Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten

Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten – Johann Caspar Bluntschli

Der Verfasser dieses umfassenden Referenzwerkes ist bei seiner Arbeit von der Ansicht ausgegangen, dass das Recht des natürlichen Wachstums der Völker und Staaten und das Recht der Entwicklung der Menschheit von der Wissenschaft entschiedener als bisher vertreten werden müssen. Er erörtert in der “Einleitung” die Bedeutung und die Fortschritte des modernen Völkerrechts und behandelt anschließend im “Rechtsbuch”: Begründung, Natur und Grenzen des Völkerrechts, völkerrechtliche Personen und Organe, Staatshoheit, völkerrechtliche Verträge, Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben, Kriegsrecht, Recht der Neutralität, und listet im Anhang die Kriegsartikel der Vereinigten Staaten von Nordamerika vom Jahr 1863.

Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten

Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten.

Format: Paperback, eBook

Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten.

ISBN: 9783849665555 (Paperback)
ISBN: 9783849662554 (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

Einleitung. Die Bedeutung und die Fortschritte des modernen Völkerrechts.

Grundlage des Völkerrechts.

Wo immer Menschen mit Menschen verkehren und dauernde Beziehungen anknüpfen, da regen sich in ihnen das Rechtsgefühl und der Rechtssinn und verlangen eine gewisse Ordnung der notwendigen Verhältnisse und eine wechselseitige Achtung der daraus entspringenden Rechte. Beide Eigenschaften der menschlichen Seele, das Rechtsgefühl und der Rechtssinn, sind selbst unter barbarischen Stämmen deutlich wahrzunehmen, aber nur bei zivilisierten Völkern gelangen sie zu voller Ausbildung des Bewusstseins und mit Hilfe öffentlicher Institutionen zu gesicherter Wirksamkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl missgeleitet, aber nicht zerstört werden. Immer wieder erheben sie sich, wenn der Druck nachlässt, und besinnen sie sich, wenn die verwirrende Leidenschaft erlischt. Der Rechtssinn ist ohne Zweifel stärker in den Männern als in den Frauen und jene sind bereiter als diese, ihr Recht gegen Jedermann mit Gründen und im Notfall mit den Waffen zu verfechten. Aber an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl stehen die Frauen den Männern nicht nach. Sie ergeben sich eher der übermächtigen Gewalt, aber sie empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb weniger, weil sie sich schwächer fühlen und weniger demselben widerstehen können. Schon in den Kindern zeigt sich diese Anlage der Menschennatur für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein scharfes Auge für die Ungerechtigkeit, der sie in der Familie oder in der Schule ausgesetzt sind und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn sie glauben, parteiisch behandelt zu werden.

Wenn es aber eine unbestreitbare Wahrheit ist, dass der Mensch von Natur ein Rechtswesen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgestattet ist, dann muss auch das Völkerrecht in der Menschennatur seine unzerstörbare Wurzel und seine sichere Begründung haben. Völkerrecht heißt die als rechtlich-notwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen der Staaten zueinander regelt. Die Staaten aber d. h. die organisierten Völker bestehen aus Menschen, und sind selber als einheitliche Gesamtwesen Personen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie die Einzelmenschen. Die Staaten sind wie die Einzelnen einerseits individuelle Wesen für sich und andrerseits Glieder der Menschheit. Dieselbe Menschennatur, und demgemäß auch dieselbe Rechtsnatur, die jedes Volk und jeder Staat in sich hat, die findet er wieder in den anderen Völkern und Staaten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderstehlicher Notwendigkeit. Keines kann sich dieser gemeinsamen Natur entäußern, keines dieselbe in dem anderen Volke verkennen. Deshalb sind sie alle durch ihre gemeinsame Menschennatur verpflichtet, sich wechselseitig als menschliche Rechtswesen zu achten. Das ist die feste und dauerhafte Grundlage alles Völkerrechts. Würde es heute geleugnet und untergehen, so würde es morgen wieder behauptet und neu begründet.

Bedenken gegen das Völkerrecht.

Trotzdem werden heute noch starke Zweifel gegen die Existenz des Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundsätzlichen und die tatsächlichen Bedenken, auf welche sich jene Zweifel stützen, sind in der Tat nicht geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernster Prüfung auf. Man wendet ein, es fehle vorerst an einer beglaubigten Aussprache des Völkerrechts durch das Gesetz, sodann an einem wirksamen Schutze desselben durch die Rechtspflege; und man erinnert daran, dass in dem Streit der Staaten und Völker der Entscheid eher von der siegreichen Gewalt gegeben werde, als von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernstlich von Völkerrecht die Rede sein, ohne ein Völkergesetz, welches das Recht mit Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieses Recht in Rechtsform handhabt, wenn die Macht schließlich allezeit den Ausschlag gibt?

Wir können es nicht leugnen: Diese Bedenken haben ihren Grund in großen Mängeln und schweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch ist der Schluss, dass es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Fassen wir dieselben schärfer ins Auge.

1. Völkerrechtliche Gesetzgebung.

Wir sind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts, des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Gesetzbuch nachzuschlagen und dort die Aufschlüsse über die geltenden Rechtsgrundsätze aufzusuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzusehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgesetzbuch bedroht sei. Die Fundamentalsätze des Staatsrechts sind gewöhnlich in Verfassungsurkunden öffentlich verkündet, und schon finden wir in einzelnen Staaten, wie z. B. in dem Staat New-York, eine Kodifikation auch des öffentlichen Rechts. Aber es gibt kein völkerrechtliches Gesetzbuch und nicht einmal einzelne völkerrechtliche Gesetze, welche die Rechtsgrundsätze mit bindender Autorität aussprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entscheiden sind. Da meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Gesetzen abzuleiten: „Ohne Gesetze kein Recht.“

Indessen sind die Gesetze nur der klarste und wirksamste Ausdruck, aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es eine Zeit, in der sie keine Gesetzbücher und dennoch ein geltendes Recht hatten. In der Jugendperiode auch der Kulturvölker gab es Ehen, Erbrecht der Anverwandten, Eigentum, Forderungen und Schulden ohne Gesetze, welche diese Rechtsverhältnisse ordneten und es wurden die Verbrechen bestraft ohne Strafgesetz. Die in den nationalen Institutionen und in den Volksgebräuchen und Übungen dargestellte Rechtsordnung ist überall älter als die gesetzlich bestimmte. Erst in dem reiferen und selbstbewussteren Lebensalter der Völker unternimmt es der Staat, das Recht in Gesetzbüchern auszusprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge Völkerrecht vorerst ebenfalls in gewissen Einrichtungen, Gebräuchen und Übungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt.

Für das Völkerrecht besteht aber in dieser Hinsicht eine eigentümliche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen Verkündung völkerrechtlicher Gesetze noch so dringend geworden und die geistige Fähigkeit zu solcher Aussprache noch so unzweifelhaft sein, so fehlt es doch an einem anerkannten Gesetzgeber, der das Gesetz erlassen könnte. In jedem einzelnen Staat ist durch die Staatsverfassung für ein Organ des allgemeinen Staatswillens gesorgt, d. h. ein Gesetzgeber anerkannt. Aber wo wäre der Weltgesetzgeber zu finden, dessen Ausspruch alle Staaten und alle Nationen Folge leisteten? Die Einrichtung eines gesetzgebenden Körpers für die Welt, setzt die Organisation der Welt voraus und eben diese besteht nicht.

Vielleicht wird die Zukunft dereinst die erhabene Idee verwirklichen und der gesamten, in Völker und Staaten geteilten Menschheit einen gemeinsamen Rechtskörper schaffen, welcher ihren Gesamtwillen mit allgemein anerkannter Autorität aussprechen wird, wie die Vergangenheit den verschiedenen Nationen in den Staaten eine einheitliche Rechtsgestalt gegeben hat, und wie die Gegenwart wenigstens das Bewusstsein weckt und klärt, nicht bloß, dass die Menschheit in Natur und Bestimmung Ein Gesamtwesen sei, sondern überdem, dass auch in der Menschheit gemeinsame Rechtsgrundsätze zur Geltung kommen müssen. Wird einst jene zukünftige Organisation der Menschheit erfüllt sein, dann freilich wird auch der Gesetzgeber für die Welt nicht mehr fehlen und es wird dann das Weltgesetz die Beziehungen der mancherlei Staaten zueinander und zur Menschheit ebenso klar, einheitlich und wirksam ordnen, wie es das heutige Staatsgesetz tut mit Bezug auf die Verhältnisse der Privatpersonen untereinander und zum Staat.

Mag man aber dieses hohe Endziel für einen schönen Traum der Idealisten halten oder an dessen Erreichung mit Zuversicht glauben, darüber kann kein Streit sein, dass dasselbe zurzeit und noch auf lange hin keineswegs erreichbar sei. Das heutige Völkerrecht entspricht diesem Ideal nicht. Nur langsam und allmählig führt es aus der rohen Barbarei der Gewalt und Willkür zu zivilisierten Rechtszuständen. Es kann höchstens als Übergang dienen aus der unsicheren Rechtsgemeinschaft der Völker zu der endlichen vollbewussten Rechtseinheit der Menschheit. Jeder neue völkerrechtliche Grundsatz, welcher dem gemeinsamen Rechtsbewusstsein der Völker klar gemacht und in dem Verkehrsleben der Völker betätigt wird, ist dann ein Fortschritt auf dem Wege zu jenem Ziel.

Ganz so schlimm, wie es der oberflächlichen Betrachtung erscheint, steht es übrigens nicht. Es fehlt dem heutigen Völkerrecht nicht völlig an gemeinsamer, autoritativer Aussprache seiner Rechtsgrundsätze, die daher einen gesetzesähnlichen Charakter hat. Indem von Zeit zu Zeit große völkerrechtliche Kongresse der zivilisierten Staaten zusammengetreten sind und ihre gemeinsame Rechtsüberzeugung in formulierten Rechtssätzen zu Protokoll erklärt haben, haben sie im Grund dasselbe getan, was der Gesetzgeber tut. Die eigentliche Absicht dabei war nicht, ein Vertragsrecht zu schaffen, welches lediglich die Vertragsparteien und die Unterzeichner des Protokolles binden sollte, sondern allgemeine Rechtsnormen, zunächst freilich nur für die europäische Welt, festzusetzen, welche alle europäischen Staaten zu beachten haben; sie wollten nicht ein Willkürrecht hervorbringen, das ebendeshalb nicht weiter gilt, als jene Willkür Macht hat, sondern ein notwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der Verhältnisse und in den Pflichten der zivilisierten Völker gegen die Menschheit seine eigentliche Begründung hat.

 

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