Der lange Balthasar

Der lange Balthasar – Jakob Christoph Heer

Eine Schweizer Dorfgeschichte. Obwohl Heers Werke weitgehend als Heimatromane bezeichnet werden dürfen, übt er darin auch immer wieder Kritik am damals schon grassierenden Tourismus in seiner Schweizer Heimat.

Der lange Balthasar

Der lange Balthasar.

Format: eBook

Der lange Balthasar.

ISBN eBook: 9783849655822.

 

 

Auszug aus dem Text:

 

An der Anhöhe über dem Dorf Haldenegg steht an der Straße, die ins Bergland führt, das große, holzgeschindelte Bauernhaus “zum Freihof”, früher als vortreffliches Gasthaus weit bekannt. Mit vielen klaren Fenstern und einer Holzgalerie, auf der in der schönen Jahreszeit rotblühende Geranienstöcke nicken, schaut es unter einem breiten Dach hervor sonnig und behäbig in die Landschaft, bis auf ein fernes Stück Bodensee.

Vor dem Haus saß eine Gesellschaft junger Stickerinnen, die sich bei Gertrud, der Tochter des Freihöflers, freundschaftlich zusammengefunden hatten. Sie trugen die für den Werktag übliche Halbtracht des Berglandes, den dunklen, in kleinen Vierecken gemusterten Rock, das mit silbernen Röschen geschmückte Mieder, den gestreiften, blühweißen Brusteinsatz, im Haar den Silberpfeil. Eifrig ließen sie die blitzenden Nadeln durch den in runde Rahmen gespannten Musselin fahren. Den Blumen, die sie stickten, wuchsen die Blätter, den Vögeln die Flügel. Lange Zeit hörte man nur den Ruf eines Finken, der seinen Jubel aus den noch unbelaubten Zweigen eines Apfelbaumes in den schönen Tag sang.

Es war linder März. Am Himmel zogen die Silberschiffe der Frühlingswolken, und auf der großen Wiese blühten die ersten Schlüsselblumen und die stahlblauen Enzianen.

Da schritt auf der Straße der Senne Hanstöni heran, der im Herbst, Winter und Frühling in Haldenegg, im Sommer auf den Alpen die Käserei betrieb und nun wohl von Einkäufen in den höher gelegenen Dörfern kam.

Als der junge Mann im Lederkäppchen, roter Weste, messingbeschlagenen Leibgurt und mit einer Blume hinter dem Ohr die Mädchen erblickte, rief er fröhlich: “Grüß Gott alle zusammen! Sind die Mieder und Flügelschappen auf Ostern bereitet?”

“Grüß Gott, Hanstöni!” erwiderten die Mädchen wie aus einem Mund.

Gertrud, die Tochter des Freihöflers, hob den blonden Kopf von ihrer Arbeit. “Weiß Gott, das drängt nicht, es sind ja noch volle vierzehn Tage bis Ostern. –Und wenn der Rechte kommt,” fügte sie lachend hinzu, “so haben wir Mieder und Kopfflügel bald gerüstet!” Die weißen Zähne blitzten ihr aus dem roten Mund, und der Mutwille spielte ihr über das frische Gesicht.

“Ja die Mädchen sind gar wohlfeil hierzuland,” spottete der etwa dreißigjährige, kraftgedrungene Senne.

Die Stickerinnen aber lachten: “Nach Eurem Beispiel würde man’s nicht glauben! Ihr seid doch immer noch ledig.”

Sie kicherten, und eine Weile spann sich das Kreuzfeuer der Schelmereien hin und her.

Da wandte Hanstöni das Gespräch: “Habt ihr die Neuigkeit von Röbi Heidegger gehört? Kommt er wohl auf Ostern heim, um uns seinen Schmiß zu zeigen?”

“Darüber erwarten wir von ihm Tag um Tag einen Brief,” erwiderte Gertrud, leicht errötend. “Mit gutem Gewissen wird er nicht kommen. Mein Vater ist zornig und hat das Donnerwetter für ihn schon im Sack!”

“Nun, mit oder ohne Schmiß findet er doch eine Frau,” neckte der Senne, “jede von euch könnt’ er haben. Aber dort kommt ja das Vieruhrbrot. Gott gesegn’ es euch allen zusammen!”

Er lüpfte das Käppchen, stieß einen Juchschrei aus und schritt die Straße bergab in den weiten, offenen Talgrund, in dem zwei Bäche zu einem größeren Wasser zusammenschäumen und malerisch verstreut drei hübsche Dörfer liegen: Haldenegg, Buchen und Büchlisberg.

Von ihren rotbehelmten Türmen klangen die Vieruhrglocken.

Vree, die ältliche Wirtschafterin des Freihofs, eine Base Gertruds, deckte den Stickerinnen unter dem Apfelbaum den Tisch. Bald tafelte das Sechsblatt bei Kaffee, Brot, Butter und Honig und sprach von Hanstöni, dem Schelmen, dem das Salz lustiger Redensarten nie ausging.

Gritli Geißmann, die Pfarrerstochter, unterbrach das lose Gespräch mit der ernsten Frage: “Ist’s wohl wirklich wahr, daß sich Röbi aus reinem Mutwillen von einem anderen Studenten das Gesicht hat zerhauen lassen? Ich könnt’s von ihm nicht fassen. Doch muß etwas mit Röbi los sein. Seine Großmutter kam zornig und böse ins Pfarrhaus und hatte eine lange Unterredung mit meinem Vater.”

Ihr Wort sollte gleichgültig klingen, durch ihre Stimme aber spürte man die Sorge, die rehbraunen, glänzenden Augen verrieten die innere Unruhe, und das Stück Brot bebte ihr zwischen den feinen Fingern.

“Ja eben, der Tunichtgut!” schmollte Gertrud, während sie die Butter im Kreise herumreichte. “Vorgestern traf Anwalt Eberli aus Buchen Röbi in der Stadt. Der Fürsprecher brachte dem Vater die Nachricht, unser Student trage eine schwarze Binde quer über die Nase und die linke Wange, und es werde ihm von dem Schmiß lebenslang eine Narbe bleiben.”

“Lebenslang!” stieß Gritli hervor. “Und er hat ein so sauberes, freies Gesicht gehabt!”

Das unterdrückte Lachen der anderen schreckte sie auf. Sie wurde rot, wie eine, die sich verraten fühlt.

Jede aus dem Kranz wußte, daß des Pfarrers Gritli von Kindheit an tief, doch hoffnungslos in Röbi verliebt war, die Neigung des Studenten dagegen derjenigen Gertrud Freihofers begegnete.

“Röbi hatte natürlich den Fürsprecher ersucht, daß er ihn vor meinem Vater verteidige,” nahm Gertrud wieder das Wort. “Das hat Eberli auch mit vielen Reden von Studentenbräuchen getan, aber der Vater, der ja Röbis ehemaliger Vormund ist, hat über das Vorkommnis doch furchtbar gewettert. Studentenehre hin oder her! Für Röbi, den künftigen Schweizer Rechtsgelehrten, bleibe der Schmiß eine Schande sein Leben lang.”

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