Philosophie der symbolischen Formen, Band 1: Die Sprache

Philosophie der symbolischen Formen, Band 1: Die Sprache – Ernst Cassirer

Ernst Cassirer war ein deutscher Philosoph. Ausgebildet in der neokantianischen Marburger Schule, folgte er zunächst seinem Mentor Hermann Cohen in dem Versuch, eine idealistische Wissenschaftsphilosophie darzustellen. Nach Cohens Tod im Jahr 1918 entwickelte Cassirer eine Theorie des Symbolismus und nutzte sie, um die Phänomenologie des Wissens zu einer allgemeineren Philosophie der Kultur zu erweitern. Cassirer war einer der führenden Verfechter des philosophischen Idealismus im 20. Jahrhundert. Jahrhunderts. Sein berühmtestes Werk ist die “Philosophie der symbolischen Formen” (1923-1929), aus dem hier der erste von drei Bänden, “die Sprache” vorliegt. In der “Philosophie der symbolischen Formen” argumentiert Cassirer, dass der Mensch, während Tiere ihre Welt durch Instinkte und direkte Sinneswahrnehmungen wahrnehmen, sich ein Universum aus symbolischen Bedeutungen erschafft. Cassirer interessiert sich besonders für die natürliche Sprache und den Mythos. Er argumentiert, dass sich Wissenschaft und Mathematik aus der natürlichen Sprache und Religion und Kunst aus dem Mythos entwickelt haben. Der Text dieser Ausgabe folgt der 1923 veröffentlichen Originalausgabe.

Philosophie der symbolischen Formen, Band 1: Die Sprache

Philosophie der symbolischen Formen, Band 1: Die Sprache.

Format: Paperback, eBook

Philosophie der symbolischen Formen, Band 1: Die Sprache.

ISBN: 9783849665432 (Paperback)
ISBN: 9783849662844  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG

I

Der erste Anfangspunkt der philosophischen Spekulation wird durch den Begriff des Seins bezeichnet. In dem Augenblick, da dieser Begriff sich als solcher konstituiert, da gegenüber der Vielfältigkeit und Verschiedenheit des Seienden das Bewußtsein von der Einheit des Seins erwacht, entsteht erst die spezifisch-philosophische Richtung der Weltbetrachtung. Aber noch auf lange Zeit bleibt diese Betrachtung in dem Umkreis des Seienden, den sie zu verlassen und zu überwinden strebt, gebunden. Der Anfang und Ursprung, der letzte „Grund“ alles Seins soll ausgesprochen werden: aber so klar diese Frage gestellt wird, so wenig reicht die Antwort, die für sie gefunden wird, in ihrer besonderen konkreten Bestimmtheit an diese höchste und allgemeinste Fassung des Problems heran. Was als das Wesen, als die Substanz der Welt bezeichnet wird, das greift nicht prinzipiell über sie hinaus, sondern ist nur ein Auszug aus eben dieser Welt selbst. Ein einzelnes, besonderes und beschränktes Seiende wird herausgegriffen, um aus ihm alles andere genetisch abzuleiten und zu „erklären“. Diese Erklärung verharrt demnach, so wechselvoll sie sich inhaltlich auch gestalten mag, ihrer allgemeinen Form nach, doch stets innerhalb derselben methodischen Grenzen. Anfangs ist es ein selbst noch sinnliches Einzeldasein, ein konkreter „Urstoff“, der als letzter Grund für die Gesamtheit der Erscheinungen aufgestellt wird; dann wendet sich die Erklärung ins Ideelle und an Stelle dieses Stoffes tritt bestimmter ein rein gedankliches „Prinzip“ der Ableitung und Begründung heraus. Aber auch dieses steht, näher betrachtet, noch in einer schwebenden Mitte zwischen dem „Physischen“ und „Geistigen“. So sehr es die Farbe des Ideellen trägt, so ist es doch auf der anderen Seite der Welt des Existierenden aufs engste verhaftet. In diesem Sinne bleibt die Zahl der Pythagoreer, bleibt das Atom Demokrits, so groß der Abstand ist, der beide von dem Urstoff der Ionier trennt, ein methodisches Zwitterwesen, das in sich selbst seine eigentliche Natur noch nicht gefunden und sich gleichsam über seine wahre geistige Heimat noch nicht entschieden hat. Diese innere Unsicherheit wird endgültig erst in der Ideenlehre Platons überwunden. Die große systematische und geschichtliche Leistung dieser Lehre besteht darin, daß in ihr die wesentliche geistige Grundvoraussetzung alles philosophischen Begreifens und aller philosophischen Welterklärung zuerst in expliziter Gestalt heraustritt. Was Platon unter dem Namen der „Idee“ sucht, das war auch in den frühesten Erklärungsversuchen, bei den Eleaten, bei den Pythagoreern, bei Demokrit als immanentes Prinzip wirksam; aber bei ihm erst wird sich dieses Prinzip als das, was es ist und bedeutet, bewußt. Platon selbst hat seine philosophische Leistung in diesem Sinne verstanden. In seinen Alterswerken, in denen er sich zur höchsten Klarheit über die logischen Voraussetzungen seiner Lehre erhebt, stellt er eben dies als die entscheidende Differenz hin, die seine Spekulation von der Spekulation der Vorsokratiker trenne: daß bei ihm das Sein, das dort in der Form eines einzelnen Seienden als fester Ausgangspunkt genommen wurde, zum erstenmal als Problem erkannt worden sei. Er fragt nicht mehr schlechthin nach der Gliederung, nach der Verfassung und der Struktur des Seins, sondern nach seinem Begriff und nach der Bedeutung dieses Begriffs. Dieser scharfen Frage und dieser strengen Forderung gegenüber verblassen alle früheren Erklärungsversuche zu bloßen Erzählungen, zu Mythen vom Sein.[1] Über dieser mythisch-kosmologischen Erklärung soll sich jetzt die eigentliche, die dialektische Erklärung erheben, die nicht mehr an seinem bloßen Bestand haftet, sondern die seinen gedanklichen Sinn, seine systematisch-teleologische Fügung sichtbar macht. Und damit erst gewinnt auch das Denken, das in der griechischen Philosophie seit Parmenides als Wechselbegriff des Seins auftritt, seine neue und tiefere Bedeutung. Erst dort, wo das Sein den scharf bestimmten Sinn des Problems erhält, erhält das Denken den scharf bestimmten Sinn und Wert des Prinzips. Es geht jetzt nicht mehr lediglich neben dem Sein einher, es ist kein bloßes Reflektieren „über“ dasselbe, sondern seine eigene innere Form ist es, die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt. –

In der geschichtlichen Entwicklung des Idealismus wiederholt sich sodann auf verschiedenen Stufen der gleiche typische Grundzug. Wo die realistische Weltansicht sich bei irgendeiner letztgegebenen Beschaffenheit der Dinge, als der Grundlage für alles Erkennen, beruhigt – da formt der Idealismus eben diese Beschaffenheit selbst zu einer Frage des Denkens um. Nicht nur in der Geschichte der Philosophie, sondern auch in der der Einzelwissenschaften wird dieser Fortgang erkennbar. Auch hier geht der Weg nicht einzig von den „Tatsachen“ zu den „Gesetzen“ und von diesen wieder zu den „Axiomen“ und „Grundsätzen“ zurück: sondern eben diese Axiome und Grundsätze, die auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis als der letzte und vollständige Ausdruck der Lösung dastehen, müssen auf einer späteren Stufe wieder zum Problem werden. Demnach erscheint das, was die Wissenschaft als ihr „Sein“ und ihren „Gegenstand“ bezeichnet, nicht mehr als ein schlechthin einfacher und unzerleglicher Tatbestand, sondern jede neue Art und jede neue Richtung der Betrachtung schließt an ihm ein neues Moment auf. Der starre Seinsbegriff scheint damit gleichsam in Fluß, in eine allgemeine Bewegung zu geraten – und nur als Ziel, nicht als Anfang dieser Bewegung läßt sich die Einheit des Seins überhaupt noch denken. In dem Maße, als sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen. Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. Es ist insbesondere die mathematisch-physikalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grundmittel am frühesten und am schärfsten bewußt geworden ist[2]. Heinrich Hertz hat in den Vorbetrachtungen, mit denen er seine „Prinzipien der Mechanik“ einleitet, das neue Erkenntnisideal, auf das diese gesamte Entwicklung hinweist, auf den prägnantesten Ausdruck gebracht. Er bezeichnet es als die nächste und wichtigste Aufgabe unserer Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen: – das Verfahren aber, dessen sie sich zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen bediene, bestehe darin, daß wir uns „innere Scheinbilder oder Symbole“ der äußeren Gegenstände machen, die von solcher Art sind, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. „Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden … Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgendeine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht und haben auch kein Mittel, zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung.“[3]

So fährt die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie, auf der Heinrich Hertz fußt, – so fährt die Theorie der „Zeichen“, wie sie zuerst von Helmholtz eingehend entwickelt worden ist, fort, die Sprache der Abbildtheorie der Erkenntnis zu sprechen; – aber der Begriff des „Bildes“ hat nun in sich selbst eine innere Wandlung erfahren. Denn an die Stelle einer irgendwie geforderten inhaltlichen Ähnlichkeit zwischen Bild und Sache ist jetzt ein höchst komplexer logischer Verhältnisausdruck, ist eine allgemeine intellektuelle Bedingung getreten, der die Grundbegriffe der physikalischen Erkenntnis zu genügen haben. Ihr Wert liegt nicht in der Abspiegelung eines gegebenen Daseins, sondern in dem, was sie als Mittel der Erkenntnis leisten, in der Einheit der Erscheinungen, die sie selbst aus sich heraus erst herstellen. Der Zusammenhang der objektiven Gegenstände und die Art ihrer wechselseitigen Abhängigkeit soll im System der physikalischen Begriffe überschaut werden, – aber diese Überschau wird nur möglich, sofern diese Begriffe schon von Anfang an einer bestimmten einheitlichen Blickrichtung der Erkenntnis angehören. Der Gegenstand läßt sich nicht als ein nacktes Ansich unabhängig von den wesentlichen Kategorien der Naturerkenntnis hinstellen, sondern nur in diesen Kategorien, die seine eigene Form erst konstituieren, zur Darstellung bringen. In diesem Sinne werden für Hertz die Grundbegriffe der Mechanik, insbesondere die Begriffe von Masse und Kraft zu „Scheinbildern“, die, wie sie von der Logik der Naturerkenntnis geschaffen sind, auch den allgemeinen Forderungen dieser Logik unterstehen, unter denen die apriorische Forderung der Klarheit, der Widerspruchslosigkeit und der Eindeutigkeit der Beschreibung den ersten Platz einnimmt.

Mit dieser kritischen Einsicht gibt die Wissenschaft freilich die Hoffnung und den Anspruch auf eine „unmittelbare“ Erfassung und Wiedergabe des Wirklichen auf. Sie begreift, daß alle Objektivierung, die sie zu vollziehen vermag, in Wahrheit Vermittlung ist und Vermittlung bleiben muß. Und in dieser Einsicht liegt nun eine weitere und folgenreiche idealistische Konsequenz beschlossen. Wenn die Definition, die Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes immer nur durch das Medium einer eigentümlichen logischen Begriffsstruktur erfolgen kann, so ist die Folgerung nicht abzuweisen, daß einer Verschiedenheit dieser Medien auch eine verschiedene Fügung des Objekts, ein verschiedener Sinn „gegenständlicher“ Zusammenhänge entsprechen muß. Selbst innerhalb des Umkreises der „Natur“ fällt sodann der physikalische Gegenstand nicht schlechthin mit dem chemischen, der chemische nicht schlechthin mit dem biologischen zusammen – weil die physikalische, die chemische, die biologische Erkenntnis je einen besonderen Gesichtspunkt der Fragestellung in sich schließen und die Erscheinungen gemäß diesem Gesichtspunkt einer spezifischen Deutung und Formung unterwerfen. Fast kann es den Anschein haben, als sei durch dieses Resultat der idealistischen Gedankenentwicklung die Erwartung, mit der sie begonnen hatte, endgültig vereitelt. Das Ende dieser Entwicklung scheint ihren Anfang zu negieren – denn wieder droht nun die gesuchte und geforderte Einheit des Seins in eine bloße Mannigfaltigkeit des Seienden auseinanderzugehen. Das Eine Sein, an dem das Denken fest hält und von dem es nicht ablassen zu können scheint, ohne seine eigene Form zu zerstören, zieht sich aus dem Gebiet der Erkenntnis mehr und mehr zurück. Es wird zu einem bloßen X, das, je strenger es seine metaphysische Einheit als „Ding an sich“ behauptet, umsomehr aller Möglichkeit des Erkennens entrückt und schließlich völlig ins Gebiet des Unerkennbaren abgedrängt wird. Diesem starren metaphysischen Absolutum aber steht nun das Reich der Erscheinungen, das eigentliche Gebiet des Wiss- und Kennbaren, in seiner unveräußerlichen Vielheit, in seiner Bedingtheit und Relativität gegenüber. Schärfer betrachtet aber ist freilich eben in dieser schlechthin unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und der Wissensgegenstände die Grundforderung der Einheit nicht als nichtig abgewiesen, sondern sie ist hier vielmehr in einer neuen Form gestellt. Die Einheit des Wissens kann jetzt allerdings nicht mehr dadurch verbürgt und sichergestellt werden, daß es in all seinen Formen auf ein gemeinsames „einfaches“ Objekt bezogen wird, das sich zu diesen Formen wie das transzendente Urbild zu den empirischen Abbildern verhält, – aber statt dessen ergibt sich jetzt die andere Forderung, die verschiedenen methodischen Richtungen des Wissens bei all ihrer anerkannten Eigenart und Selbständigkeit in einem System zu begreifen, dessen einzelne Glieder, gerade in ihrer notwendigen Verschiedenheit, sich wechselseitig bedingen und fordern. Das Postulat einer derartigen rein funktionellen Einheit tritt nunmehr an die Stelle des Postulats der Einheit des Substrats und der Einheit des Ursprungs, von dem der antike Seinsbegriff wesentlich beherrscht wurde. Von hier aus ergibt sich die neue Aufgabe, die der philosophischen Kritik der Erkenntnis gestellt ist. Sie muß den Weg, den die besonderen Wissenschaften im Einzelnen beschreiten, im Ganzen verfolgen und im Ganzen überblicken. Sie muß die Frage stellen, ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderen Disziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfaches Nebeneinander zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungen ein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen lassen. Und wenn diese letztere Voraussetzung sich bewähren sollte, so entsteht weiter die Aufgabe, die allgemeinen Bedingungen dieser Funktion aufzustellen und das Prinzip, von dem sie beherrscht wird, klarzulegen. Statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der absoluten Einheit der Substanz zu fragen, in die alles besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetzt nach einer Regel gefragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht und die sie, ohne sie aufzuheben und zu zerstören, zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sich geschlossenen geistigen Aktion zusammenfaßt. –

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