Der jungfräuliche Mann

Der jungfräuliche Mann – Marcel Prévost

Ein Sittenbild aus der französischen Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts. Der in Paris geborene und verstorbene französische Schriftsteller schrieb nicht nur einige erfolgreiche Romane, sondern war auch Dramatiker.

Der jungfräuliche Mann

Der jungfräuliche Mann.

Format: eBook

Der jungfräuliche Mann.

ISBN eBook: 9783849656881.

 

Auszug aus dem Text:

Wie weit liegt das alles zurück, dessen ich jetzt gedenken und wohin ich Dich mitnehmen muß! Aber einige Worte werden genügen, Dir wenigstens die örtlichen Umstände deutlich zu machen. Ich schreibe Dir an dem alten Eichentisch mit den gedrehten Füßen in dem Zimmer, das wir immer »das Bureau« genannt haben. Damals hast Du meinen Vater in diesem Raum gesehen, angezogen wie einen Bauer, Mütze auf dem Kopf, Pfeife zwischen den Zähnen, wie er an diesem Tisch mit wütenden Augen die Abrechnungen seiner Pächter prüfte und zerpflückte. Vieles hat sich in unserm Hause La Gatère geändert; es hat sich Stück um Stück modernisiert. Aber dieses Bureau habe ich unberührt gelassen, wie ich’s vom Ahn überkam: den Gewehrschrank, die drei Gestelle mit landwirtschaftlichen Büchern und dem Lexikon, die lithographierten Rennbilder von Alfred de Dreux, die imitierte Ledertapete, den Lehnstuhl mit den Ohrenklappen (das Grün und das Rot seiner Handstickerei ist ein unnennbares Bräunlich geworden), die Glyzine vorm Fenster, die von oben her das Tageslicht frißt, aber einen so schönen Lilaton ins Zimmer bringt, wenn die Sonne voll darauf scheint … Du hast das zuerst bemerkt, und wir andern sagten es Dir nach; denn Vater, Mutter und ich, bevor ich unter Deinen Einfluß kam, wir waren nichts weniger als künstlerisch oder sonst empfindsam für schöne Eindrücke.

Nichts also hat sich da geändert. Bis auf eines: die Petroleumlampe, deren sich mein Vater bediente, hat einer elektrischen Ampel Platz gemacht, unter deren opalisierendem Glase, dessen gelbliches Rund auf das Papier fällt, ich sitze und schreibe. Ich selber habe mit Hilfe meines kleinen Dieners Cyrill die elektrische Beleuchtung im Hause gelegt, und sie funktioniert sehr gut. Ich war damit beschäftigt, mit Cyrill eine Zentralheizung einzurichten, als die Ereignisse mich hierin unterbrachen … In solche handwerkliche Tätigkeiten, für die ich ein gewisses Geschick besitze, habe ich mich in Stunden moralischer Krisen geflüchtet, um nicht denken zu müssen. Da hat man nur mit Kabeln, mit Litzen, mit Löcherbohren zu tun und fällt des Abends, von Müdigkeit gebrochen, ins Bett zu einem tiefen Schlaf von acht Stunden.

Aber zuweilen ist das Denken stärker. Und anstatt daß es sich von der Hände Arbeit aufhalten läßt, hält es sie auf.

Außer dem Licht bin ich es, der sich geändert hat. Nicht der Körperfülle nach, wenn ich auch wie Du die Fünfzig ziemlich überschritten habe. Natürlich bin ich nicht mehr der Hervé von der juristischen Fakultät, der Student … Erinnerst Du Dich der kleinen Wäscherin aus Toulouse und ihres »Herrgott nein, ist er hübsch, der braune Kerl!« … Will ich den Unterschied zwischen meinen neunzehn Jahren damals in Toulouse und meinen heutigen Jahren messen, brauch’ ich mich nur neben meinen Sohn Arnal vor den Spiegel zu stellen. Nach langer Abwesenheit lebt Arnal jetzt hier im Schloß seit sechs Monaten. Er ist dreißig. Er ist mein »jüngeres Ich«, ein bißchen kleiner, aber immerhin einen Meter zweiundsiebzig; hat den gleichen bräunlichen Teint, dieselben regelmäßigen Züge. Seine Augen sind größer, ein bläuliches Braun. Sein Mund hat bessere Linien, nicht diese häßliche Schwellung, die meine Oberlippe rechts verunstaltet. Aber ohne Anmaßung glaube ich, ich war in seinem Alter hübscher. Die Leute hier sagen nicht »der schöne Arnal«, wie sie einst sagten »der schöne Hervé«. Sie sagen: »Herr Arnal ist gut gewachsen und hat ein nettes Gesicht.« Was nicht hindert, daß ich beim Vergleich im Spiegel feststelle, was der schöne Hervé verloren hat. Die Haare halten ja noch, sind eisengrau und hart wie die unseres Terriers Muche. Arnals zurückgekämmte Haare sind sicher weniger dicht. Aber mein Gesicht ist dicker geworden, die Figur auch. Seit meinem Sturz vom Pferde 1904, der mir das linke Knie ausgerenkt hat, hinke ich zwar nicht, aber ich trainiere doch weit weniger, gehe wenig zu Fuß, gar nicht auf die Jagd. Begnüge mich mit meinem kleinen Zehnpferder, den ich auf den schlimmsten Waldwegen selbst steuere.

Also der schöne Hervé hat den Jahren seinen Tribut bezahlt, während sein Sohn den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht hat.

Was nicht hindert, daß meine Neunundfünfzig lebendiger, heißer und alles in allem jünger sind als seine Dreißig. Ich werde Dir das noch zu erklären versuchen. Wenn ich nämlich jetzt schon von Arnal spräche, brächte ich meine ganze Geschichte durcheinander und würde mich nicht mehr herausfinden.

Ganz unverändert und gerade um das alte Haus und seinen Herrn herum blieb die Landschaft, die Du, wild wie sie war und blieb, ja so sehr liebtest. Da kam nicht Feld, nicht Siedlung. Die Städte vergrößern sich, verschönern sich oder verfallen; auf bestellbarem Boden gedeiht die Rebe oder verkommt, wechselt Weide mit Ackerland; aber wo nichts ist als armseliges hartes Gras und braunes oder schwarzes Gestein, da bleibt die Natur unverändert. Das ist der Fall bei diesem breiten und tiefen felsigen Bruche, den der Wildbach Cayrou so bizarr in eine fruchtbare Hochebene reißt, so daß man um La Gatère, mitten im lachenden Albret, durch ein Stück des schwarzen Périgord zu kommen glaubt.

Wir haben das miteinander genossen, diesen Gegensatz eines unfruchtbaren und wilden Winkels zu der Üppigkeit seiner Umgebung. Zu diesem Winkel zieht es mich immer, wenn ich in Gedanken mit Dir beisammen sein will, mit Dir sprechen, Dir zuhören. Mit Dir   nicht wie Du jetzt bist in der Heiligkeit Deines Amtes, sondern wie Du als Schüler warst, der Zukunft unsicher wie ich und voll wirrer Leidenschaften. Ohne uns zu kennen, haben wir uns doch gleich erkannt, damals im Hof des kleinen protestantischen Pensionates von Montauban! Ich kam aus England, wo ich, der Tradition unserer Familie folgend, ein Jahr im College von Salisbury verbracht hatte: die erste Schulpause brachte uns einander nah, und wir trennten uns nicht mehr. In den großen Ferien verließest Du für einen ganzen Monat Deine alte Mama, um mich in La Gatère zu besuchen … Es kommt mir vor, als hätten dieser und spätere gemeinsame Ferienmonate mehr leibliches und seelisches Leben enthalten als mein ganzes übriges Leben. Unermüdlich war damals unser Körper und unser Geist. Wir fuhren auf dem Hochrad, von dem man so hart fällt. Wir ritten die kleinen Landklepper lahm, die das Stück dreihundert Franken kosteten. Aber ganz besonders wanderten wir nicht endende Wege, schweigend oder so von Gedanken bedrängt, daß wir beide gleichzeitig sprachen. Kamen wir durch ein Dorf, schauten mir die Mädchen, die Weiber nach. Du bemerktest das, Dein Gesicht bekam einen strengen Ernst, und mir wurde unbehaglich vor Deinem Gesicht. Alle beide dachten wir damals an die Frau, aber jeder auf seine eigene Weise: Du fromm und tugendhaft, wie an eine Gefahr; ich ohne wahre Frömmigkeit, an die Religion nur gebunden durch ererbten Stolz, nicht durch den Glauben,  wie an eine köstliche, noch nicht zugängliche Eroberung … Die Einführung in die Liebe erfolgte für mich sehr frühzeitig; eine Freundin meiner Eltern gab sich dazu her, und ich machte Dich sofort zum Vertrauten in dieser Sache.

… Ich sehe noch, wie Du bleich wurdest, verwirrt, fast traurig. Mit welch ängstlicher Neugierde Du mich ausfragtest! Meine lustige Ruhe reizte Dich … »Du bist ein abscheulicher Sünder!« sagtest Du … »Und nicht einmal das Bewußtsein einer Sünde hast Du! Hast Du denn nicht auch nur für eine Minute Gewissensbisse?« Und ich war ganz ehrlich in meiner Antwort, daß ganz im Gegenteil mein sittliches Gleichgewicht nach diesem Sturz sich plötzlich wie von selber herstellte, während ich vor ihm nervös, unruhig und geplagt von unbefriedigten Begierden gewesen war … So war es auch in der Folge, besonders damals, als wir in Toulouse uns auf das Lizentiat vorbereiteten. Du auf das philosophische, ich auf das juristische. Je lebendiger meine Verliebtheit war, um so leistungsfähiger wurde auch mein Geist, um so besser studierte ich, um so glücklicher liefen die Examina ab … Währenddem wurde Deine lange Silhouette immer magerer durch Selbstkasteiung, und ich erriet, daß auch Dir das Ewig-Weibliche nicht gleichgültig war.

Um unsere Jünglingsgemeinschaft noch besser wiederaufstehen zu lassen, bevor ich Dir von neuem mein Herz ausschütte, will ich Dich an eine einzigartige Szene erinnern: sie spielte sich nur ein paar Monate vor unserer endgültigen Trennung ab. Trotz ihrer fast nackten Einfachheit zählt sie zu den stärksten Erinnerungen meines Lebens.

Es war gegen das Ende unserer Lizentiatenzeit. Du warst für vier Pfingstfeiertage nach La Gatère herübergekommen. Vater und Mutter lebten noch: sie dem Aussehn nach noch sehr jung, er schon schwerfällig, aufgedunsen, verkalkt. Es waren Tage lebhaftesten Gespräches über das Leben und seinen Sinn, über Gott, die Hölle, die Frauen, die Liebe … Wir nannten das anmaßend »Ideenaustausch« … An einem dieser nicht endenden Maiabende kamen wir zu Fuß über die Höhe von Le Lot nach La Gatère zurück. Ich war hinter meinem Hund her, der einer Spur nach in die Eichen gelaufen war. Als ich mit dem Tier zu Dir zurückkam, standest Du wie gebannt, die Augen dorthin gerichtet, wo eben die Sonne unterging. Ich mußte Dich an der Schulter berühren, damit Du wieder zu Dir kämest. Da sagtest Du: »Ich habe meine Zukunft gesehen. Ich werde ein Diener des göttlichen Meisters werden. Ich werde fern von Dir leben. Eine Frau wird mich lieben. Ich werde Kinder haben.«

Du warfst Dich mir in die Arme, und wir küßten uns. Dann gingen wir ins Haus, sprachen kein Wort mehr. Ich war geängstet. Egoistisch dachte ich: »Und ich? Was wird aus mir? Dasselbe wie mein Vater? Wie mein Großvater? Die Erde Frucht und Wert tragen lassen und gleichzeitig sie beschimpfen? Jagen? Essen und mächtig trinken? Bald sein Weib vernachlässigen, um mit den Pächterinnen schön zu tun? Die Aussicht auf eine solche Zukunft drehte mir den Magen um … Aber da tauchte vor mir das Bild eines jungen Mädchens auf, das ich übermorgen wiedersehen würde, wie sie mich ängstlich voll Verlangen am Bahnsteig in Toulouse erwartete. Das war sichere Beruhigung, wenigstens für den Augenblick, Erlösung von den quälenden Aussichten auf die Zukunft.

Schon gab ich diesem mysteriösen Trunk einen Namen: das weibliche Opium.

….

 

 

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