Die Stütze der Familie

Die Stütze der Familie – Alphonse Daudet.

Gefühlvoll erzählt Daudet die Geschichte einer vom Schicksal getroffenen Familie. Während der kleine Bruder, ein Gymnasiast, die wahre Stütze der Familie wird, nimmt der gehätschelte Ältere Reißaus vor Verantwortung und Pflichten, schreckt zurück vor Familie und all dem Ernst des Lebens.

Die Stütze der Familie

Die Stütze der Familie

Format: eBook

Die Stütze der Familie.

ISBN:  9783849652913

 

Auszug aus dem ersten Kapitel:

 

Ein majestätischer Saaldiener, der eine Lampe trug, ging vorüber. Victor Eudeline hustete, um sich einen Ton zu geben, und bat, den Herrn Vorsteher gefälligst an ihn erinnern zu wollen. Der Mann machte, ohne sich umzudrehen, ein bejahendes Zeichen und verschwand im Dunkel einer Doppeltür.

Der Bittsteller wartete, auf einer mit Moleskin belegten Holzkiste sitzend, seit einer Stunde in dem langen Vorzimmer des Pariser Gymnasiums mit dem gebleichten Fußboden und den mit einer ungeheuern glasierten geologischen Karte bedeckten Wänden. Der Tag, ein Spätfrühlingstag, ging zur Neige, und durch die Vorzimmerfenster sah Eudeline, wie sich auf allen Stockwerken des Hofes hohe, rechteckige Gaslaternen der Reihe nach entzündeten. Dieser dunkelnde Hof überströmte für ihn von triumphierenden Erinnerungen. Hier hatten Raimund und Antonin, seine beiden Knaben, die Ersten der Klasse im Gymnasium Charlemagne, ihm drei Jahre hintereinander – auch noch im vorigen Sommer – die Freude bereitet, den so bescheidenen Namen Eudeline, den Namen eines durch Glück und Energie zum Meister vorgerückten Tischlergesellen, unter Zujauchzen und Fanfarenklang nennen zu hören. Oh, die Aufregung in diesem Hof, der mit Kindern und festlich gekleideten Eltern gefüllt war, in dem es von Hermelinpelzen und verbrämten Röcken wimmelte! Und sein Zug durch die Menge, zwischen den mit Kränzen und Erfolgen beladenen Söhnen, das ehrenvolle Gemurmel, das sich um sie und ihren armen, in einem funkelnagelneuen Überrock vor Stolz und Gesundheit strotzenden Papa mit dem rotgelben Bart erhob – den Papa Eudeline, Nachfolger von Guillaume Aillaume, einem der größten Fabrikanten des Faubourg du Temple! Und dann das Glück, gleich nach der Preisverteilung mit den Kindern in einen Wagen zu springen – in einen offenen Wagen, in dem das Gold der Bucheinbände und Kränze flimmerte –, durch ganz Paris zu fahren, sich auf allen Boulevards zu zeigen, indem sie zuerst ihren Freund Pierre Izoard im Palais Bourbon und von dort Fräulein Javel, die Hausbesitzerin, in ihrem Palais auf den Champs-Elysées besuchten!

“Der Herr Vorsteher läßt bitten.”

Bei diesem, in trotzigem Tone ergangenen Ruf fuhr Eudeline jäh aus seinem Traum und trat in die Schreibstube, in der ein alter, ganz in Grau gekleideter Herr, mit einer Samtmütze auf dem Ohr, einen Brief zu Ende schrieb.

“Herr Eudeline,” hob er mit zerstreuter Stimme an, ohne den vor ihm stehenden gutmütigen Riesen auch nur anzusehen, “ich hoffe, daß Sie erschienen sind, um nun endlich mit der Administration ins reine zu kommen.”

“Leider nein, Herr Vorsteher – ich komme im Gegenteil, um Sie zu bitten – dringend zu bitten –”

Der von diesem unerwarteten Empfang außer Fassung gebrachte arme Teufel stammelte, verschluckte sich, und seine Wangen wurden durch das aufsteigende Blut lila gefärbt.

“Verzeihen Sie,” murmelte er endlich, indem er einen allzu neuen, riesigen Zylinder, der ihm fast ebenso peinlich war wie das, was er zu sagen hatte, auf den Tisch niederlegte. “Sie kennen mich kaum, Herr Vorsteher, und auch das nur durch meine Kinder. Ich möchte, ehe ich Ihnen meine Bitte vortrage, erzählen, wer ich bin und wer meine Bürgen sind –”

Der Beamte wollte gegen eine zu lange Geschichte Verwahrung erheben, aber das Wort “Bürgen” ließ ihn auf der Hut sein. In dieser demagogischen Zeit haben manchmal ganz kleine Leute ganz hohe Beschützer. Er vernahm also mit Ergebung, daß Victor Eudeline, der alles nur durch sich selbst geworden war, in der Rue de l’Orillon, zwischen den Hobelspänen eines Tischlerladens, das Licht der Welt erblickte. Nach zwei oder drei Jahren Elementarschule kam er zu Guillaume Aillaume in die Lehre und blieb bei ihm. Der Chef hinterließ ihm, nachdem er ihm seine Tochter zur Frau gegeben hatte, auch sein Geschäft, das aber leider in der Hand Eudelines nicht so gedeihen wollte wie in der seinen.

“Und doch, das sehen Sie selbst, Herr Vorsteher, mache ich einen anständigen Eindruck und habe nichts an mir, was die Kundschaft abstoßen könnte. Ich schreie gern, ja, ich schreie, bin jähzornig, das Blut schießt mir gleich in den Kopf; aber Böses habe ich noch niemand getan, wer es auch immer sei … Nun wahrhaftig, eine Schwäche habe ich, die mir schaden mußte: ich liebe das Bauen gar zu sehr. Was ich schon für Werkstätten, Phalanstères, Arbeiterhäuser und so weiter ausgegeben habe –”

Die gereizte Gebärde, mit welcher der Vorsteher seine Troddelmütze zurechtrückte, ließ ihn innehalten; aber als jener ihm winkte, fortzufahren, sprach Victor Eudeline mit Feuer weiter.

“Trotz alledem würde ich mich aus der Patsche gezogen haben, da treffliche Freunde, sehr mächtige Persönlichkeiten mich unterstützten: Pierre Izoard, Unterchef der Kammerstenographen, ein sehr einflußreicher Mann, der mit einer liebenswürdigen, leider auf der Brust recht schwachen Nizzaerin verheiratet ist. Aber Herr Vorsteher müssen meinen Freund Izoard ja kennen… er war früher Universitätsprofessor, hat Anno zweiundfünfzig seine Demission gegeben –” …..

 

 

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