Das Russland des 19. Jahrhunderts

Das Russland des 19. Jahrhunderts – Ernst von der Brüggen

Der deutsch-baltische Autor von der Brüggen fasst in diesem Werk, 1902 unter dem Originaltitel “Das heutige Rußland” erschienen, die Entwicklung Russlands im 19. Jahrhundert zusammen. Er zeigt das äußere Wachstum auf, beleuchtet Finanzen und Industrie, den Adel und die Bauern, Kirche und Moral, Verfassung und Bürokratie und vieles mehr.

Das Russland des 19. Jahrhunderts

Das Russland des 19. Jahrhunderts.

Format: Paperback, eBook

Das Russland des 19. Jahrhunderts.

ISBN: 9783849666101 (Paperback)
ISBN: 9783849662134 (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

ERSTES KAPITEL. ÄUßERES WACHSTUM

Vor Zeiten war Russland in mehr denn 70 Kleinstaaten zersplittert. Es war vielleicht die glücklichste Zeit, die es erlebt hat. Aber schon am Schluss des 16. Jahrhunderts hatte Moskau fast alle die Teilfürstentümer zertrümmert. Ein Jahrhundert weiter, und Peter I. verwandelte das asiatisch-kulturlose Großfürstentum Moskau in ein halbeuropäisches Kaisertum Russland. Ein ungeheures Reich, hervorgegangen aus äußeren Kämpfen mit Schweden und der Türkei, wie das neue Deutschland aus den österreichischen und französischen Kriegen. Und doch, wie ganz anders im Innern als dieses! Ohne eigene Kultur, trat es von Haus aus der europäischen Kulturwelt mit dem Anspruch der äußeren Gleichberechtigung gegenüber, in so heilloser Verwirrung und Ermattung Peter es zurückgelassen hatte, er hatte doch wenigstens die Absicht, die Kräfte des Volkes kulturlich zu entwickeln und er versuchte an hundert Stellen es aus dem Schlummer zu reißen. Seine Nachfolger ließen Begonnenes verfallen und taten für die Entwicklung des Volkes fast nichts. In hundert Jahren wurde nicht geschaffen, was Friedrich Wilhelm I. für Preußen schaffte. Auch Katharina hat für das Wohl ihres Volkes nur wenig geleistet. Seit Peter wurde in Verwaltung und Gesetzgebung experimentiert, hier etwas eingeführt, da etwas abgeschafft, launenhaft, ohne Ausdauer, meist ohne Verständnis. Hundert Jahre nach dem ersten Auftreten des großen Reformators war Russland eine gewaltige europäische Macht, aber im Innern war es nur wenig weiter gekommen auf dem Wege materiellen und geistigen Wachstums. Schein und wieder Schein nach außen, im Innern aber das alte Elend, die Bettelarmut, die Bestechung, die Unwissenheit, die äussere Kirchlichkeit, die Willkür der Beamten. Erreicht hatte man nur drei Dinge: einen glänzenden Hof, ein großes Kriegsheer und die Durchführung der Unfreiheit aller Volksklassen.

Diese drei Dinge waren nötig, um die Rolle der Großmacht spielen zu können, auf die seit Peter alles politische Streben hinging. Ein glänzender Hof, um das neue Kaisertum zu illustrieren, ein großes Heer, um zu erobern und in Europa Gewicht zu haben, die Dienstpflicht des Adels, die Fesselung des Städters an die die Stadt, die Leibeigenschaft des Bauers — alles nur zur Stärkung der staatlichen Gewalt, nur um Beamte, Soldaten, Geld zu haben. Für diese Ziele des Ruhmes, der äußeren Macht wurden die vorhandenen schwachen Volkskräfte nie geschont

Es sind zwei Jahrhunderte gewaltiger äußerer Erfolge, fortgesetzter räumlicher Ausdehnung. Man hat über das Anwachsen Russlands folgende Berechnung aufgestellt:

Der tägliche Zuwachs an Bodenfläche betrug: vom Jahre 1500 bis 1900 130 Quadratmeilen oder ca. 6380 qkm, vom Jahre 1676 (Tod Alexeis, des Vaters Peters I) bis 1876 90 Quadratmeilen oder ca. 4410 qkm.; von der Thronbesteigung Katharinas II, 1762, bis zur Thronbesteigung Alexanders II, 1856, 80 Quadratmeilen oder ca. 3920 qkm. Berechnet man nun weiter den Ländererwerb von der Thronbesteigung Alexanders II. bis zur Thronbesteigung Nikolaus II. im Jahre 1894, in welchem Jahre Russland 22 400000 qkm umfasst, so stellen sich als täglicher Zuwachs ca.438qkm heraus, wobei indessen zu berücksichtigen ist, dass in dieser Periode das amerikanische Gebiet Russlands mit 17500 Quadratmeilen oder 857500 qkm an die Vereinigten Staaten verkauft worden ist. Das Wachstum hat also allmählich an Geschwindigkeit wohl abgenommen, ist aber doch noch so bedeutend, dass wenn Deutschland Tag aus Tag ein seine Grenzen — nicht einbegriffen die überseeischen Kolonien — um 438 qkm erweiterte, man bald nicht mehr wissen würde, wohin man mit dem Reichtum sollte. Alle sechs Monate etwa ein Landzuwachs von der Größe Bayerns, alle Jahre 160 000 qkm Vergrößerung des Reiches — dafür reichte unsere staatliche und kulturliche Verdauungskraft schwerlich aus, so landhungrig wir auch trotz aller Kolonien noch sind und für lange bleiben werden. Auch Russland hat diese Landmenge bis in die neuere Zeit, bis vor etwa 40 Jahren, nicht verdaut — kulturlich verarbeitet, sondern bloß staatlich verschluckt, und wenn das Wachstum seit 50 Jahren an Geschwindigkeit abgenommen hat, so ist es doch noch keineswegs abgeschlossen, wie die neuesten Vorgänge im Amurgebiet und in der Mandschurei zeigen.

Hat dieses Wachstum Russlands nun dem russischen Volk, dem Steuern zahlenden Russen, zum Wohl gereicht? Denn zuletzt hat doch alle Staatskunst nur das eine Ziel: dem Wohl des Volkes zu dienen, und alle politische Entwicklung nur den Sinn, dass sie dem Volke zugutekomme, von dessen Kräften sie getragen wurde. Zwar, Waffenruhm und Herrschermacht gehören auch zu den Gütern, die ein kriegerisches, ein ehrgeiziges Volk hochhält. Je roher ein Volk ist, umso höher schätzt es gemeiniglich diese Dinge, soweit sie aus der Betätigung der eigenen rohen Kraft hervorgehen. Zur Zeit der Völkerwanderung galt Kriegsruhm bei den meisten Völkern für das höchste Gut; die Hunnen Attilas, die Mongolen Dschingis-Khans rechneten ohne Zweifel es ihren Herrschern als höchste Tat an, zu immer neuen Kämpfen geführt zu werden, weite Länder zu erobern und zu beherrschen. Allein wir urteilen heute nicht aus der Denkweise von Hunnen und Mongolen heraus, sondern als Glieder von Kulturvölkern. Wir sind nicht unempfindlich für Kriegsruhm und Herrschaft, aber wir schätzen sie nicht mehr an sich, als Selbstzweck, sondern nur insoweit, als sie mit Kulturzwecken verbunden sind, als sie die Mittel liefern, um uns materiell, geistig, sittlich zu reifen, zu stärken. Nicht bloß äußerer Ruhm und Macht gehören zum Volkswohl, sondern auch alles das, was die Kraft gibt, sie im Sinne friedlicher innerer Kultur und Zivilisation zu behaupten, und die Fähigkeit, sie dem wirklichen Wohl des Volkes nutzbar zu machen. Ja, Krieg und Eroberung sind soweit im Werte gesunken, dass sie heute als Übel gelten, die nur im äußersten Notfall oder um großer Kulturzwecke willen hingenommen werden. Dies ist wenigstens die Richtung, in der das Bewusstsein der Kulturvölker Europas gegenwärtig schreitet.

Sind etwa Kriegslust und Herrschsucht nationale Eigenschaften des russischen Volkes? Wenn man die Vergangenheit daraufhin prüft, wird man diese Frage schwerlich bejahen können. Als die Normannen ihre Herrschaft aufrichteten, begegneten sie einem angesichts ihrer geringen Kriegerzahl auffallend schwachen Widerstand gerade bei den slawischen Stämmen. Türkische und mongolische Völker, wie Polowzer, Petschenegen, Chasaren, machten ihnen weit mehr zu schaffen. Ebenso schwach war der Widerstand gegen die im 13. Jahrhundert einbrechenden Mongolen. Kriegerisch und herrschsüchtig waren nicht die slawischen Völker, wohl aber die normannischen Teilfürsten, auch dann, als nur der Fürst von Moskau als Machthaber nachgeblieben war. Mit dem Aussterben dieser Moskauer normannischen Dynastie ließen Kriegslust und Eroberungslust nach, denn die polnischen Kämpfe des 17. Jahrhunderts gingen von Polen, nicht von Moskau aus. Erst Peter griff wieder zum erobernden Schwert aus eigenem Antrieb, und auch nach ihm kam der Anstoß zu den häufigen Kriegen nicht vom Volk, sondern von dem Ehrgeiz, der Habsucht einzelner Großen und von dem Bedürfnis der Herrscher fremden Blutes, dem Thron Glanz zu verleihen.

Im Volke fand schon Peter eine sehr starke und deutliche Abneigung gegen seine erobernde Politik. Was der Prinz Alexei und die altrussische Partei, an deren Spitze er stand, wollten, war ausdrücklich Verzicht auf Krieg und Eroberung; das neue Russland hassten sie, sie wollten die eroberten Länder wieder den früheren Besitzern zurückgeben, wollten das Kaisertum vernichten, um das alte Großfürstentum mit asiatischer Ruhe und Sitte wieder herzustellen. Alexei und viele andere büßten dafür mit dem Tode, aber der Gedanke, dem sie gelebt hatten, starb nicht mit ihnen, sondern tauchte immer wieder auf, in abgeschwächter Form zwar, aber im Grunde doch stets als derselbe: der Gedanke, sich von Europa wieder abzuwenden, in Moskau das alte nationale Behagen sich wieder zu schaffen, ohne Herrschaft über europäische fremde Länder, ohne Kriege und mit weniger Steuern. Dahin waren die Wünsche der GOLIZYN und DOLGORUKI unter Peter II, unter Anna gerichtet Der Versuch, Annas Alleinherrschaft zu beschränken, war im Grunde auf dasselbe Ziel gerichtet, das die Partei Alexeis im Auge gehabt hatte; eben das Gleiche hoffte man durch die Erhebung Elisabeths auf den Thron zu erringen. Und ohne allen Zweifel waren diese von den angesehensten Geschlechtern des Landes verfolgten Ziele durchaus volkstümlich. Die große Masse der leitenden Stände wollte mit der ehrgeizigen Politik Peters und seiner Schüler, den Ostermann, Münnich, Bfstuschew brechen, wollte weder gegen Türken, noch Perser, noch Schweden noch Preußen kämpfen und wäre hundert Jahre nach Peters Auftreten noch bereit gewesen, Petersburg selbst aufzugeben und aller Einmischung in europäische Händel zu entsagen. National russisch war diese Moskauer Partei — nicht Peter noch seine Nachfolger, und man darf noch heute zweifeln, ob das Recht, ob die politische Vernunft auf Seiten der Petriner und nicht vielmehr bei deren Gegnern war. Denn die Erfolge der petrinischen Politik entsprechen nicht den Opfern, die das russische Volk für sie bringen musste. Nach hundert Jahren der Siege, Eroberungen, des Ruhmes war der Zustand, in dem Adel, Geistlichkeit und Bauer lebten, nicht besser, sondern elender als vorher.

Das haben damals einsichtige Männer erkannt und ihre warnenden Stimmen vernehmen lassen. Ein Elsässer schrieb zur Zeit Katharinas II. folgendes: „Vor allem muss Russland den Krieg vermeiden.“ „Niemals wird Russland die Früchte von Peters Bemühungen ernten, nie die Waagschale des Handels auf seine Seite bringen, nie aufgeklärt und blühend werden, bis es der Eroberungssucht entsagt hat“ Selten wohl hat ein Prophet richtiger prophezeit, als dieser Elsässer. Und nicht lange nach ihm schrieb der Minister PANIN in einem Memorial vom Jahre 1801: „La guerre la plus heureuse ne peut que l’affaiblir et augmenter les embarras de son gouvernement, en disséminant des forces, qui depuis les dernières acquisitions ne sont plus proportionnées à l’étendue des limites.“ PANIN aber war einer der scharßichtigsten und patriotischsten Staatsmänner, die Russland hervorgebracht hat Und auch zu seiner Zeit war man nur am Zarenhofe und in seiner Umgebung kriegerisch und ruhmbedürftig; außerhalb Petersburgs und vollends in der Masse des Volkes sehnte man sich eher danach, von Europa nichts zu hören noch zu sehen, von den endlosen Rekrutierungen befreit zu werden. Wie konnte es auch anders sein, da 40 Kriegsjahre das Land in unglaubliche innere Unordnung und völlige Verarmung gestürzt hatten, als die „göttliche“ Katharina starb. Und als Paul die richtige Folgerung daraus zog, dass aller Politik der Eroberung fortan zu entsagen sei, da erfolgte in Wirklichkeit wie ein schlechter Scherz das andere, dass er zu einem Kriege gegen England schritt, um als Großmeister der Malteser die Insel Malta zu erlangen, was denn doch auch nicht zu den wichtigen russischen Interessen gehörte. Kaum war Paul verschwunden, so kam die Leitung der äußeren Politik in die Hände erst des friedliebenden PANIN, dann des Fürsten KOTSCHUBEI, der ebenso entschlossen war, die äußeren Dinge ruhen zu lassen, um alle Sorge der inneren Entwicklung zuzuwenden. Und wieder kommt es ganz anders: Russlands Heere durchziehen ganz Europa. Menschen und Millionen versinken in den Abgrund der äußeren Politik, und das Herzogtum Warschau wird erobert. Viel Ehre und künftige böse Sorge! Am Schluss seines Lebens, im Jahre 1824, musste Alexander selbst bekennen: „Ruhm und Ehre haben wir genug gehabt; aber wenn ich bedenke, wie wenig im Innern des Reiches geschehen ist, so legt sich mir dieser Gedanke aufs Herz wie ein Gewicht von 10 Pud.“ Und doch hatte Alexander wenigstens seinen SPERANSKI gehabt. Wenig später warnte der Nationalökonom Fr. List Russland vor allzu großer Ausdehnung seiner Grenzen und vor dem Streben nach politischem Einfluss auf die europäischen Angelegenheiten. Es hat also an Männern nicht gefehlt, welche die Gefahren erkannten, die auf dem seit Peter betretenen Wege für Russland lagen. Unter Alexander I. hatten sich Gruppen in der Menge der Beamten und Offiziere gebildet, die nach freieren Staatsformen strebten; allein das Streben wurzelte weniger in der praktischen Erkenntnis der eigenen Mängel als in der theoretischen Bewunderung der in Europa während der Kriegsjahre wahrgenommenen Dinge und Lehren. Im Volk, in der Masse fühlte man die Last der Kriege schwer, ertrug sie aber geduldiger als man gleiche Lasten früher ertragen hatte. Denn in Anschauung und Stimmung des russischen Volkes wurde durch die napoleonische Invasion eine Änderung hervorgerufen. Der Brand von Moskau im Jahre 1812 weckte ähnliche Kampflust wie die Einäscherung Moskaus in der Tatarenzeit: gegen Tataren, wie gegen Franzosen erhob sich ein wirklicher, aus der Seele des Volkes emporflammender Kampfeszorn, der, wie immer in solchen Kriegen roher Völker, einen religiösen Charakter annahm. Diese napoleonischen Kriege waren die ersten volkstümlichen Kriege seit der Erhebung gegen die polnische Herrschaft zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Sie waren oder schienen doch dem Volk aufgedrungen, und es erhob sich zur Abwehr. Nicht Kriegslust, noch Eroberungslust entflammten es. Keiner der endlosen Kriege des 18. Jahrhunderts, in die das Volk hineingetrieben wurde, hat eine solche Wirkung auf den Russen gehabt, wie der Feldzug gegen Napoleon bis nach Paris hin. Indem er „die Gallier und die 20 mit ihnen verbündeten Völker“ über die Grenze fliehen sah, mochte er die Empfindung haben, als triebe er nun endlich all die verhassten Fremden, das ganze seit Peter auf ihm lastende fremde Wesen zum Lande hinaus. Bis heute wird alljährlich einmal am Weihnachtstag in den Kirchen ein Dankgebet gehalten für die Vertreibung der napoleonischen Scharen; aber dem niederen Volk erschienen diese Scharen nicht als ein französisches Heer, sondern mehr als die Gesamtheit der Fremden, dieser seit mehr als 200 Jahren so aufdringlichen Europäer. „Unchristen“ waren auch sie, wie die Tataren und Türken, die Erbfeinde von Volk und Kirche.

 

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