Deutsche Fahrten – Reise- und Kulturbilder aus Anhalt und Thüringen

Deutsche Fahrten – Reise- und Kulturbilder aus Anhalt und Thüringen – Karl Emil Franzos

Im ersten Band seiner Reise- und Kulturbilder beschreibt der Schriftsteller Franzos seine Eindrücke aus den Fahrten durch die Ländereien Anhalts und Thüringens seiner Zeit.

Deutsche Fahrten - Reise- und Kulturbilder aus Anhalt und Thüringen

Deutsche Fahrten – Reise- und Kulturbilder aus Anhalt und Thüringen.

Format: eBook

Deutsche Fahrten – Reise- und Kulturbilder aus Anhalt und Thüringen.

ISBN eBook: 9783849655426.

 

 

Auszug aus dem Text:

Alljährlich, wenn die Tage länger und heißer werden, faßt mich ein Gefühl, aus brennender Sehnsucht und behaglicher Neugier gemischt, das mich nie verläßt; es folgt mir bis in den tiefsten Traum. Wer ein Landkind ist wie ich, sehnt sich sein Leben lang, kaum daß der Winter vorbei ist, nach grünen, rauschenden Bäumen, nach Kühle und Stille, und hat er den höchst nervenstärkenden Beruf, Schriftsteller und Redakteur zu sein, so rüttelt ihn dies Sehnen in der qualmenden Stadt endlich wie ein Fieber. Aber tröstlich mischt sich in diese Qual die fröhliche Neugier: Wohin nun eigentlich? Mein Plan bei meinen Erholungsreisen ist immer, keinen zu haben. Als ich noch jung war und das Recht meiner Jahre auf Torheit redlich benützte, bin ich nach genau demselben Plan vier Jahre lang von Land zu Land gefahren, immer bereit, zu bleiben oder zu gehen, wie mein ungestümes Herz wollte. Das ist nun über zwanzig Jahre her; ich bin zahm und seßhaft geworden, trage die Fron täglicher Pflichten und mache auch sehr verständige Pflichtreisen mit Rundreisekarte und auf Tag und Stunde vorgeschriebenem Plan, o ja! wenn’s sein muß. Aber im Sommer muß es nicht sein; da darf ich’s treiben wie in den jungen Tagen. Ich mache mir keinen Plan, dessen Knecht ich dann bin, nehme mir nichts vor und versäume daher nichts, weiß am Morgen nie, wo ich am Abend sein werde, und lasse mich vom Augenblick tragen wie der Fisch von der Welle. Darüber werden die klugen, zielbewußten Leute, die acht Monate an dem Plan ihrer vierwöchigen Reise arbeiten, sicherlich lächeln, und mit Recht – aber, du lieber Himmel, das ganze bißchen Leben und Lebensglück vergeht uns ja in der klugen Jagd nach bestimmten Zielen – sollte man da nicht mindestens in seinem Vergnügen töricht sein dürfen? Auch ist es eine sehr angenehme Torheit: wenn ich so, nachdem der Koffer gepackt ist, die Landkarte vor mir ausbreite und mein Blick über die bunten Linien schweift, dann ergreift mich ein Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann, das mir um keine Weisheit der Welt feil wäre: da liegt die schöne Erde selbst vor mir ausgebreitet; die Flüsse rauschen, die Wälder flüstern, die Seen blinken zu mir empor, und die Wahrzeichen der Städte heben grüßend ihr Haupt – und dies alles ist mein; ich werde davon sehen und genießen dürfen, was mir beliebt… Und weil schließlich alles schön ist, für das Auge fast und in der Erinnerung gar ganz gleich schön, darum weiß ich, wenn ich abreise, höchstens die Himmelsrichtung, und auch die nur, weil es des Bahnhofs wegen sein muß.

Diesmal also wollte ich nach Westen, zunächst nach Frankfurt und dann in die Schweiz oder weiß Gott wohin, und mit diesem Gedanken ging ich vorgestern abend zu Bette, fröhlich wie ein Schneidergesell, der sich auf den morgigen Sonntag freut. Aber war’s die Hitze oder die Freude, ich konnte nicht schlafen und holte daher aus der Handtasche eines der Bücher heraus, die ich mir als Reisebegleiter gewählt hatte: Goethes Briefe an Frau von Stein. Und da fiel mein Auge auf die Briefstelle aus Wörlitz, 14. Mai 1778: »Hier ist’s jetzt unendlich schön… Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der elysäischen Felder; in der sachten Mannigfaltigkeit fließt eins ins andere; keine Höhe zieht das Auge und das Verlangen an einen einzigen Punkt; man streicht herum, ohne zu fragen, wo man ausgegangen ist und hinkommt…«

Wörlitz? Und so schön ist’s dort? Wo ist Wörlitz? Offenbar bei Dessau; Goethe war ja dort der Gast des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau. Aber das ist ja so nahe bei Berlin; das kann man von Berlin aus haben. Nein, morgen bis Frankfurt. Und mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Anders gestern morgen, als ich zum Bahnhof Zoologischer Garten fuhr. Freilich, dachte ich, ist Wörlitz nahe bei Berlin und schön und eigentümlich wie manches andere, wie zum Beispiel der Spreewald, den du noch nicht kennst, eben weil du immer denkst: Also nächstens! Mit Wörlitz soll’s dir nicht so gehen. Und ich nahm meine Karte nur bis Güterglück.

Mit mir fuhr ein junges Ehepaar, das ich von irgendeinem Diner her kannte; es wollte nach Rippoldsau und malte mir die Reize des dortigen Kurhotels enthusiastisch aus. »Das teuerste Haus in Deutschland!« rief er begeistert. »Und diese Toiletten!« flüsterte sie. »Mindestens dreimal täglich muß man sich umkleiden!« Nun wieder er: »Kein Mann unter fünfzig Mille Einkommen!« Dann klagten beide über ihre Nerven; darum wollten sie von Rippoldsau nach St. Moritz und schließlich nach Scheveningen. O der Blick, mit dem sie mich maßen, als ich ihnen sagte, daß ich zunächst nur nach Wörlitz wollte! Und mit solchen Leuten kommt man bei Berliner Diners zusammen, dachten sie. Ich auch.

In Güterglück – wie sich nur der seltsame, freundliche Name erklären mag? – mußte ich über eine Stunde auf den Magdeburg-Leipziger Zug warten, der mich nach Dessau bringen sollte, und das war keine verlorene Zeit. Denn ich bin dadurch zu zwei stillbehaglichen Tagen in einer hübschen alten Stadt gekommen, an der ich sonst gewiß, gleich den meisten, vorbeigefahren wäre. Das aber kam so.

Als ich in der Bahnhofswirtschaft mein Bier trank, tat neben mir ein dicker alter Mann das gleiche; jeder Zoll ein Schlächtermeister, dachte ich im stillen, und richtig fragte er die Wirtin, ob sie Brägenwurst gebrauchen könne, »echte Zerbster Brägenwurst mit Zwiebeln«. Sie lehnte ab, und das verdroß ihn. »Den Magdeburgern, den Leipzigern«, sagte er mir, »läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn sie von Zerbster Brägenwurst hören, und in Güterglück mag man sie nicht! Was soll man dazu sagen?!« Da ich auch nicht wußte, was man dazu sagen sollte, so schwieg ich. »Haben Sie schon unsere Wurst gegessen?« fragte er weiter. »Ich erinnere mich nicht«, sagte ich schüchtern. »Die Wurst vergißt man nicht!« rief er. »Schon wegen der Zwiebeln. Dann haben Sie vielleicht gar auch noch kein Zerbster Bitterbier getrunken?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie kennen ja die besten Sachen nicht«, sagte er mitleidig, »fahren Sie nach Zerbst und tun Sie sich’s an! Die schönste Stadt! Und morgen ist auch Königs-Vogelschießen auf der Schützenwiese.« – »Was gibt’s denn sonst dort zu sehen?« – »Ein Kriegerdenkmal haben wir und die Butterjungfer aus Gold und eine Pferdebahn und alte Sachen. Und dann ist ja doch von uns die große Kathrin her, die sich dann mit mindestens dreißig Männern nacheinander hat trauen lassen. Im Schloß sind Bilder von ihr und ihre Wiege und so Zeugs.« – »Welche Kathrin?« Aber da fiel’s mir bei: richtig, Katharina II. war ja eine Prinzeß von Anhalt-Zerbst! Brägenwurst und Bitterbier, Vogelschießen, Pferdebahn und Kriegerdenkmal hätten mich kalt gelassen, und was die goldene Butterjungfer sein sollte, wußte ich nicht, aber die Andenken an die große Kaiserin lockten mich, und um keinen Preis hätte ich den eifrigen und ohnehin gekränkten Lokalpatrioten darüber aufklären mögen, daß es zwar mit den mindestens dreißig Männern seine Richtigkeit hatte, aber mit den Trauungen nicht. Noch ein Blick in den Baedeker, und als ich dort las: »… noch von Mauern, Türmen und Graben umgeben«, da sagte ich: »Ich will hin.« Der Schlächtermeister lächelte mit Mund und Backen und allen vier Unterkinnen. »So ist’s recht! Ich selbst muß nach Magdeburg, aber meine Würste treffen Sie überall!… Was sind Sie denn?« – »Schriftsteller.« – »Also beim Gericht«, sagte er (er hatte offenbar von Schriftsätzen gehört). »Dann gehen Sie zu Schulzen gegenüber der Nikolaikirche, hinter dem Rathaus.« Ihm pfiff sein Zug nach Magdeburg, ich aber stieg eine halbe Stunde später in Zerbst aus.

Die Wahrheit zu sagen, der Anfang war nicht ermutigend. Außer mir stieg niemand aus, und als ich aus dem Bahnhof trat, lag in der prallen Sonnenglut ein von grünen Büschen umrahmter kleiner Platz vor mir; in der Ferne tauchten hinter dem Buschwerk Häuser auf, und etwas näher, in einer Ecke des Platzes, stand ein kleiner Pferdebahnwagen mit einem Roß davor, das melancholisch in der grausamen Hitze Schwanz und Ohren hängen ließ. Aber ein Kutscher war weit und breit nicht zu sehen. Minute um Minute verstrich, rings kein Laut, nur heiße, brütende Stille. Das war ja nun allerdings eine Sehenswürdigkeit, diese Pferdebahn.

Aber dann kam Leben in die Sache. Aus der Bahnhofswirtschaft trat der Kutscher, wischte sich den Mund und fragte: »Machen Sie vielleicht mit hinein? Dann geht’s los!« Er schaffte mein Gepäck in den Wagen, und nun ging’s wirklich los, aber sachte; ohne jede Übereilung rollten wir der Stadt zu. Zunächst breite, gerade Straßen mit kleinen, modernen, freundlichen Villenhäusern; dann jenseit eines kleinen Brückleins, unter dem ein Bächlein dahinschlich, eine hohe, graue Mauer. Aber sieh – jählings, als wär’s nicht mehr dieselbe Stadt, rücken nun die Häuser enger zusammen, daß das Wägelchen fast den ganzen kleinen Raum zwischen den Bürgersteigen einnimmt, und diese Häuser sind alte heimelige Giebelhäuser, und die Leute rechts und links bleiben stehen und gucken neugierig den Fremden an. Nun gar ein Prachtstück: ein uralter, riesiger, freistehender Glockenturm, dann immer stattlichere Häuser aus dem 16., höchstens 17. Jahrhundert. Endlich aber als Schönstes der Marktplatz: das prächtige, dreigiebelige Rathaus mit der Rolandsäule davor, aber auch sonst fast jedes Haus mit einem Wahrzeichen geschmückt und selbst ein stattliches, wohlerhaltenes Wahrzeichen deutscher Baukunst. »Ja«, sagte der Kutscher stolz, »unser Markt!« Dann begann er sachte mein Gepäck auf das glühende Pflaster abzuladen; flachshaarige Buben und Mädel schlichen neugierig herbei; einige von ihnen teilten sich in mein Gepäck, und hinter ihnen her wandelte ich langsam über den schönen Platz meinem Gasthof zu. Es lohnt sich zuweilen, dachte ich im stillen, wenn man unterwegs mit alten Schlächtermeistern redet; aber warum bedurfte es erst dieses Zufalls? Seltsam, diese Stadt und dieser Verkehr!

Das war gestern mittag mein erster Eindruck, und heute nachmittags wo ich aus meiner kühlen Stube in dem wohnlichen alten Hause den schönen Platz nochmals übersehe und mich all des Behaglichen und Sehenswerten erinnere, das mir dieser Aufenthalt gebracht hat, kann ich auch nur ähnliches sagen. Ich weiß ja nun: es gibt in Zerbst große Pferde- und andere Märkte, und im Frühling und Herbst kommen die Herren Kommis mit den neuen Mustern und den alten Anekdoten, auch sollen sich die Guts- und Fabrikbesitzer der Nachbarschaft hier oft gütlich tun. Und nicht immer ist’s so heiß, daß zur Pferdebahn der Kutscher fehlt. Kurz, ich will meine Erfahrung nicht verallgemeinern, aber warum kommen so wenige nur ihres Pläsiers wegen?

Ja warum? Zerbst ist kein blendendes, bewunderungswürdiges Schaustück, aber in seiner stillen Art ein guter, alter, anheimelnder Raritätenkasten, und auch derlei hat sonst viele Freunde. Hier fehlen sie, weil – aber das weiß ich eben nicht. Freilich, die Notiz im Baedeker ist knapp, und die Stadt hat es noch zu keinem eigenen Führerchen samt Stadtplan gebracht, deren es sonst heute in jedem Nest gibt, aber daran allein kann es nicht liegen. Ich glaube, es ist eben Schicksalssache mit den Städten wie mit den Büchern. Der Ruhm ist nie unverdient, wohl aber zuweilen die Verschollenheit. Was besprochen wird, kennt man, und was man kennt, wird besprochen, und wie sich Erfolg und Reklame verketten, hat noch niemand ergrübelt. Deshalb leben sie doch in der Stille fort, die guten Bücher und die guten Städte.

…..

 

 

Dieser Beitrag wurde unter F, Franzos-Karl Emil, Meisterwerke der Literatur veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.