschirr ab und setzte sich dann neben Johannes auf die Fensterbank in der Stube. Sie sann nach, was noch zu ordnen wäre für den möglichen Fall, dass Marx noch heut stürbe. Jedesmal wischte sie böse die Zeichnung aus, die der Bruder auf dem Schiefer probierte. Schliesslich öffnete Johannes missmutig ein Fenster, um gegen das Dorf hinunter zu horchen. Man sah nur die vielen magern Birnbäume und dahinter den Kirchturm seinen unschönen, niedrigen, müden Kopf in dem schwülen, dünstigen Himmel eher senken als heben.

»Was hat die Ilgenfrau gesagt?« schimpfte Mili. »Schnell das Fenster zu! Schau, da hast schon wieder solches Geschmeiss hereingelassen!« Sie schlüpfte zum Bett, ungeachtet Johannes sie ängstlich zurückhalten wollte, und fing mit lautlosem Schwung zwei Fliegen nacheinander, die sich aufs dünne Haar des Sterbenden gesetzt hatten, ohne es auch nur zu streifen.

…..

 

 

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