Die sieben Worte Christi am Kreuz – Johann Friedrich Arndt
Der 1881 in Berlin verstorbene Johann Friedrich Arndt war ein deutscher evangelischer Prediger. In diesem Werk bietet der als einer der besten Prediger des 19. Jahrhunderts geltende Geistliche sieben Predigten, nebst einer Karfreitagspredigt, die sich allesamt thematisch mit der Kreuzigung Jesu Christi befassen.
Format: Paperback, eBook
Die sieben Worte Christi am Kreuz.
ISBN: 9783849666293 (Paperback)
ISBN: 9783849661861 (eBook)
Auszug aus dem Text:
Christ, Du Lamm Gottes, der Du trägst die Sünde der Welt, erbarme Dich unser, erbarme Dich unser und gib uns Deinen Frieden! Amen.
Text: Luc. XXIII. V. 33, 34.
Und als sie kamen an die Stätte, die da heißet Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.
„Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn; denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und geschmäht und verspeit werden, und sie werden ihn geißeln und töten“ – so lautet die Verkündigung der Leiden des Herrn im heutigen Sonntagsevangelium (Luc. 18, 31-33), und mit dieser Verkündigung treten wir in die Passionszeit dieses Jahres ein; wir stellen uns unter Jesu Kreuz; wir sind Augenzeugen seiner bitteren Leiden; wir hören seine letzten Worte; wir lernen, wie man selig sterben kann. Lasst uns aus dem unermesslichen Reichtum christlicher Betrachtungen, welchen die heute anbrechende große und heilige Zeit uns eröffnet, dieses Jahr eine besondere Seite herausheben und an dieselbe unsere Erbauungen anknüpfen. Wie die Passionszeit sieben Sonntage hat: so spricht Jesus am Kreuze sieben inhaltschwere Worte. Lasst uns für jeden Sonntag eins dieser seiner letzten Worte zum Gegenstande unserer andächtigen Erwägungen machen. Sie sind sein letztes Vermächtnis an die Menschheit; sie sind der unverfälschte Ausdruck seines Herzens. Indem wir sie betrachten, betreten wir gleichsam das Allerheiligste der Passionsgeschichte.
Wir beginnen heute mit dem ersten Worte Jesu am Kreuze. Es ist die Bitte: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Bitte enthält zwei Teile, zuerst die Bitte selbst: „Vater, vergib ihnen;“ dann die Begründung derselben: „denn sie wissen nicht, was sie tun.“
I.
Wir stehen auf Golgatha; an dem Richtplatze, der von den vielen umherliegenden Totengebeinen der Gerichteten „Schädelstätte“ genannt wird. Dort hängt Christus, der Heilige in Israel, der Fürst des Lebens, am Kreuze. Hände und Füße sind ihm mit langen, scharfen Nägeln durchgraben; alle seine Glieder gewaltsam ausgespannt am Marterholz und durchbebt von Schmerzen ohne Zahl; leidend, was nie ein Mensch gelitten, und wie ein Verbrecher unter die Übeltäter gerechnet, hängt er da. Zur Seite hängen zwei Schächer, die man zu seiner größeren Schmach mit ihm kreuzigte; unter dem Marterholze stehen die Kriegsknechte und treiben ihr mutwilliges und grausames Spiel; weiterhin die Pharisäer und Schriftgelehrten, voll höllischer Schadenfreude, dass ihr Mordplan ihnen gelungen ist; und dazwischen das Volk, das sich selbst nicht begreift und der Gräueltat verlegen zusieht; dazwischen auch Maria, die Mutter Jesu, der jetzt das Schwert durch die Seele geht, und Johannes. Da hängt Jesus: er fühlt die Schmerzen, welche seine heiligen Glieder zerreißen; er liest auf allen Gesichtern nichts als Spott und Hohn; er hört die schneidendsten und verletzendsten Reden von allen Seiten zu sich emportönen; er erfährt, dass die Ungerechtigkeit gesiegt hat, und dass der Himmel schweigt, und Gottes rettender Arm verborgen bleibt. Wird er da nicht, klagend über alle diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, seine Stimme laut erheben? Wird er Gott nicht anflehen, wenn auch nicht um Rache und Strafe über seine Feinde, doch wenigstens um Hilfe und Errettung für sich selbst? Nein, keines von beiden. Wohl blickt er gen Himmel empor; aber nicht mit Gefühlen der Bitterkeit, sondern der Versöhnung; nicht an seine eignen Qualen denkend, sondern an die bevorstehenden Qualen seiner Mörder. Er will keines Menschen Ankläger, er will aller Menschen Erlöser und Heiland sein. Wie ein Schlachtschaf, das zur Schlachtbank geführt wird und seinen Mund nicht auftut: so schweigt er über den Frevel derer, die ihn wie den verworfensten Sklaven, ja wie den abscheulichsten Verbrecher misshandeln. Doch blickt er gen Himmel empor und betet; aber nicht für sich, sondern für sie: „Vater, vergib ihnen!“
Vater! So lautet sein erstes Wort, das über die brechende Lippe kommt. Wie er von ihm als Knabe gesprochen: „Muss ich nicht sein in dem, was meines Vaters ist?“ wie er vorher von ihm zu Petrus einige Stunden früher gesprochen: „soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ so nennt er ihn auch jetzt zuerst bei dem Namen, mit dem er ihn immer am liebsten zu nennen pflegte, und der menschlich das enge Verhältnis des Allerhöchsten zu ihm am bezeichnendsten ausdrückte. Vater, ruft er, zu Deinen väterlichen Gesinnungen nehme ich meine Zuflucht, an Dein Vaterherz wende ich mich; Du wirst, Du kannst, was Dein Sohn von Dir erbittet, ihm nicht abschlagen. Du hast mich allezeit erhört: erhöre mich auch in dieser schweren Stunde. Nicht die Not treibt mich, Dich anzuflehen, sondern die Liebe; nicht für mich habe ich ein Verlangen auf meinem Herzen, sondern allein für meine Feinde. Vater, vergib ihnen!
Wunderbares Gebet! Jesus weiß, wie viel seine Fürbitte über das Herz seines himmlischen Vaters vermag: so braucht er sie denn zum Besten derer, die ihn kreuzigen. Er fleht nicht, wie wir vielleicht in seiner Lage würden mit unserm rachgierigen Herzen gefleht haben: Vater, vergilt ihnen; er fleht auch nicht um Aufschub der über sie heraufziehenden Ungewitter des göttlichen Zornes, damit sie noch Zeit gewännen, Buße zu tun und sich zu bekehren; es ist ihm nicht genug, dass er nicht Rache über sie ruft, dass er nicht den Donner auf ihre Häupter herabrollen lässt, nicht den Teufeln sie übergibt, sie in die ewigen Flammen zu stürzen, wie sie es alle verdient hatten: nein, er wünscht, dass dieses sein Blut, das sie vergießen, dieses sein Blut, von dem sie gesagt hatten: es komme über uns und unsere Kinder, – ihnen die Vergebung dieser ihrer Sünden erwerben und für sie reden, besser reden möge denn Abels Blut; er wünscht, dass die Pforten des Himmels, so wie sie sich bald eröffnen werden, ihn aufzunehmen, sich auch dereinst öffnen mögen, ihre Seelen aufzunehmen, dass sie noch bedenken mögen in den Tagen der Heimsuchung, was zu ihrem Frieden dient. Er betet: Vater, vergib ihnen! freilich, sie sind es nicht wert, dass Du ihnen Gnade verleihest; aber um meinetwillen, um meines Blutes und Todes willen, weil ich nicht bloß durch sie, sondern auch für sie sterbe, schenke ihnen Vergebung.
Vergib ihnen! – Wer sind diejenigen, für die der Sohn Gottes Vergebung erfleht? Offenbar sind es zunächst die römischen Kriegsknechte, die ihn ans Kreuz geheftet hatten; aber sie waren nur Werkzeuge ohne Verantwortlichkeit und Schuld, sie handelten nur nach den Befehlen des Pontius Pilatus, denen sie sich nicht entziehen konnten. Pilatus aber würde Jesus nicht zum Tode verurteilt haben, da er seine Unschuld erkannte, hätte das jüdische Volk ihn nicht gedrängt und bestimmt mit seinem wütenden Geschrei: „Lässt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht.“ Und das Volk, welches noch vor wenigen Tagen Palmen streute und Hosianna rief, hätte nicht Barabbas gewählt statt Jesus, wäre es nicht in schrecklicher Verblendung aufgewiegelt und zur Wut empört worden von den Pharisäern, Schriftgelehrten und Hohenpriestern. Die Fürbitte: „Vater, vergib ihnen!“ geht daher auf Alle, auf Juden und Heiden, die mittelbar oder unmittelbar an Jesu Kreuzestode schuld waren. Sie hat aber auch eine weltgeschichtliche Bedeutung. Wie das ganze Leben und Leiden des Gottessohnes ein Opfer ist für die Sünden der Menschheit, so umfassen auch seine Worte am Kreuze die ganze Welt. Die dort zunächst unter dem Kreuze standen, waren die Menschheit im Kleinen, und was für sie dort geschah, geschah für alle Menschen, die dasselbe Fleisch und Blut an sich tragen; geschah für alle damaligen und späteren Geschlechter. Auch für uns, für uns bat der sterbende Heiland: Vater, vergib ihnen!
Welch ein Wort! Welch ein Gebet! Ein Wort, ein Gebet, das unter Allen, die da standen, wohl Niemand erwartete! Ein Wort und ein Gebet, das eine Liebe verriet, wie sie niemals war ausgeübt worden! – Was der Herr in der Bergpredigt seinen Jüngern vorgeschrieben: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen“ (Matth. 5, 44): das übte Er hier in der schwersten, versuchungsreichsten Stunde seines ganzen Daseins. Größere Sünde war nie begangen, aber auch größere Liebe nie bewiesen worden. Das Wort war erfüllt: „Er hat für die Übeltäter gebeten“ (Jes. 53,12). Was Jesu innerste Gesinnung und seines Lebens Geist und Seele gewesen war: das war nun auch seines Todes Verklärung, sein letzter Wille, sein Testament an die Menschheit geworden. Alle Gebote der Liebe waren erschöpft, die Welt war überwunden. Wahrlich, in dem Augenblick, wo er es weiß, er darf die größte Bitte dem Vater vortragen, das Größte wird dem innig geliebten Sohne in seinem Blute gewährt: da zuerst für seine Peiniger zu beten, da Fürbitte einzulegen für sie, damit sie nur nicht möchten gestraft werden, da es als die größte Erquickung im Tode zu betrachten, ihnen Begnadigung erflehen zu können – das heißt: die Menschen und die Sünder lieben, nicht mit Menschenliebe, sondern mit himmlischer Gottesliebe. Und nun, Geliebte, lasst uns die Blicke auf uns richten. Auch wir stehen unter dem Kreuze des Herrn; auch wir haben mit unseren Missetaten ihn ans Marterholz genagelt: so viele Sünden in Gedanken, Worten und Werken wir begangen haben, so viele Nägel und Schwerter haben wir durch seine heiligen Glieder gebohrt; – auch über uns muss Jesus klagen: „Du hast mir Mühe gemacht in deinen Sünden, und hast mir Arbeit gemacht in deinen Missetaten.“ Welch ein Trost für unser bekümmertes Herz ist da sein Seufzer: Vater, vergib ihnen! So hat über uns der ewige Sohn Gottes beim ewigen Vater gefleht, und sein Flehen hat Erhörung erlangt. Die Vergebung ist uns also erworben. Der Hohepriester ist in das Allerheiligste gegangen und hat eine ewige Erlösung gestiftet. Die Schuldbriefe, sind zerrissen und Gnadenbriefe werden ausgeteilt. Wer nur Vergebung sucht, kann sie finden. Wer selig werden will, kann selig werden. Keine Sünde ist zu groß, und wäre es eine Kaiphas- und Pharisäer-Sünde sogar, wäre es eine Sünde sogar gegen des Menschen Sohn: sie kann vergeben werden, denn Jesus hat für sie geblutet, Jesus hat für sie gebetet. Sündenvergebung war der Zweck seines Lebens, Sündenvergebung der Zweck seines freiwilligen Todes. Glaube denn an die Kraft seiner Fürbitte, glaube an sein versöhnendes Leiden: und siehe, es soll Dir Alles vergeben sein!
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