Die Wissenschaften, Teil 1

Die Wissenschaften, Teil 1 – Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Band 6

 

Die 1914 im Original veröffentliche Reihe “Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. ” gehört zu den umfangreichsten historischen Abhandlungen über die Entwicklung und den Aufbau des Kaiserreiches. Hier in einer Wiederauflage von insgesamt acht Bänden vorliegend, umfasst das Werk auf fast 2000 Gesamtseiten Beiträge der wichtigsten Koryphäen ihrer Zeit zu relevanten Themen. Dies ist Band 6, der unter anderem die zeitgenössische Philosophie, Geschichtsforschung, Philologie, Mathematik und die Naturwissenschaften behandelt.

Die Wissenschaften, Teil 1

Die Wissenschaften, Teil 1.

Format: eBook/Taschenbuch.

Die Wissenschaften, Teil 1.

ISBN eBook: 9783849663193

ISBN Taschenbuch: 9783849665234

 

Auszug aus dem Werk:

 

Philosophie.

Von Prof. Dr. O. Külpe, Bonn.

Vielleicht auf keinem anderen Gebiete der Wissenschaft ist die Änderung des Interesses und der Teilnahme weiter Kreise in den letzten 25 Jahren deutlicher und größer hervorgetreten, als auf dem der Philosophie. Das zeigt sich nicht nur in der wachsenden Zahl derer, die sich ihr zuwenden, nicht nur in dem steigenden Bedürfnis nach philosophischen Schriften und Vorträgen, sondern auch in der Richtung und Haltung der Einzelwissenschaften, deren Vertreter mit Vorliebe den grundlegenden Fragen, den methodologischen Problemen nachgehen und dadurch in nächste Beziehungen zur philosophischen Forschung kommen. Dabei sind es keineswegs bloß die einer strengeren, exakten Behandlung zugänglichen Aufgaben, die das Interesse der Allgemeinheit auf sich ziehen. Welt- und Lebensanschauung, Metaphysik und Ethik finden vielmehr, nachdem der Glaube an ihre Möglichkeit und Wirksamkeit lange unterbunden war, wieder dankbare und eifrige Anhänger und werden auf verschiedenen Wegen gepflegt und bearbeitet.

Rückblick. Klassische Periode.

So darf man heute wieder von einem philosophischen Zeitalter reden. Damit wendet sich von selbst der Blick zu der klassischen Periode vor hundert Jahren zurück, in der die Kunst am Werk war, sich mit einer kongenialen Philosophie zu vermählen und im Bunde mit ihr die lebendigsten und gehaltvollsten Bedürfnisse geistiger Kultur zu befriedigen. Damals waren die Einzelwissenschaften noch unabgeschlossen und für spekulative Ergänzungen durch tiefsinnige Deutung empfänglich. In der Optik konnten noch Goethes unphysikalische Ansichten mit Erfolg der klaren und exakten Lehre Newtons entgegentreten. Die Medizin war ein Tummelplatz von Versuchen und Widersprüchen, so daß Fechner in einer geistreichen Satire den Satz: jedes Mittel heilt alle Krankheiten, und jede Krankheit wird von allen Mitteln geheilt, als die ideale Regel hinstellen konnte, nach deren Erfüllung die Therapie seiner Zeit strebe. Das Interesse der Bildung überwog alle anderen, und diesem Interesse konnte nur durch eine absolute Philosophie vollkommen genügt werden.

Als Kant sein Werk vollbracht hatte, da schien seinen ersten Nachfolgern nur noch die Ergänzung zum System, die tiefere und einheitlichere Begründung seiner Lehren erforderlich zu sein. Es galt den unausgeglichenen Dualismus der Erscheinung und des Dinges an sich, der rohen Erfahrung und des Erkenntnisvermögens, der Sinnlichkeit und des Verstandes, der theoretischen und der praktischen Vernunft zu überwinden. Die letzte Zusammenfassung fehlte dem Ganzen und manchen Stücken seiner Philosophie. Nachdem der vereinheitlichende Abschluß gefunden war, nachdem K. L. Reinhold den Satz des Bewußtseins als Grundlage der transzendentalen Ästhetik und Logik, nachdem F. G. Fichte eine allgemeine Wissenschaftslehre als Grundlage der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft vorangestellt hatten, glaubten sie den Leser ihrer Schriften dort absetzen zu können, wo Kant anhob.

Diese Stimmung hielt freilich nicht lange vor. Kant selbst wehrte sich 1799 in einer geharnischten Erklärung gegen den Anspruch Fichtes, ihn zu unterbauen, obwohl er die Wissenschaftslehre nie gelesen hatte, und Fichte nannte ihn daraufhin einen Dreiviertelskopf und hat die späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre unabhängiger gestaltet. Seine Nachfolger vollends hatten bereits ein ganz anderes Verhältnis zu Kant, indem sie Fichtes Idealismus zu einem objektiven und absoluten auszubauen suchten. Schelling schreibt, Kant lebe der seligen Einbildung, das Zeitalter stehe noch da, wo es gerade vor zehn Jahren gestanden hat, nämlich beim Nachbeten der Kritik, und glaube, die Kritik hätte nicht nur für jetzt, sondern für alle folgenden Zeitalter die Herkulessäulen des Denkens errichtet. Dabei wurde namentlich auch die allzuschmale einzelwissenschaftliche Basis der Kantischen Philosophie verbreitert, indem die empirische Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaften Berücksichtigung fanden. Schon Kant selbst hatte noch in seinen letzten Lebensjahren von seiner Philosophie aus den Übergang zur empirischen Naturlehre herzustellen versucht, ohne über Anläufe und unklare Wendungen hinauszukommen. Hier setzte Schelling mit seiner Naturphilosophie ein, die gerade die Physik, Chemie und Biologie in sich aufzunehmen und zu einem System des sich entwickelnden Universums zu verarbeiten wußte. Dazu trat Hegel mit ausgesprochen historischen und politischen Interessen und mit der Richtung auf den absoluten Geist als letzte und höchste Tendenz des Alls. So entstand eine Philosophie, die im Prinzip als abgeschlossen gelten konnte, ein Inbegriff voll entfalteter Weisheit auf allen Gebieten menschlicher Einsicht, die Krone der Bildung und Kultur jenes von Kriegen zerrütteten und hernach in kleinbürgerliches Stillleben versunkenen Zeitalters. Schon 1801 prophezeit Schelling: es wird fortan nur ein Gegenstand sein, und nur ein Geist, ein Erkennen, ein Wissen dieses Gegenstandes.

Niedergang.

Keine andere philosophische Erscheinung, weder Herbarts vorsichtige und strenge Metaphysik, noch Schopenhauers phantasievoll ausgeführte Weltanschauung, konnte sich damals eine allgemeinere Beachtung erringen. Sie kamen erst auf, als die Auflösung der Hegelschen Schule und der Schiffbruch der absoluten Philosophie an den Methoden und Ergebnissen der Einzelwissenschaften vollendete Tatsachen geworden waren. Aber zu der glänzenden, unbestrittenen Herrschaft über die Geister, wie sie Hegel ausgeübt hatte, haben sie es auch später nicht gebracht, so sehr sich an Herbart die zünftigen und an Schopenhauer die dilettierenden Philosophen anschlossen. Mit dem Bann der absoluten Philosophie schien überhaupt der maßgebende Einfluß aller Philosophie aufgehoben zu sein. Auch Denker wie Fechner und Lotze vermochten nicht gegen den Strom dieser Emanzipation von der Philosophie größere Erfolge zu erkämpfen, obwohl ihre Bedeutung für die Ausbildung einer physiologischen und einer experimentalen Psychologie willig anerkannt wurde. Die Einzelwissenschaften strebten überall nach selbständiger Gestaltung und erblickten in der philosophischen Ergänzungsarbeit günstigsten Falls eine unschuldige Liebhaberei von Leuten, die zu nichts Besserem taugten. Das Wort von der dürren Heide und der grauen Theorie wurde beifällig zitiert, wohl auch vergröbert. Im sicheren Besitze eines unumstößlichen und stetig fortschreitenden Wissens glaubte man selbst die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie bestreiten zu dürfen. Wissenschaft und Philosophie, die im Altertum zusammengefallen waren, klafften jetzt förmlich als Gegensätze auseinander, und ihre Begriffe schienen keine widerspruchslose Synthese mehr eingehen zu können.

Umschwung. Positivismus.

Wenn man nun doch wieder zu einer anderen Auffassung gekommen ist, so hat das verschiedene Gründe. Zunächst war der Positivismus bemüht, sich den Einzelwissenschaften durch ihre Systematisierung, die Pflege ihres Zusammenhangs und die Herausarbeitung ihrer Allgemeinheiten (der généralités scientifiques nach dem Ausdruck Comtes) dienstbar zu erweisen und unentbehrlich zu machen. Damit sicherte er sich einen Anteil an den einzelwissenschaftlichen Untersuchungen, deren Zersplitterung und wechselseitige Entfremdung für einen umfassenderen Fortschritt der Erkenntnis zur Gefahr werden mußte. Comte, John Stuart Mill und Spencer vor allen haben in diesem Sinne das Ansehen der Philosophie wiederhergestellt, freilich nicht, ohne sie selbst zugleich der Hauptsache nach preiszugeben. Wenn die Philosophie nur das System und der allgemeine Teil der Einzelwissenschaften ist, so hat sie aufgehört, neben ihnen besondere Gegenstände und Aufgaben zu behandeln. Daran ändert die Tatsache nichts, daß dieser Positivismus eine neue Wissenschaft, die Soziologie, ins Leben rief und für die Ethik eine neue Grundlage schuf.

Grundlegung der Einzelwissenschaften.

In Deutschland bildete die Kantrenaissance seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts ein selbständigeres philosophisches Seitenstück zu der positivistischen Bewegung. Die Erkenntnistheorie erhielt hier die grundlegende Bedeutung zugestanden, die ihr bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Zu ihr gesellte sich alsbald die Logik, die seit den 70er Jahren eine durchgreifende Neubearbeitung erfuhr, nachdem ihr schon Mill trotz seines positivistischen Bekenntnisses eine selbständige, für alle Wissenschaften maßgebende Form verliehen hatte. So entstand eine Theorie der formalen und materialen Voraussetzungen aller Wissenschaften, die sich bald allgemeiner Anerkennung erfreuen durfte, seit hervorragende Vertreter der Einzelwissenschaften selbst solchen Überlegungen nachgingen und sie dadurch gewissermaßen sanktionierten.

Dabei regte sich rasch das Bedürfnis, die Probleme, die dazu gehörten, noch etwas mehr zu differenzieren. Eine Gegenstandstheorie erhebt seit den 90er Jahren den Anspruch, die für alle Gegenstände des Denkens geltenden Bestimmungen systematisch zu klären und zu entwickeln und eine Ordnungs- und Kategorienlehre auszubauen. B. Erdmanns Aufstellungen über alle Gegenstände des Denkens in seiner Logik, Meinongs und seiner Schüler gegenstandstheoretische Arbeiten, E. von Hartmanns, Cohens und Windelbands Bemühungen um ein System der Kategorien, Rehmkes Philosophie als Grundwissenschaft, Drieschs Ordnungslehre sind hervorragende Beispiele für die Forschung auf diesem Gebiet. An sie beginnen sich eine altgemeine Zeichenlehre oder Semasiologie, eine Theorie der Bedeutungen und Begriffe und eine Lehre von den Objekten und ihren Arten anzuschließen, insofern sich alle Gegenstände in Zeichen, Bedeutungen und Objekte einteilen lassen, wobei die letzteren wieder in die Gegebenheiten oder Wirklichkeiten des Bewußtseins, in die Realitäten der Natur- und Geisteswissenschaften, sowie der Metaphysik, und in die Idealitäten der Idealwissenschaften, wozu namentlich die Mathematik gehört, zerfallen. Bei allen Vorarbeiten, die hier von Husserl, H. Gomperz, A. Marty, C. Stumpf u. a. bereits geleistet worden sind, weisen diese Namen zum großen Teil noch auf unerfüllte Programme und Aufgaben hin, die schon von der Scholastik, von Christian Wolff und von Hegel gesehen und in Angriff genommen waren. Auch gehen Ziele, Methoden und Ergebnisse bei den verschiedenen Forschern noch vielfach auseinander. Aber schon jetzt zeigen alle diese Bestrebungen, daß die Philosophie der letzten 25 Jahre der großen Aufgabe einer Differenzierung der Begriffe, der Gebiete und ihrer Beziehungen erfolgreich und fruchtbar nachkommt. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht ja zu einem guten Teil in genaueren Unterscheidungen, in Beschränkungen der Geltung von Behauptungen und in Analysen anscheinend einheitlicher Gegenstände. Außerdem aber lassen diese Untersuchungen schon jetzt einen gewaltigen und geschlossenen Unterbau erkennen, der den Einzelwissenschaften um so selbständiger gegenübertritt, je mehr er nicht nur die von ihnen wirklich behandelten, sondern auch die überhaupt denkbaren Bestimmungen und Gegenstände in sich aufnimmt.

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