Doktor Rameau – Georges Ohnet
Doktor Rameau ist die packende Geschichte des gleichnamigen brillianten Chirurgen, der sich der Hilfe für die Armen verschrieben hat und seiner Frau Conchita, die eine fast fanatische Liebe zur Kirche pflegt …
Format: eBook
Doktor Rameau.
ISBN eBook: 9783849656720.
Auszug aus dem Text:
Unter den hervorragenden Vertretern der medizinischen Wissenschaft von heute ist unstreitig Doktor Rameau von Ferrières, der in den weitesten Kreisen berühmte und am einstimmigsten anerkannte. Rameau, der für den ersten Chirurgen seiner Zeit gilt und an der medizinischen Fakultät als Lehrer der Anatomie wirkt, steht auch als innerer Arzt in allererster Reihe, und hat in der Heilkunde höchst bedeutsame Entdeckungen gemacht. Mit großer Schärfe und Sicherheit des Blickes vereinigt er eine Kühnheit ohnegleichen, und in verzweifelten Fällen scheut er vor den heroischsten Mitteln nicht zurück. Dabei ist er von einem beispiellosen Glück begünstigt, und es sind ihm Kuren gelungen, die ans Wunderbare grenzen.
Das unbedingte Vertrauen, welches er jedem einflößt, ist bei seinen Erfolgen jedenfalls ein sehr wesentlicher Faktor; Rameaus Anwesenheit am Krankenbette scheint dem Tod Einhalt zu gebieten, und der Patient fühlt sich schon gerettet, wenn er den großen Arzt eintreten sieht. Kein Fürst in Europa wurde je von einer ernstlichen Erkrankung befallen, ohne daß Rameau mit ungeheuren Kosten herbeigerufen worden wäre; als die Chirurgen von Innsbruck einem bei der Auerhahnjagd vom Felsen abgestürzten Erzherzog das Bein abnehmen wollten, war er es, der Mittel und Wege fand, dem Prinzen das Schicksal eines Krüppels zu ersparen. Das Honorar, das er dafür verlangte, belief sich auf hunderttausend Gulden; als er aber nach Caprera berufen ward, um Garibaldi von einer entzündlichen Geschwulst zu befreien, die seinem Leben Gefahr drohte, erbat er sich von dem großen Abenteurer nichts als eine Blume aus seinem Garten.
Rameau ist Demokrat und Freidenker; ersteres, weil er aus dem Volke hervorgegangen, sich dessen heißes Streben nach Gleichheit erhalten hat; letzteres, weil er bei seinen eindringlichen Untersuchungen und Studien immer nur die Materie unter dem Seziermesser hat, und weil sein Verstand sich sträubt, für möglich zu halten, was er nicht erklären kann. Er ist Anhänger der Entwickelungstheorie und hat über die Verbesserungsfähigkeit der Rassen Studien von bedeutender Tragweite gemacht.
Mit der ungeschwächten Kraft einer durch keine Ausschweifungen erschütterten Natur, hat er die Fünfzig erreicht; er ist ein hochgewachsener Mann mit einem durchfurchten Gesicht, das an vulkanisches Gestein gemahnt. Die ungeheure Stirn ist von dichtem, krausem, stark ergrauendem Haar eingerahmt, das an die Mähne eines alten Löwen erinnert; über den hellen grauen Augen, die so durchdringend und scharf sind, wie seine stählernen Instrumente, wölben sich schwarze, buschige Augenbrauen; das stark gerötete Gesicht deutet auf ein durch unermüdliche Thätigkeit erhitztes Blut. Der Mund mit den etwas wulstigen Lippen drückt durchaus Güte aus, und doch wirkt des Mannes Anblick schreckenerregend, sobald er verstimmt oder in Gedanken versunken, jene tiefe, senkrecht eingegrabene Falte zwischen den Augenbrauen hat, die allen wohlbekannt ist. “Rameau hat seine Falte”, heißt es im Spital wie im Hörsaal, und das Wort ist für Assistenten und Schüler ein Warnungszeichen; alles schweigt und drückt sich zur Seite, wenn die geistvolle Stirn des Gelehrten auf diese Weise durchfurcht ist, denn seine Zornesausbrüche sind fürchterlicher Art und durch nichts zu dämpfen.
Seine Grobheit ist nicht minder sprichwörtlich als seine Geschicklichkeit. Keine Frau kann mit größerer Zartheit und Leichtigkeit einen Verband anlegen oder eine Binde zurechtrücken, aber kein Fuhrman flucht greulicher über seine Mähren, als der Doktor über seine Gehilfen. Wenn sich die Donnerstimme des Chirurgen vernehmen läßt, wenn man ihn mit drohender Miene die scharfen Messer schwingen sieht, so verkriechen sich die in tiefster Seele erschrockenen Kranken in ihrem Bett und drücken den Kopf in die Kissen, um nicht zu sehen und nicht zu hören. Er bemächtigt sich ihrer einfach, und die Unglücklichen, welche mehr tot als lebendig sind, erkennen mit unendlicher Wonne, daß die Operation, vor der sie gezittert und die sie kaum angefangen glaubten, vollendet ist. Dann natürlich wird die ans Wunderbare grenzende Gewandtheit dieses menschenfreundlichen, wohlthätigen Henkers gepriesen, und jeder begreift, weshalb die Assistenzärzte und Studenten hinter seinem Rücken lächelnd sagen: “Doktor Rameau thut den Leuten nur mit Worten weh!”
Dieser seltene Mann hat die Stellung, welche er in der gelehrten Welt einnimmt, einzig seiner Willenskraft und seiner hohen Begabung zu danken, denn er ist sehr bescheidenen Ursprungs. Sein Vater war Bahnwärter an der Ostlinie und hatte da, wo die Bahn die Landstraße von Ferrières überschreitet, ein kleines Häuschen inne. Seine Mutter bewachte den Schlagbaum; in einem Wachstuchmantel, einen Lederhut auf dem Kopfe, eine kleine rote Fahne wie ein Gewehr geschultert, stand sie, so oft ein Zug vorübersauste, auf ihrem Posten.
Frei, ungebunden und sorglos wuchs Peter dort heran und kannte bis zu seinem vierzehnten Jahre keine andre Pflicht als die, seiner Mutter den schweren Schlagbaum zurückrollen zu helfen, wenn die Pächter, die vom Markte in Lagny zurückkehrten, durch Peitschengeknall ihr Verlangen, durchgelassen zu werden, kund thaten. Er hatte nichts vor Augen als den mit Kieseln beschütteten Bahndamm mit seinen hölzernen Schwellen und den vier blank glänzenden Schienensträngen, sowie die in leiser Schwingung befindlichen Telegraphendrähte, die in stürmischen Winternächten wie Harfensaiten ertönten, und seine einzige Unterhaltung war das Vorüberrasen der dampfspeienden Lokomotiven, die ihre Spur in einem Regen von glühenden Kohlenstückchen auf dem erschütterten Erdboden zurückließen.
Er lernte weder lesen noch schreiben und schien dazu bestimmt, ein schlichter, bescheidener Arbeiter zu werden. In keiner Weise machten sich besondre Naturanlagen bemerklich; weder zog er geometrische Linien in den Sand wie Pascal, noch knetete er aus der Thonerde der Böschung wunderliche Gebilde wie Canova. Ein Junge wie alle andern auch, war er stets zum Spielen aufgelegt, und zeichnete sich höchstens durch die Fertigkeit aus, mit der er Vögel mit Steinwürfen erlegte und in den Hecken, welche dem Bahndamm entlang liefen, den Hasen der benachbarten Jagdgebiete Schlingen legte. Kein prophetisches Zeichen verriet seine künftige Bedeutung, bis ein Zufall über seinen Beruf entschied.
Ein Güterzug, der nicht rasch genug auf sein Geleise übergegangen war, stieß mit einem Personenzug zusammen; einige Tote und eine große Zahl Verwundeter blieben auf dem Platze. Es war Abend und vollständige Dunkelheit herrschte; aus den zerschmetterten oder umgestürzten Wagen drangen herzzerreißendes Jammergeschrei und klägliche Hilferufe. Vom Schrecken verwirrt rannten die Bahnbediensteten zweck- und thatlos hin und her, und nur dem kleinen Peter Rameau kam es in den Sinn, nach Lagny zum Arzt zu laufen. Mit kurzen Worten unterrichtete er denselben von der Sachlage und kehrte dann mit ihm in seinem Wagen zur Unglücksstätte zurück. Ueberrascht über die Klarheit und Knappheit, mit welcher der Junge seine Angaben gemacht hatte, wagte der Doktor den Versuch, ihn als Gehilfen zu benützen. Ohne eine Miene zu verziehen oder zu erblassen, wusch er einem Heizer, dem der bis zur Schulter zerquetschte Arm abgenommen werden mußte, das Blut ab; mit einer Kaltblütigkeit, die fast den Eindruck der Gefühllosigkeit machte, legte der Knabe bei allen Operationen Hand an, verlor keinen Augenblick den Kopf, führte mit größter Genauigkeit aus, was ihm befohlen wurde, und zeigte eine ungewöhnliche Sicherheit und Geschicklichkeit der Hand.
“Donnerwetter!” sagte der Doktor, “der Schlingel hätte das Zeug zu einem großen Operateur, wenn man ihn studieren lassen würde! Was treibst du denn eigentlich, mein Junge?”
“Nichts.”
“Das ist nicht viel – etwas zu wenig für dein Alter sogar. Was willst du denn werden?”
“Ich weiß es nicht.”
“Hast du Vater und Mutter?”
“Ja; dort wohnen sie.”
Und er wies mit dem Finger auf das kleine Häuschen, dessen erleuchtete Fenster durch die Nacht schimmerten.
“Ach so! Du bist der kleine Rameau. Deine Eltern sind wackere Leute; ich werde mit ihnen reden – weißt du, wie ich heiße?”
“Jawohl; Sie sind der Herr Doktor Servant aus Lagny.”
“Gut! Komm morgen früh vor acht Uhr zu mir. Wir wollen sehen, ob sich etwas aus dir machen läßt.”
In erster Linie schickte der Doktor ihn zur Schule, wo sich der in freier Luft und steter Bewegung aufgewachsene Wildling nur mit großer Schwierigkeit angewöhnte. Am Fleiß fehlte es nicht; vom ersten Augenblick an hatte ihn ein wahrer Heißhunger nach Wissen ergriffen, aber sein unruhiges Blut stieg ihm unaufhörlich derart zu Kopfe, daß er blaurot wurde und an heftigen Kopfschmerzen litt. Sein Beschützer und väterlicher Freund wurde sehr besorgt, als er diesen Aufruhr und Widerstand der Natur des Knaben beobachtete, aber Peter klagte nie und lernte mit eiserner Ausdauer. Von Tag zu Tag machte er bedeutende Fortschritte, und nach Verlauf des ersten Jahres war er zur freudigen Ueberraschung und größten Genugthuung des Dorfschullehrers im stande, sich um eine Freistelle im Gymnasium von Meaux zu bewerben, die ihm auch wirklich zu teil ward.
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