Allgemeine Staatslehre

Allgemeine Staatslehre – Johann Caspar Bluntschli

Bluntschli hat sich um die Staatswissenschaft in Deutschland unvergängliche Verdienste erworben. Er hat als Schriftsteller und als akademischer Lehrer, sowie in seiner parlamentarischen Tätigkeit auf die Verbreitung der Erkenntnis, des Staates, seiner Einrichtungen und seiner Wirksamkeit einen weitgreifenden, wohltätigen Einfluss geübt. Sein allgemeines Staatsrecht insbesondere war ein Erfolg, wie ihn kein anderes staatswissenschaftliches Werk der früheren Zeit und der Gegenwart aufzuweisen hat. Das bekannteste Buch Bluntschlis, das sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts viele Freunde erworben hat, da es sich wegen seiner Klarheit und Sachlichkeit zu einem Hand – und Lesebuch auch für Laien eignet, erscheint in dieser fünften Auflage in völlig veränderter Gestalt. Der hier vorliegende erste Band behandelt die allgemeine Staatslehre, den Begriff des Staates, seine inneren Grundlagen in der Natur der Menschen und Völker, wie seine äußeren natürlichen Bedingungen. Er betrachtet die Gesetze und Erscheinungen seines Werdens und Vergehens, seinen Zweck und seine Formen, immer mit kurzen historischen Rückblicken, und behandelt endlich das Wesen der Souveränität.

Allgemeine Staatslehre

Allgemeine Staatslehre.

Format: Paperback, eBook

Allgemeine Staatslehre.

ISBN: 9783849665548 (Paperback)
ISBN: 9783849662547 (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

Erstes Kapitel. Die Staatswissenschaft.

Unter Staatswissenschaft im eigentlichen Sinne verstehen wir die Wissenschaft, deren Gegenstand der Staat ist, welche den Staat in seinen Grundlagen, in seinem Wesen, seinen Erscheinungsformen, seiner Entwicklung zu erkennen und zu begreifen sucht.

In diesem Sinne gehören manche Wissenschaften, welche man zuweilen den Staatswissenschaften beizählt, nicht zu diesen, obwohl sie auch eine Beziehung auf den Staat haben und immerhin als Hilfswissenschaft des Staatslebens mit in Betracht kommen, wie insbesondere:

  1. a) nicht die Geschichte einer Nation eines Volkes, insofern dieselbe nicht ausschließlich Staatsgeschichte ist, sondern zugleich die allgemeinen Erlebnisse eines Volkes oder die Tat einzelner Personen darstellt, die Geschichte der Kunst und Wissenschaft, der Wirtschaft und der Sitten, die diplomatischen und politischen Kämpfe, die Kriegsereignisse darstellt;
  2. b) selbst nicht die Statistik, inwiefern sie sich nicht auf die staatlichen Zustände beschränkt, sondern auch die gesellschaftlichen und Privatzustände mit umfasst;
  3. c) ebenso wenig die Nationalökonomie, insofern sie die wirtschaftlichen Gesetze erforscht, welche für jedermann — nicht bloß für den Staat — gelten;
  4. d) noch die Lehre von der Gesellschaft, insofern das Leben der Gesellschaft sich selbständig bewegt, nicht als Staatsleben erscheint.

Die alten Griechen nannten die gesamte Staatswissenschaft Politik. Wir unterscheiden Staatsrecht und Politik sorgfältiger als zwei besondere Wissenschaften, und fügen denselben überdem noch manche besonderen Lehren unter eigenem Namen bei, wie z. B. die staatliche Statistik, das Verwaltungsrecht, das Völkerrecht, die Polizeiwissenschaft u. s. f.

Staatsrecht und Politik betrachten beide den Staat im Großen und Ganzen, aber jede der beiden Wissenschaften betrachtet ihn von einem anderen Standpunkt aus und nach anderer Richtung. Um den Staat gründlicher zu erkennen, zerlegt die Wissenschaft den Staat in die beiden Hauptseiten seines Daseins und Lebens. Sie untersucht die Teile, damit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissenschaftlichen Interesse entspricht das praktische. Die Klarheit, das Maß und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der Reichtum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit, wenn sie in ihrer Eigentümlichkeit geschaut und erwogen wird.

Die Wissenschaft des Staatsrechts betrachtet den Staat in seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie stellt die Organisation des Staates dar und die dauerhaften Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz, die Notwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Staat, wie er ist, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Staatsrecht.

Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Staat in seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie erwägt die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu erlangen sind, sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts auf die Gesamtzustände und überlegt, wie die schädlichen Wirkungen zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden Einrichtungen zu heben sind. Das Staatsleben, die Staatspraxis, das ist die Politik.

Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich mannigfaltig ausspricht. Das Staatsrecht prüft die Rechtmäßigkeit der Zustände, die Politik prüft die Zweckmäßigkeit der Handlung.

Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sittlicher Gehalt. Der Staat ist ein sittliches Wesen und er hat sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht einzelne Kapitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre Grundlage im Staat und ihre Bestimmung für den Staat. Sie sind Staatswissenschaften. Die Sittenlehre aber ist keine Staatswissenschaft, weil ihre Grundgesetze nicht aus dem Staat zu erklären sind, sondern eine breitere Basis in der Menschennatur überhaupt und eine höhere Begründung in der göttlichen Weltordnung und der göttlichen Bestimmung des Menschengeschlechts haben.

Man darf Staatsrecht und Politik nicht absolut voneinander trennen. Der wirkliche Staat lebt; d. h. er ist Verbindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung der Politik will wieder zur Ruhe kommen. Es gibt nicht bloß ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte; und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall, wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unterschied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechtsgeschichte unterscheidet sich gerade dadurch von der politischen Geschichte, dass jene sich darauf beschränkt, den Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des Staates nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen, diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise der politischen Personen, die Taten und Leiden beider legt, und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und reinste Ausdruck des Staatsrechts ist das Gesetz (die Verfassung), die klarste und lebendigste Äußerung der Politik ist die praktische Leitung des Staates selbst (die Regierung). Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Erstarrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zerstörungswut untergehen.

Lediglich Gründe der Klarheit und Vereinfachung bestimmen uns, den beiden Staatslehren Staatsrecht und Politik noch als dritte, oder vielmehr erste Abteilung der Staatswissenschaft die Allgemeine Staatslehre vorauszuschicken. Wir betrachten hier noch den Staat im Ganzen, ohne vorerst die beiden Seiten in ihm, die unterlägliche des Rechts und die eigenschaftliche der Politik zu unterscheiden. Der Staatsbegriff, seine Grundlagen und Bestandteile (Volk und Land), seine Entstehung, sein Zweck, die Hauptformen seiner Verfassung, der Begriff und die Gliederung der Staatsgewalt, bilden den Inhalt der allgemeinen Staatslehre, welche hinwieder den beiden besonderen Staatswissenschaften, dem Staatsrecht und der Politik, zu Grunde liegt.

In diesem Sinn soll der erste Teil dieses Werks der allgemeinen Staatslehre, der zweite dem Staatsrecht und der dritte der Politik gewidmet sein.

 

Zweites Kapitel. Wissenschaftliche Methoden.

Die wissenschaftliche Betrachtung des Staats kann von verschiedenem Standpunkt aus und in verschiedener Weise unternommen werden. Wir unterscheiden zwei innerlich begründete Methoden der wissenschaftlichen Untersuchung und zwei falsche fehlerhafte Methoden, welche als einseitige Abarten der ersten beiden Arten erscheinen. Wir bezeichnen als richtige Methoden die philosophische und die historische Methode. Die Abarten entstehen aus der extremen Übertreibung je der einen vorherrschenden Seite jener ersteren Methoden; aus der philosophischen ist so die bloß abstrakt-ideologische, aus der historischen die einseitig-empirische wie aus dem Urbild das Zerrbild durch Verderbnis hervorgegangen.

Der Gegensatz der Methoden schließt sich an teils an die Eigenschaften sowohl des Rechtes als der Politik, teils an die Verschiedenheit der geistigen Anlagen derer, welche in dieser Wissenschaft gearbeitet haben.

Alles Recht und alle Politik nämlich hat eine ideale Seite, einen sittlichen und geistigen Gehalt in sich, aber beide ruhen zugleich auf einem realen Boden, und haben auch eine leibliche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite ist von der abstrakten Ideologie verkannt und übersehen worden. Sie pflegt sich ein abgezogenes Staatsprinzip auszudenken, und daraus eine Reihe logischer Folgerungen zu ziehen, ohne Rücksicht auf den wirklichen Staat und dessen reale Verhältnisse. Selbst Platon ist in seiner Republik in diesen Fehler verfallen und daher zu Sätzen gekommen, welche der Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu widersprechen. Indessen war Platon doch durch den Reichtum seines Geistes und seinen Sinn für die Schönheit der Form vor der armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben, welche uns in den Staatslehren der neueren so häufig begegnen. Der Staat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht ein Produkt der bloßen kalten Logik, und das Recht des Staates ist nicht eine Sammlung spekulativer Sätze.

Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Untersuchung betrieben wird, leicht zu unfruchtbaren Resultaten; wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten Geltendmachung fixer Ideen und zur Auflösung und Zerstörung des bestehenden Staats. In Zeiten der Revolution, wo die losgebundenen Leidenschaften sich umso lieber solcher abstrakten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hilfe die Schranken des Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben, erhalten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht, und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen, mit dämonischer Gewalt alles vor sich nieder. Die Französische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu sagen: „Die Metaphysiker, die Ideologen haben Frankreich zu Grunde gerichtet.“ Die ideologische Auffassung der „Freiheit und Gleichheit“ hat Frankreich mit Ruinen gefüllt und mit Blut getränkt, die doktrinäre Ausbeutung des „monarchischen Prinzips“ hat die politische Freiheit Deutschlands niedergedrückt und seine Machtentwicklung gehemmt, und die abstrakte Durchführung des Nationalitätengrundsatzes hat dem Frieden von ganz Europa bedroht. Die fruchtbarsten und wahrsten Ideen werden verderblich, wenn ideologisch erfasst und dann mit dem Fanatismus der Borniertheit verwirklicht werden.

Der entgegengesetzten Einseitigkeit macht sich die ausschließlich empirische Methode schuldig, indem sie sich bloß an vorhandene äußerliche Form, an den Buchstaben des Gesetzes oder an die tatsächlichen Erscheinungen hält. Diese Methode, welche in der Wissenschaft höchstens durch ihre Sammelwerke einen Wert hat, in denen sie großen Stoff anhäuft, findet in dem Staatsleben häufig, zumal unter bürokratisch gebildeten Beamten, zahlreichen Anhang. Sie gefährdet dann zwar selten unmittelbar die ganze Staatsordnung, wie die ideologischen Gegenfüßler, aber sie setzt sich wie ein Rost an das blanke Schwert der Gerechtigkeit an, umstrickt die öffentliche Wohlfahrt mit Hemmnissen aller Art, verursacht eine Menge kleiner Schäden, entnervt die sittliche Kraft und schwächt die Gesundheit des Staates dergestalt, dass um ihretwillen in kritischen Zeiten seine Rettung überaus erschwert, zuweilen unmöglich gemacht wird. Führt die bloß ideologische Methode, wenn sie praktisch wird, den Staat eher in fieberhafte Stimmungen und Krisen hinein, so hat diese bloß empirische Methode unter derselben Voraussetzung eher chronische Uebel zur Folge.

Die historische Methode unterscheidet sich von der letzteren vorteilhaft dadurch, dass sie nicht bloß das gerade vorhandene Gesetz oder vorhandenen Tatsachen gedankenlos und knechtisch verehrt, sondern den inneren Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die organische Entwicklung des Volkslebens und die in der Geschichte offenbar gewordene sittliche Idee erkennt, nachweist und beleuchtet. Sie geht zwar zunächst von der realen Erscheinung aus, aber sie fasst diese als eine lebendige auf, nicht als eine tote.

Verwandt mit ihr ist die wahrhaft philosophische Methode welche nicht bloß abstrakt spekuliert, sondern konkret denkt und eben darum Idee und Realität verbindet. Während jene ihrer Betrachtung die geschichtliche Erscheinung und Entwicklung zu Grunde legt, geht diese zunächst von der Erkenntnis der menschlichen Seele aus, und betrachtet von da aus die in Geschichte geoffenbarten Äußerungen des menschlichen Geistes.

 

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