Literatur und Kunst

Literatur und Kunst – Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Band 8

 

Die 1914 im Original veröffentliche Reihe “Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. ” gehört zu den umfangreichsten historischen Abhandlungen über die Entwicklung und den Aufbau des Kaiserreiches. Hier in einer Wiederauflage von insgesamt acht Bänden vorliegend, umfasst das Werk auf fast 2000 Gesamtseiten Beiträge der wichtigsten Koryphäen ihrer Zeit zu relevanten Themen. Dies ist Band 8, der die Literatur, die schönen Künste (Baukunst, Malerei, Kunstgewerbe), Musik und Theater behandelt.

Literatur und Kunst

Literatur und Kunst.

Format: eBook/Taschenbuch.

Literatur und Kunst.

ISBN eBook: 9783849663216

ISBN Taschenbuch: 9783849665258

 

Auszug aus dem Werk:

 

Die Literatur

Von Prof. Dr. Alfred Biese, Direktor des Kgl. Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums in Frankfurt a. M.

Wir wollen 25 Jahre überschauen. Was ist ein Vierteljahrhundert im Strome der Jahrtausende? Eine Welle, die auf und nieder sinkt. Aber auch eine Welle ist eine Welt für sich, aus Milliarden von Wasserteilchen zusammengesetzt und Tausende von Lebenskeimen und Lebenswesen in sich bergend. Und auch die Welle spiegelt die Sonne, spiegelt Mond und Sterne wider.

Kunst und Leben.

Kunst ist Form, Kunst ist Seele; Seele aber ist nicht bloß Anschauung und Gefühl und Phantasie, sondern auch Wille und Charakter, der sich auf eine Weltanschauung, auf eine ethische Stellungnahme des einzelnen zum Weltganzen gründet. Denn so sehr die Kunst auch ihre Selbständigkeit gegenüber den anderen geistigen Mächten wahren muß, so geht sie doch in die Irre, wenn sie sich voraussetzungslos auf sich selber stellt und den Mittelpunkt des ganzen Lebens bilden will; das schränkt nicht nur das Leben ein, sondern verflacht auch die Kunst; diese muß der Welle gleich die ewigen Sterne der Ideale widerspiegeln; sie darf nicht zu einer mechanischen Nachbildung, nicht zu einer bloßen Bewegung der Kräfte, zu einem Spiel von Eindrücken werden, die man ohne Hinblick auf ein Ganzes des Lebens empfängt und gestaltet, und das Leben selbst darf nicht in einzelne Augenblicke zerflattern und zerstieben, sondern es erheischt geistige Zusammenfassung und Bewältigung. Das künstlerische Schaffen muß ein Niederschlag des ganzen Menschen, nicht des bloß künstlerischen Vermögens sein, eine Erhöhung des Lebens aus allen Kräften der Seele heraus. Wenn nur die eine oder die andere, wenn bald die sinnliche Erfassung der Umwelt, bald die Schwingung der eigensten Innerlichkeit vorwaltet, dann wird sich ein Vollendetes, ein Dauerndes nicht gestalten.

Die Dichtkunst als der mehr oder weniger getreue Abdruck des äußeren und inneren Lebens einer Zeit wird der Einheitlichkeit entraten, wenn diese selbst in ihrer ganzen Kulturbewegung unausgeglichen und brüchig, nervös und problematisch ist. Wie ein wirres Chaos mag dem oberflächlichen Beobachter das Schaffen der Gegenwart erscheinen, das keine Richtung, sei es vom Idyllischen bis zum Barocken, vom Schlicht-Gesunden bis zum Perversen und Pathologischen, vom Impressionismus bis zum romantischen Symbolismus unvertreten sein läßt. Hier wird die Beziehung zum Volk und die Verjüngung der Kunst durch die innigste Berührung mit dem Volkstümlichen gepflegt, und dort stellt sie sich nur auf ihr eigenes, frei schwebendes, aus eigenen Mitteln schöpfendes Vermögen. Auf der einen Seite sehen wir Dichter aus dem Born heiterer Lebensfreude trinken, aus den Tiefen deutschen Gemütes voll Sinnigkeit und Glaubensinnigkeit schürfen, auf der anderen werden unsere Sinne und Nerven gepeitscht, wie von Straußscher Musik oder Reinhardts Bühnenkunst oder dem Hexensabbat der Kinos. Talente erblühten allüberall in den verschiedensten Formen und Abstufungen der Dichtung, aber das erlösende, bahnweisende Genie fehlt ebenso wie auch sonst die harmonisch geschlossene, geistige Erfassung der Weltzusammenhänge. Brennende Sehnsucht durchzieht die Fülle all der rastlosen Arbeit und die Fülle spielerischer Träume, in denen dekadentes, sich selbst genießendes Ästhetentum sich wiegt. Gewannen Wissenschaft und Technik immer mehr die Herrschaft über Raum und Zeit und Naturkräfte, so eroberte die Poesie doch nicht minder neue Stoff-Gebiete. Die Welt der Großstadt in allen ihren Licht- und Schattenseiten, die Welt der Industrie, der Maschine, aber auch der Natur in ihren geheimsten Licht- und Farbenreizen und in der winterlichen Pracht ihrer Berge, die Seelenwelt des Kindes, die feinsten Abstufungen des Bewußten und Unbewußten, ja des Unter- und Überbewußten, die dunklen Trieblabyrinthe, eine Unzahl von Problemen sozialer und ethischer Art. Wer möchte bei der Fülle anstürmender Fragen, von denen die Dichter überwältigt wurden, schon so bald Sieg und Klarheit erwarten und fordern? Wer möchte andrerseits den Fortschritt verkennen, der in der Wandlung der Sprache, in der Kunst, sie jeder Stimmung anzugleichen und den tiefsten Empfindungen Ausdruck zu leihen, sich kundgibt? Man sucht Eigenstil und ringt damit, auch die Sprache als eigene Macht in sich zu erleben.

In einer Zeit, wo alles in die Weite und Breite, weniger in die Tiefe strebt, wo die Daseinsbedingungen soviel schwieriger und verwickelter geworden sind, werden die Menschen seltener, die abseits von dem wilden wirtschaftlichen Kampfe und allem Hasten und Jagen stehen, die sich bei bescheidenem Auskommen den höchsten Luxus gönnen, eine dem Ideal dienende Seele zu haben, ja man möchte manchmal wähnen, es werde kälter und unwirtlicher auf unserer Erde, seit ihr diese beseelteren Angesichte zu fehlen beginnen. Und doch; wer sie sucht, wird sie auch im Leben, auch in unserer Dichtung finden.

Die 80er Jahre.

Einen Grenzstein bedeutet für diese das Dreikaiserjahr 1888 gerade nicht, aber sehr wohl scheiden sich jene, die als Knaben die ruhmvolle Zeit Wilhelms I. und Bismarcks verlebten, von den Älteren, die in einer politisch matten Epoche wurzelten. So war es ein begeisterter Idealismus und hocherhobener Vaterlandssinn, der in der Seele der beiden Brüder Heinrich und Julius Hart glühte, die aus dem stillen, engumhegten Frieden von Münster in die Großstadt Berlin einzogen, von ihren mächtigen Wogen sich umbrausen ließen und in dem Bewußtsein, eine neue Zeit müsse auch für die Literatur sich anbahnen, einen großen Kreis gleichstrebender junger Genossen (wie Bölsche, Dehmel, Halbe, Hartleben, Gerh. Hauptmann, Hegeler, v. Polenz usw.) um sich sammelten, Zeitschriften gründeten und wider Scheingrößen des Tages ihre kritischen Waffengänge richteten. Überall lag Zündstoff genug, und bald loderte er auch in München auf, wo eine kernig-fränkische Kraftnatur in Michael Georg Conrad erstand, der „Die Gesellschaft“ als Sammelplatz der jungen Stürmer und Dränger gründete.

„National und modern!“

Von sozialem und naturwissenschaftlichem Geiste war die Bewegung getragen, die bis in die Gegenwart hinein nachwirkt. „National und modern!“ war der Wahlspruch der Harts, voll frischer Lebensbejahung; die germanische Seele schien ihnen berufen, von dem verblassenden, kaltakademischen Ideal des klassischen Altertums sich frei zu machen und aus eigener Fülle des Reichtums warmes, wirkliches Leben zu spenden; eine innere Größe solle mit der politischen sich verbinden und das Theater zu einer Stätte schaffen, die Freiheit und Tiefe widerspiegele und die sittliche Kraft des jungen Geschlechts befruchte und pflege. Der Mittelmäßigkeit ward der Krieg bis aufs Messer erklärt. Nur schade, daß man die Genies nicht aus der Erde stampfen konnte, denn im geistigen Schaffen bedeuten Gewalt und Tendenz und Theorie nur wenig und vermögen das Wachsen und Bilden von Persönlichkeiten nicht in ein schnelleres Zeitmaß umzusetzen. Auch sie selbst, die Harts, blieben als Kritiker hervorragender denn als Künstler, so hohe Ziele sie sich als solche auch steckten und in tapferem Ringen zu erreichen suchten. So heilsam es war, wider die altertümelnde Dichtung eines Ebers, wider all das Konventionelle und Spielerische und Seichte auf der Bühne (Blumenthal), wider falsches Pathos und ungesunde Lüsternheit zu streiten, so bleibt doch Verneinen leichter als Bessermachen. Man entdeckte eine neue Stoffwelt, das Großstadtelend, doch damit war die neue Kunst, die jene bewältigte, noch nicht gewonnen. Die Romantik der Bohème wurde von den keckfröhlichen Studentenseelen ausgekostet und sensationell verarbeitet; es fehlte auch nicht an Energie und Leidenschaft des Gedankens und des Strebens, Zustände und Einrichtungen in Staat und Wissenschaft und Kunst umzuformen, doch jenes für den Künstler notwendigste Bestreben, ohne äußeren Zweck an sich selber zu bauen und das persönliche Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit zu klären, war nur bei wenigen wach und rege. Die das einzelne bindenden Ideen kamen bei dem Tatsachenkultus zu kurz. So sehr man die Augen manchem öffnete, der bisher die Schattenseiten des Lebens[1] nicht hatte sehen wollen, so stieß doch die brutale Absicht ab, nun einmal zur Abwechslung das Gemeine und Niedrige in der Menschennatur, das Häßliche und Abscheuliche im Triebleben hervorzukehren. Haß ist nimmermehr so fruchtbar wie Liebe.

Das künstlerische Vermögen war weniger an der Arbeit als der Verstand. Die Theorie setzte überhaupt in dem ganzen Zeitabschnitt die Federn schaffender Dichter merkwürdig stark in Bewegung, und das bedeutet nicht – selbstbewußte Stärke. Angewandte oder umgeformte Wissenschaft erschien den einen, die besonders auf Zola fußten, die Kunst; die anderen wollten die beiden Reiche strenge sondern. So vaterlandsliebend auch die jungen Stürmer und Dränger zunächst waren, die mit Stolz auf ihre Vorgänger vor hundert Jahren, auf den jungen Goethe und Klinger und Lenz zurückgriffen, so glaubten sie doch bald, in heimischen Dichtungen nichts zu finden, was ihnen den Antrieb zur Bewunderung und Nachbildung geben könnte, denn leider fühlten sie sich selbst zu eigener idealbildender Kraft als zu schwach.

Internationalismus.

So warf man sich–wie es überhaupt der Bewegung an Geschlossenheit fehlte–Franzosen und Russen (Dostojewski und Tolstoi) und Norwegern (Ibsen) und Schweden (Strindberg) in die Arme, um bei ihnen Gesellschaftskritik und Elenddarstellung zu lernen. Auf solchem Sumpfboden erwuchsen Romane wie „Die Betrogenen“, „Die Verkommenen“ (Kretzer), „Das Leben auf der Walze“ (Kirchbach), „Fallobst“ (Tovote), „Adam Mensch“ (Conradi), „Stiefkinder der Gesellschaft“, „Die am Wege sterben“ (Land), „Schlechte Gesellschaft“ (Bleibtreu). Kunstwerke waren diese zumeist ins unermeßlich Breite ausschweifenden Erzählungen nicht; der ungemein bewegliche, immer in Fieberhitze der „Revolution der Literatur“ glühende Bleibtreu brachte den „Größenwahn“ sogar auf 1200 Seiten; Kneipe, Spelunke und Kaffeehaus sind Ort der Handlung bzw. des langsamen Verfalles. Denn die Décadence ist der wesentliche Gegenstand, und sie beherrschte in mannigfachen Verästelungen, wie Neurasthenie, Blasiertheit, pathologischer Überreiztheit, auch viele Gemüter der ganzen Zeit. Die „furchtbar schönen und gefährlichen Zeitprobleme“ und „Schrankenbrüche“ waren M. G. Conrad eine Wonne, und er lugte sehnsüchtig nach „zukunftträchtigen Genialitäten“ aus. Zola war für ihn wie für Max Kretzer das Ideal; dieser stellte in „Meister Timpe“ (1888) die Vernichtung des Handwerks durch die Industrie, den Haß der Enterbten wider das Kapital, kurz das ganze Proletarierelend erschütternd dar; die scharfe Beobachtung des einzelnen, genaue, lückenlose Wiedergabe der Sinneseindrücke und der Seelenmartern ward angestrebt, wie Herm. Heiberg sie in „Apotheker Heinrich“ und in Erzählungen erreichte, die den Dämon Weib in dem blutsaugerischen, spinnen- und vampyrhaften Wesen, oft peinlich verzerrt, oft wunderbar helläugig gesehen, darstellen.

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