Der Freiheitssucher – John Henry Mackay.
In diesem Band entwirft Mackay, ein bekennender und führender Anarchist seiner Zeit, das Konzept einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der das Individuum sein Leben komplett frei bestimmt.
Format: eBook
Der Freiheitssucher.
ISBN eBook: 9783849656386.
Auszug aus dem Text:
In seiner weissen Liege lag das Kind.
Es schlief.
Die kleinen Hände ruhten geballt auf der Decke, und sein Atem ging stetig.
Es war um die dritte Stunde des Nachmittags, der müden Stunde des Tages, und die Fenster des Zimmers waren tief verhüllt.
Draußen aber schlich die glühende Sonne an den Wänden der Häuser hin und suchte nach Einlaß.
Sie fand einen winzigen Spalt, klemmte sich durch und lief nun wie eine schmale, durchsichtige Staubwand durch das Zimmer und über die Wiege hin.
Wie sie stieg und stieg, rückte auch der helle Streifen auf der Decke höher und höher. Er glitt über die kleinen Fäuste, über den rosigen Hals, den halboffenen Mund und traf endlich die geschlossenen Lider des Kindes.
Da erwachte es, geblendet von dem plötzlichen Licht. Es erschrak und begann zu weinen – erst leise und kläglich, dann lauter und lauter in seiner Hilflosigkeit.
Aber niemand hörte es, so laut es auch schrie, denn sie wußten es hier gutverwahrt für eine Weile …
Und der Sonnenstrahl stieg höher und höher, spielte ein wenig mit den seidenen, goldenen Haaren, rann über die Kissen und begann seine Wanderung die Zimmerwand hinauf.
Das Zimmer lag wieder in tiefem Dunkel, wie vorher.
Noch immer schrie das Kind, geängstigt und ungeduldig. Dann – wie beruhigt durch sein eigenes Weinen – schlief es wieder ein. Es war wieder still in dem kühlen Gemach. – Oft noch sollte es so weinen, dieses Kind, in dem Leben, das es kaum begonnen: einsam und ungehört.
Aber immer sollte es ihm auch beschieden sein: in sich selbst seinen Trost und seine letzte Beruhigung zu finden.
Das Kind ungleicher Eltern, in einer Ehe, die auf der einen Seite in später Leidenschaft, auf der anderen ohne Neigung geschlossen war, wurde es in den Jahren geboren, als nach dem blutigen Kriege zweier aufeinandergehetzter Völker in dem Jubelschrei der Sieger die Todesschreie der Hingeopferten verklangen, und erhielt, in den Schoß einer christlichen Gemeinschaft aufgenommen, den Namen Ernst Förster (einen einfachen und guten Namen für den einfachen Menschen, der ihn tragen sollte). –
Sehr ungleicher Eltern: der Vater Gerichtspräsident in einer mittelgroßen Stadt des südlichen Deutschlands, Beamter in guter Bestallung, streberisch im Engen und eng in seinem Streben, äußerlich der korrekte Ehrenmann, innerlich ein beschränkter Aktenmensch, der nie gewagt, oder auch nie daran gedacht hätte, eine andere Anschauung als die von oben her vorgeschriebene und gebilligte zu haben – ein Typus; die Mutter die einzige Tochter eines hervorragenden und durch seine wissenschaftlichen Arbeiten weit über die Kreise seines heimischen Wirkens hinaus bekannten, aber in täglichen Dingen wenig praktischen und unbekümmert dahinlebenden Arztes, von dem sie nach dem frühen Tode ihrer Mutter eine freie und vorurteilslose Erziehung erhalten hatte, die sie zu dem frischen und unbekümmerten Menschen machte, der sie war – eine Persönlichkeit.
Der Präsident, ein hoher Vierziger, Witwer und Vater erwachsener Kinder, lernte das junge Mädchen während eines Sommerurlaubes kennen, verliebte sich, hielt an und wurde schlankweg abgewiesen. Zum erstenmal in seinem Leben vielleicht empfindlich in seiner Eitelkeit verletzt, reizte es ihn, wie alle brutalen Menschen, seinen Willen durchzusetzen. Er kam wieder und wieder: als Patient, der nicht abgewiesen werden durfte; dann als guter Bekannter, der geduldet werden mußte.
Ein Zufall kam seinen Absichten zu Hilfe: der plötzliche und unerwartete Tod des Arztes. Er wiederholte seinen Antrag. Alleinstehend, fast ohne Mittel, jeder Fürsorge und Liebe mit ihrem Vater beraubt, nahm das junge Mädchen ihn diesmal an, fast ohne zu wissen, was sie tat.
Es war auf ihrer Seite eine verhängnisvolle Unüberlegtheit; von seiner Seite aus eine unschöne Überrumpelung.
Sie nannte diese Ehe später das Unglück ihres Lebens; er – wenn auch nur sich gegenüber – nannte sie die einzige, große Dummheit des seinen.
Die Ehe wurde, wie sie in diesen Kreisen, wo nur mit Worten geschlagen wird, werden mußte.
Sie war auf seiten des Mannes ein nie endender Groll: eine ständig in ihrem Machtbewußtsein verletzte Eitelkeit, die jede freie Betätigung des anderen schon als eine Auflehnung betrachtete; eine nicht endende Unzufriedenheit darüber, einen grade gewachsenen Menschen nicht biegen zu können; und ein geheimer, uneingestandener Neid auf Interessen feinerer und höherer Art, die zu teilen ihm versagt und denen mit Spott allein nicht beizukommen war …
Sie war auf seiten der Frau ein aufreibender und ermüdender Kampf, sich aus dem Zwiespalt mit einer ihr innerlich völlig fremden Umgebung die Heiterkeit des Gemütes, die Freiheit der Seele und die Selbständigkeit ihrer Anschauungen, ihrer Entschlüsse und ihrer Handlungen zu retten – jene Güter, die sie gelehrt worden war, als die wertvollsten, als die einzig wertvollen des Lebens zu betrachten.
Die Geburt des Kindes, statt die Eheleute einander näher zu bringen, trennte sie völlig. Sie fühlte, daß es jetzt nicht mehr den Kampf um sich allein, sondern auch den um ihr Kind galt, und zog hieraus neue Kraft zu diesem Kampfe; er sah, daß ihm ein neuer Feind erwachsen war.
Eines Tages verließ sie mit dem Kinde, das eben seine ersten Worte sprach, schweigend und abschiedlos das Haus.
Er drohte, sie mit Gewalt zurückholen zu lassen. Aber er tat es nicht. Er fürchtete den Skandal: die “öffentliche Meinung”. So blieb sie – der die Meinung einer Welt, in der sie nie begehrt hatte, zu leben, und in der sie sich nur unglücklich gefühlt hatte, gleichgültig war –die Siegerin.
Sie “ging in die Schweiz, um ihre angegriffene Gesundheit zu kräftigen”; ihn “banden leider seine beruflichen Pflichten an die Stätte seines Wirkens”.
Eine Scheidung erfolgte nicht; sie wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, ihr Kind zu verlieren.
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